„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Dienstag, 23. April 2013

Norbert Bolz, Das Gestell, München 2012

1. Elliptische Argumentation
2. Blumann und Luhmenberg
3. Konvergenz statt Interdisziplinarität
4. Benutzerillusionen
5. Rückkopplung: positiv?
6. Gesellige Technik
7. Körperleibvariationen
8. Der Unternehmerführer

Den Begriff „Gestell“ hat Norbert Bolz von Heidegger übernommen. Es entspricht dem, was ich mit Husserl und Blumenberg als ‚Lebenswelt‘ bezeichne. Allerdings beschreibt Bolz das Gestell als eine „vom menschlichen Bewusstsein abgelöste Sinnstruktur der Welt.“ (Bolz 2012, S.9; vgl. auch S.26) Ich sehe aber in der Lebenswelt vor allem eine Bewußtseinsfunktion. Wenn das Gestell etwas mit dieser Lebenswelt zu tun hat, muß es ebenfalls eine Bewußtseinsfunktion bilden. Bolz versäumt hier wahrscheinlich eine Differenzierung zwischen Bewußtsein und Unterbewußtsein. So bezeichnet er an anderer Stelle das Gestell als „bewusstlose Sinnstruktur der Welt“ (vgl. Bolz 2012, S.17). Bewußtsein und Gestell haben also bei Bolz nichts gemeinsam.

Dennoch bringt Bolz das Gestell und die Lebenswelt immer wieder zusammen (vgl. Bolz 2012, S.15, 44 u.ö.) und vergleicht es auch schon mal mit Heideggers „Man“. Es muß also Überschneidungspunkte zwischen Gestell und Lebenswelt geben, so daß von einer ‚bewußtlosen‘ Sinnstruktur nicht die Rede sein kann, – abgesehen davon, daß es sich bei dieser Begriffszusammenstellung um ein Oxymoron handelt. Letztlich versteht auch Bolz unter ‚Gestell‘ nichts anderes als eine spezifische, von der Technik geformte Lebenswelt. Als diese Technik, bzw. als „Installation“ (vgl. Bolz 2012, S.48), ist sie insoweit ‚bewußtseinsfremd‘, als die technischen Geräte wie in dem Film „Population: Zero“ noch einige Tage und Wochen weiterlaufen würden, wenn die Menschen von einem Tag auf den anderen aus dieser Welt verschwänden.

Für den Gestellcharakter der Technik verwendet Bolz eine schöne Metapher, die er aber in ihrem Bedeutungsgehalt nicht voll ausschöpft. Das Gestell, also die wissenschaftlich-technologische, industrielle Zivilisation des ‚Westens‘, hat sich bekanntlich in alle Himmelsrichtungen in allen Kulturen auf der Erde etabliert bzw. ‚installiert‘. Wir nennen das ‚Globalisierung‘: „Zwar hat jede Kultur ein eigenes historisches Apriori. Aber die Technik bleibt davon unberührt. Die technische Rationalität lässt sich nämlich von ihrem Entstehungskontext ablösen und globalisieren. Damit wird sie aber selbst zum historischen Apriori. Die Einheit der Welt ist eine rein technologische.“ (Bolz 2012, S.19)

Das bedeutet allerdings nicht, daß das Gestell vom individuellen und kulturellen Bewußtsein völlig abgelöst sei, sondern nur, daß es auf Bewußtseinsebenen fungiert, die unserer bewußten Kontrolle entzogen sind. Um die Infiltration der Kulturen durch die Technik der westlichen Zivilisation zu veranschaulichen, spricht Bolz vom „trojanische(n) Pferd der abendländischen Rationalität“. (Vgl. Bolz 2012, S.69)

‚In‘ diesem trojanischen Pferd ‚stecken‘ aber viel mehr als nur einige ‚Krieger‘, die sich wie Computerviren im Betriebssystem der Stadt ausbreiten. Zunächst einmal haben wir es beim trojanischen Pferd selbst mit einem hölzernen, pferdähnlichen ‚Gestell‘ zu tun. Zugleich aber haben wir es mit einem ‚Pferd‘ im ‚Pferd‘ zu tun, ähnlich den ineinander verschachtelten ‚Höhlen‘, von denen Blumenberg spricht. (Vgl. meinen Post vom 13.07.2012) Wenn die ‚Trojaner‘ – in diesem Fall keine Computerviren, sondern die Bewohner von Troja – das Pferd-Gestell in ihre Stadt hereinziehen, so befinden sich darin keine Krieger, sondern eine bestimmte Lebensweise, eben die technische Zivilisation, die nun ihrerseits die Stadt wie ein „stahlhartes Gehäuse“ (Bolz 2012, S.67ff.) umschließt.

Leroi-Gourhan spricht davon, daß die Menschheit im Laufe ihrer Geschichte immer mehr Fähigkeiten an Werkzeuge und Maschinen ‚exteriorisiert‘. (Vgl. meinen Post vom 24.03.2013) Dieser Prozeß gipfelt in der Exteriorisierung der Intelligenz im Computer. Wer nun gemeint hatte, das ließe sich nicht mehr toppen, muß beim Lesen von Bolzens Buch feststellen, daß er sich getäuscht hat. Das Gestell bildet nämlich eine weitere Exteriorisierungsstufe, diesmal allerdings nicht von einer Fähigkeit, sondern von einer Nicht-Fähigkeit: dem Vollzug! Meyer-Drawe zufolge handelt es sich bei Vollzügen um Prozesse, an denen wir beteiligt sind, ohne sie auszulösen, wie etwa sich freuen, sich täuschen, geboren werden, altern oder aufwachen. (Vgl. meinen Post vom 10.01.2012) Auch die Lebenswelt hat Vollzugscharakter.

Der Vollzug stellt nach meiner Definition einen Teil des Unbewußten dar, der anderen Seite unseres Bewußtseins. (Vgl. meinen Post vom 20.04.2012) Wir können also sagen, daß wir mit dem Gestell, also der technischen Zivilisation unser Unbewußtes exteriorisiert haben. Es ‚fungiert‘ als Teil unseres Bewußtseins außerhalb von uns in den technischen Geräten. Von nun an gilt: „Nicht die Grenzen meines Körpers, sondern die Grenzen meiner Geräte sind die Grenzen meiner Welt.“ (Bolz 2012, S.105)

Insofern hat Bolz recht: Das Gestell hat sich tatsächlich vom Bewußtsein abgelöst. Allerdings eben nicht als „Sinnstruktur“. Denn das Gestell macht eben überhaupt keinen Sinn mehr! Das kommt z.B. in Heideggers ‚anstößigem‘ Satz, den Bolz mehrfach zitiert, zum Ausdruck: „Die Wissenschaft denkt nicht.“ (Bolz 2012, S.10; vgl. auch S.15, 16f., 23 u.ö.) – Die moderne, mathematisch formalisierte Wissenschaft bildet das innere Formgesetz des Gestells und „erreicht im Zeitalter des Computers ihre definitive Endform.“ (Vgl. Bolz 2012, S.10) Bolz ergänzt: „Die wissenschaftlich-technische Zivilisation denkt nicht, und sie schreitet genau in dem Maße voran, in dem sie uns das Denken erspart.“ (Bolz 2012, S.16)

An die Stelle des Denkens tritt das Rechnen. Und Rechnen heißt Simulieren. Die Rechenmaschine ersetzt also das Denken durch Simulationen: „Eine Maschine muss nicht denken und verstehen, wenn sie sich nur im Turing-Test bewährt.“ (Bolz 2012, S.84) Die Menschen wiederum werden auf diese Weise vom eigentlichen Denken entlastet, was allerdings schon eine längere, hinter die Computer zurückreichende Kulturgeschichte hat. Denn das, was die Moderne Denken nannte, wurde schon vorher, am Vorbild der Naturwissenschaften, mit mathematisierbaren Naturprozessen gleichgesetzt: „... dass Maschinen denken können und dass das, was wir in der Moderne Denken nannten, gar kein Denken war, sind zwei komplementäre Formulierungen desselben Sachverhalts.“ (Bolz 2012, S.86)

Schon immer wird im Schulunterricht den Kindern am Beispiel des Rechnenlernens vorgeführt, daß es ein ‚Denken‘ ohne ‚Verstehen‘ gibt. So heißt es schon bei Max Weber: „Das Einmaleins wird uns als Kindern ganz ebenso ‚oktroyiert‘ wie einem Untertan eine rationale Anordnung eines Despoten. Und zwar im innerlichsten Sinn, als etwas von uns in seinen Gründen und selbst Zwecken zunächst ganz Unverstandenes, dennoch aber verbindlich ‚Geltendes‘.“ (Bolz 2012. S.68) – Bolz ergänzt: „Wenn Kinder rechnen lernen, werden sie in Turingmaschinen verwandelt. Ausgerüstet mit Papier, Bleistift, Radiergummi und eiserner Disziplin, müssen sie eine Liste von Anweisungen ausführen.“ (Bolz 2012, S.81)

Seit den PISA-Reformen hat das deutsche Bildungssystem einen weiteren Schritt in Richtung auf ‚Standards‘ gemacht, in denen es wie bei einer Black Box nur noch auf den Output ankommt. Anwendungsorientierung und Kompetenzmodelle ersetzen den ehrwürdigen Humboldtschen Bildungsbegriff, bei dem es vor allem ums Selber-Denken ging. Bolz spricht vom „Allermundewort ‚Praxisorientierung‘“: „Darin liegt stets der Verzicht auf Einsicht, d.h. Black Boxing ...“ (Bolz 2012, S.100)

