„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Sonntag, 16. Dezember 2012

Gemeinsame und konkurrierende Aufmerksamkeit II

(Christina von Braun, Der Preis des Geldes. Eine Kulturgeschichte, Berlin 2/2012)

In diesem Post gehe ich bei der Bestimmung der rekursiven Ordnungen von Gemeinschaft und Gesellschaft von einer konkurrierenden Aufmerksamkeit der Beteiligten aus. Für eine entsprechende Gesellschaftsformation kommen der Industriekapitalismus und der Finanzkapitalismus in Betracht. Beide Gesellschaftsformationen werden durch das (nominalistische) Geld bestimmt, das in dieser Graphik an die Stelle der Normativität in der Graphik im vorangegangenen Post tritt: Es löst die Gemeinschaftsstrukturen auf und setzt an die Stelle der die wechselseitigen Bedürfnisse berücksichtigenden kommunikativen Absicht (Tomasello/Grice) ein komparatives Begehren, das ich in folgende Formel fassen möchte: „Ich weiß, daß Du weißt, daß ich dasselbe will wie Du, und daß Du weißt, daß ich das weiß!“


Auf der Ebene einer Schimpansengesellschaft führt das Tomasello zufolge nicht dazu, daß die Beteiligten jetzt kooperieren, um ein gemeinsames Ziel zu erreichen, sondern daß die Schimpansen das gemeinsame Objekt des Begehrens, etwa eine gerade entdeckte Futterquelle, voreinander zu verbergen versuchen. Sie wissen sehr genau, was die anderen Schimpansen wollen, weil sie dasselbe wollen, und sie wissen, daß die anderen das wissen; aber sie gönnen es einander nicht.

‚Dasselbe wollen wie die beteiligten Anderen‘ meint im Fall einer komparativen Gesellschaftsstruktur: mehr haben zu wollen als die Anderen. Dieser ‚Mehrwert‘ tritt an die Stelle des von Marx beschriebenen Mehrwertes, der auf der Arbeitskraft beruht, die in einen Rohstoff eingegangen ist. Die Ausbeutung und Rationalisierung der Arbeitskraft ist das Kennzeichen des Industriekapitalismus. Den davon zu unterscheidenden ‚Mehrwert‘ im Sinne eines mehr-haben-Wollens hat schon Rousseau in seinem „Emile“ beschrieben: er ist das Kennzeichen der Bürgergesellschaft und unterscheidet den ‚Bürger‘ vom ‚Menschen‘, der sich selbst genügt. (Vgl. meinen Post zu den Grenzen des Glücks vom 28.06.2014) – Hier haben wir es übrigens mit einer weiteren Polarisierung zu tun, wie ich sie schon im Post vom 04.12.2012 mit Plessners Gemeinschaft/Gesellschaft, Assmanns Mündlichkeit/Schriftlichkeit und von Brauns Gabe/Geld angesprochen habe.

Im Industriekapitalismus haben wir also noch einen realen Wertbezug des Geldes vorliegen. Dem entspricht die Bedürfnisorientierung einer Marktwirtschaft, die nach der Theorie von der „unsichtbaren Hand“ dafür sorgt, daß die Konkurrenz unterschiedlicher Interessen das Allgemeinwohl fördert. Dennoch hat sich hier schon die Bedürfnisstruktur des Kapitalisten von seinen eigenen leiblichen Bedürfnissen abgekoppelt, was eine Entwicklung in Gang setzt, in der sich auch der Mehrwert von realen Werten abkoppelt und einen in sich geschlossenen Kreislauf der Mehrwertvermehrung formt.

Schon der Industriekapitalismus hat zur Auflösung von Gemeinschaftsstrukturen geführt. Die Gemeinschaft (B) ist jetzt Teil der gesellschaftlichen Strukturen (B-C). In dem Moment, wo sich die Mehrwertproduktion verselbständigt und von realen Wertbezügen löst und der Industriekapitalismus in einen Finanzkapitalismus übergeht, verwandelt sich die unsichtbare Hand in eine Hysteria: in den „Kollektivkörper eines globalen Nervensystems“ (Braun 2/2012, S.308). Der einzige Wertbezug des Finanzkapitals besteht in der „Aussonderung von Menschen“, „die zu dem ‚Rohstoff‘ gemacht werden, der das Kapital beglaubigen soll.“ (Vgl. Braun 2/2012, S.271) Die rekursive Struktur der Hysteria habe ich in folgende Formel gefaßt: „Alle wollen dasselbe auf Kosten der Anderen!“

Das (nominalistische) Geld hat jetzt alle menschlichen Subjekte über die „Zahlenketten des Geldes“ (Braun 2/2012, S.225) in ein System gegenseitiger Abgrenzung eingebunden, mit der binären Formel: 1 (dazugehören bzw. ‚Agenten‘) und 0 (nicht dazugehören bzw. ‚Opfer‘). Der nach innen, auf das individuelle Begehren zielende Pfeil des (nominalistischen) Geldes hat also die nach einem kommunikativen Ausgleich suchenden individuellen Bedürfnisse und Interessen des Menschen in eine unendliche Ausdehnung („Inflation“; vgl. Braun 2/2012, S.300f.) des Begehrens verwandelt, die die „Unmöglichkeit der Befriedigung“ (Braun 2/2012, S.73) beinhaltet. Die gesellschaftlichen ‚Institutionen‘ (B-C) regulieren dieses Begehren nicht, sondern dienen ihm.

Download

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen