„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Montag, 1. September 2025

Pflicht & Zweifel

Anne Nuhn, Pflicht & Zweifel. Ein Regency-Märchen Roman, Buch 1, 2025
ISBN 978-1-0670534-2-0
https://annenuhn.com/

Hallo Anne,

endlich halte ich den ersten Band von „Pflicht & Zweifel“ in meinen Händen. Ich hatte ihn im Buchhandel bestellen wollen und mußte mich darüber aufklären lassen, daß dieses Buch trotz ISBN-Nummer nicht im Buchhandel erhältlich sei. Man kann es nur über Amazon beziehen, und ich bestelle nichts bei Amazon. Niemals. Meine Schwester half mir aus der Verlegenheit und überließ mir ihr Exemplar.

Endlich konnte ich erfahren, was aus dem Digiskript geworden ist, das Du mir vor sechs Jahren anvertraut hattest. Manches in dem fertigen Exemplar ist anders, als ich es in Erinnerung habe. Ich will es hier aber nicht Zeile für Zeile mit dem Digiskript vergleichen, sondern nur auf das eine und andere hinweisen, das mir besonders ins Auge fällt.

Das Erste, was mir auffällt, ist natürlich der geänderte Titel. Das Digiskript hatte noch den Arbeitstitel „Zorn & Zweifel“. Dieser Arbeitstitel spielt auf die beiden hauptsächlichen inneren Zustände von Carolena Seed/Bloom an, die den ersten Band der Trilogie dominieren. Der endgültige Titel ist weniger persönlich und hebt die moralisch-gesellschaftliche Dimension des Buches hervor. Er ändert nichts an der inneren Zerrissenheit von Carolena, deutet aber den Weg an, der vor ihr liegt und den sie noch zu gehen hat. Das vom Arbeitstitel angedeutete existenzielle Drama verschiebt sich mit „Pflicht & Zweifel“ in Richtung eines Bildungsromans und erinnert so an Jane Austen (1775-1817), von der wir ähnliche Gegenüberstellungen kennen: „Stolz und Vorurteil“ oder „Sinn und Sinnlichkeit“. Nicht umsonst nennst Du Deine Trilogie ein Regency-Märchen.

Dabei ist die Regency-Epoche, 1810 bis 1820, eine Umbruchzeit, in der traditionelle Lebensweisen neuen Technologien weichen mußten, und also keineswegs eine Zeit der Märchen; jedenfalls nicht im Sinne der Grimmschen Kinder- und Hausmärchen. Deine Trilogie ist eher eine gelungene Mischung aus Märchen, Fantasy und Bildungsroman. Dabei fällt vor allem eins auf: der Pflichtbegriff beschränkt sich eben nicht auf die Gentleman-und-Lady-Etikette der englischen Standesgesellschaft. Du gibst dem Pflichtbegriff zwei verschiedene Inhalte, zwischen denen Carolenas Bildungsweg verläuft, im ständigen Wechsel zwischen dem einen und dem anderen, tastend, irrend, im verzweifelten Versuch, den Klippen und Fallstricken beider Pflichten auszuweichen.

Tatsächlich handelt es sich nicht einfach um zwei Pflichten, sondern um zwei Welten, der Welt der Magie und der Welt der Vernunft. Aber nein! Auch das trifft es nicht ganz. Die Magie ist nicht vernunftlos, und die gesellschaftliche Vernunft ist nicht einfach nur vernünftig; heute nicht und eben auch nicht in der Regency-Epoche. Siehe Austens „Stolz und Vorurteil“.

Auf der Seite der Magie lernt Carolena die Grausamkeit kennen. Diese Magie gibt ihr die Mittel in die Hand, ihre Rache ins Werk zu setzen. Aber auf der Seite der Magie gibt es auch Vernunft. Eine Natur-Vernunft. Eine Vernunft des Geschehenlassens. Eine Vernunft der Akzeptanz. Eine kosmische Vernunft, die einerseits grausam über das persönliche Schicksal von Einzelnen hinweggeht, aber andererseits alles mit allem verbindet: eine große Harmonie. Eine Natur-Vernunft also, deren Magie kein fügsames Werkzeug ist für Carolenas Rache.

Die gesellschaftliche Vernunft steht hingegen für Regeln, für Ordnung, für Macht, für das Eingreifen, Zurichten und Planen. Nichts läßt sie geschehen, ohne es zu bewerten, es entweder einem Nutzen zuzuführen oder es zu vernichten, weil es schädlich ist.

Sowohl in der Natur wie auch in der Gesellschaft sind es Carolenas Mitleid und vor allem ihr Gerechtigkeitsempfinden, die sie dazu verleiten, durch ihr Eingreifen alles nur noch schlimmer zu machen. Das sind die zwei Dimensionen der Pflicht, mit denen sie sich zunächst als Lehrling in der Magie und dann als Debütantin im Dienst einer Lady konfrontiert sieht.

Das ist so etwa der erste Band Deiner Trilogie und natürlich wie alle Zusammenfassungen völlig unzulänglich. Aber dieses Buch ist Dir gelungen. Mal sehen, wie ich jetzt in den Besitz des zweiten Bandes komme. Vielleicht kann mir meine Schwester weiterhelfen.

Noch eins zum Schluß: Was den Zweifel betrifft, so ist es doch ein Magier, nämlich Borke, der der größte Zweifler im ersten Band von „Pflicht & Zweifel“ ist und dem Carolenas Gewißheiten ziemlich auf die Nerven gehen: „Wir können von Glück sagen, dass Sie kein Zepter in der Hand halten!“ (S.134) ‒ Was für eine wunderbare Ironie, wenn man an den Schluß der Trilogie denkt!

Liebe Grüße,
Detlef