Das Gestell ‚denkt‘ also nicht. Außerdem kommuniziert es nicht, denn Maschinen-‚Kommunikation‘ besteht nur im Austausch von Informationen. Und: „Information ist die Sprache des Gestells. Und ihre Wissenschaft, die Kybernetik, lehrt nicht, wie man sich mitteilt, sondern wie man steuert.“ (Bolz 2012, S.23) – Der Informationsaustausch bildet einen mathematisch formalisierten Prozeß der Wenn-Dann-Verknüpfung von Zahlen. Nichts anderes meint das Wort ‚Algorithmus‘. Wir haben es also nicht mit Sätzen zu tun, in denen Wörter in eine S/P-Struktur gebracht werden, also Subjekte und Prädikate bilden: „Algorithmen ersetzen die Diskursivität. Nicht mehr das Wort, sondern die Zahl eröffnet seither den Zugang zur Welt. Am Anfang war das Wort, aber am Ende steht der Computer mit seinem binären Code. Er vollendet die Krise des Wortes.“ (Bolz 2012, S.10)

Wir halten also fest: Computer nehmen uns das Denken ab, indem sie es in Algorithmen überführen, die das Denken nur noch simulieren. Maschinen kommunizieren nicht, weil zur menschlichen Kommunikation die S/P-Struktur von Sätzen gehört, in der die Weltwahrnehmung individuell perspektiviert wird: Subjekte fokussieren das Weltgeschehen und ordnen es nach für sie bedeutungsvollen Eigenschaften (Prädikaten). (Vgl. meinen Post vom 23.01.2011) An die Stelle eines solchen Selbst- und Weltverhältnisses treten abstrakte Zahlenverhältnisse. Der Mensch wurde schon vor der Computerisierung der menschlichen Lebensverhältnisse im Schulunterricht auf das Nicht-Verstehen eingeübt. Hinzu kommt die alltägliche „Koevolution des Menschen mit seiner eigenen Technik“ (vgl. Bolz 2012, S.32):
„Man kann Lebenswelt und technische Welt nicht als Gegensatz konstruieren. Das Technische ist selbst lebensweltlich geworden, nämlich ‚in der Dienstbarmachung des Unverstandenen als der jeder Besinnung und jedes Zögerns unbedürftigen Auslösung von Funktionen.‘() Blumenberg positiviert also genau den Prozess der Technisierung, den Husserl kritisiert: dass nämlich Erfolg die Begründung ersetzt.“ (Bolz 2012, S.44)
Bolzens Argumentation ist bis hierhin schlüssig und nachvollziehbar. Dann aber macht er etwas, wofür er die Argumente schuldig bleibt. Von seiner kritischen und sogar düsteren Darstellung des Gestells wechselt er zum Entwurf einer „konkreten Utopie“. (Vgl. Bolz 2012, S.90) In Anlehnung an das Neue Testament spricht er von einem „Neuen Bund“ des Menschen mit der Technik. (Vgl. Bolz 2012, S.90ff.) Das Gestell ist jetzt nicht mehr das Gestell, sondern heißt plötzlich mit Bezug auf Teilhard de Chardin „Noosphäre“, in der es um „Kommunikation, Partizipation und Gemeinschaft“ geht. Diese Noosphäre steht am Ende eines Entwicklungsprozesses, der „von der Information über die Kommunikation zur Partizipation“ führt. (Vgl. Bolz 2012, S.114)

Nicht nur, daß hier plötzlich Information und Kommunikation nicht mehr zwei völlig verschiedene Dinge sein sollen, sondern in der Noosphäre ein Entwicklungskontinuum bilden, – auch das ‚Wort‘ steckt nun plötzlich nicht mehr in einer ‚Krise‘, sondern es ist in algorithmischer Transsubstantiation zwar nicht ‚Fleisch‘, aber dafür ‚Technik‘ geworden (vgl. ‚Bolz 2012, S.119) und fügt das bislang getrennte Begriffspaar Gemeinschaft und Gesellschaft zu „virtuellen Gemeinschaften und sozialen Netzwerken“ zusammen. (Vgl. Bolz 2012, S.118)

Ungeachtet der zuvor beschriebenen Verbindung von „Black Boxing“ und „Benutzerfreundlichkeit“, in der „(j)edes Interface“ „zwei Black-Boxes gleichzeitig verbirgt: das psychische System und die komplizierte Technik“ (vgl. Bolz 2012, S.99), halluziniert Bolz plötzlich ein „bewertende(s) Volk“, „unermüdlich im Linking, Tagging, Bookmarking und der Erstellung von Playlists“, das auf mysteriöse Weise „Qualität im Netz“ produziert: „Intelligenz entsteht hier nicht durch die Programme, sondern durch Kommunikation. ... Netzwerklogik statt künstlicher Intelligenz.“ (Bolz 2012, S.113)

Wie kommt Bolz vom einen zum anderen? Vom Desaster des ‚Gestells‘ zur Heilsbotschaft eines ‚Neuen Bundes‘ zwischen Mensch und Technik? Das wird nirgendwo gesagt. Die Argumente werden uns nicht mitgeteilt. Das läßt sich bestenfalls als elliptische Argumentationsstrategie bezeichnen, die möglicherweise der essayistischen Form des Buches mit seinen lose gekoppelten Kapiteln geschuldet ist. Aber wie ich schon an anderer Stelle festgestellt habe: verschwiegene Argumente sind keine Argumente. (Vgl. meinen Post vom 22.02.2013) Eine elliptische Argumentationsweise ist keine; allenfalls eine Ellyptik.

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