„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Samstag, 7. September 2013

Pädagogische Kasuistik

1. Methode
2. Ebenen wissenschaftlichen Denkens und Handelns   
3. Günther Buck
4. Fallbeispiele

Ich habe mich schon in früheren Posts zum Thema ‚Kasuistik‘ geäußert. (Vgl.u.a. meine Posts vom 26.07.2012, und vom 15.04.09.07. und 03.08.2013) Dabei geht es für mich nicht nur um eine Methode unter vielen möglichen anderen, sondern um eine grundlegende, paradigmatische Form pädagogischen Denkens. Ich möchte das in diesem und den folgenden Posts unter Rückgriff auf einen früheren Artikel (2005) von mir und auf ein Kapitel aus meiner Habilitationsschrift (2006) weiter ausführen.

Der Begriff der Kasuistik steht für eine spezifische Form pädagogischer Empirie. Das Problem bei den empirischen Wissenschaften ist, daß sie den Begriff der Empirie verkürzen. ‚Empirie‘ ist weder zurückführbar auf formale Aussagenlogik oder Mathematik, noch ist sie gleichzusetzen mit naiver, theorieloser Evidenz, wie sie vor allem dem Erleben konkreter Situationen zuzuordnen ist. Überhaupt hat Evidenz wenig mit Beobachtungen in kontrollierten Laborsituationen zu tun.

Wissenschaftliche Empirie hat es vor allem mit zwei Aufgaben zu tun: Daten zu sammeln und zu erheben, die etwas über den Realitätsgehalt bestimmter Theorien aussagen, und deren Plausibilität anderen Forschern und interessierten Laien gegenüber zu vermitteln. Weder die Erhebungs- noch die Vermittlungsaufgabe dürfen dabei auf eine bestimmte, als ‚empirisch‘ sanktionierte Methode beschränkt werden. Damit wäre der eigentliche Auftrag der Empirie, nämlich Plausibilitäten zu vermitteln, verfehlt. Die Vermittlungsaufgabe ist erst dort gelungen, wo sie den verschiedenen Bedürfnissen und Denkweisen der interessierten Klientel gerecht wird. Und das geht nur unter der Voraussetzung, daß nicht von vornherein bestimmte Vermittlungsformen als nicht-empirisch ausgeschlossen werden.

Wenn also bestimmte Evidenzen ‚gegeben‘ sind – in diesem Fall einem mit ihnen befaßten Forscher –, so hat er sie theoretisch und empirisch so nachzuweisen, daß auch andere als er zu ihnen einen Zugang finden. Laborexperimente oder statistische Untersuchungen stellen nur die einfachsten Vermittlungsformen dar. Erweisen sich diese Vermittlungsformen anderen Forschern oder – und das ist in der Pädagogik besonders wichtig – interessierten ‚Laien‘ wie etwa Erziehern, Lehrern, Eltern etc. als unzureichend, weil sie ihnen entweder aufgrund anderer Evidenzerlebnisse als unglaubwürdig erscheinen oder weil sie ihnen aufgrund anderer Denkweisen verschlossen bleiben, so ist die ‚Empirie‘ gescheitert, – unabhängig davon, ob die zugrundeliegenden Evidenzen nun der Fall sind oder nicht.

Beharrt der betreffende Forscher auf der von ihm vorgenommenen Theorie-/Fallverknüpfung, so muß er nun nach anderen Vermittlungsformen suchen, so lange, bis diese Evidenz kommunizierbar wird, – bis also die Vermittlung gelingt. Bei Popper heißt es zu der Frage nach den „Quellen unserer Erkenntnis“ lapidar: „Es gibt Quellen der verschiedensten Art, aber es gibt keine Erkenntnisquelle, die Autorität besitzt.“ (Popper: „Vermutungen und Widerlegungen: das Wachstum der wissenschaftlichen Erkenntnis“ (1963/1994), S.35)

Zu ergänzen bliebe hier nur, gegen Popper: auch keine Erkenntnismethode kann für sich ausschließliche Autorität behaupten. Jedenfalls nicht in der Pädagogik. Und das von Popper vor allen anderen ausgezeichnete Erkenntnisprinzip der Falsifikation kann nur für die Naturwissenschaft eine entsprechende Autorität beanspruchen. In der Erziehungswissenschaft muß es – ausgestattet mit einer solchen Autorität – versagen, da wir es hier nicht einfach mit Daten oder Protokollsätzen zu tun haben, sondern mit ‚Tat‘-Sachen, d.h. mit Handlungen. Diesen Handlungen liegen Plausibilitäten zugrunde, also subjektive Gewißheiten. Und diese haben ihre eigene, subjektive Vernünftigkeit.

Der Begriff der ‚Kasuistik‘ stammt zunächst aus der juristischen Terminologie. Hierbei geht es im engeren Sinne um den Anwendungsbezug von ‚Fallbeispielen‘, als Grundlage für das Zuordnen von Rechtsprinzipien zu den ihnen entsprechenden rechtsrelevanten Vorkommnissen des täglichen Lebens, bzw. um die ‚heuristische‘ Funktion, d.h. um das Auffinden neuer Rechtsprinzipien anhand von Präzedenzfällen, auf denen bekanntlich insbesondere die britische Rechtsprechung basiert.

Es geht hierbei nicht um den Erklärungsanspruch, wie ihn‚Theorien‘ und ‚Hypothesen‘ in den empirischen Wissenschaften erheben, bei dem der jeweilige empirische Vor-Fall unter Ausschluß aller möglichen Störfaktoren solange auf das ihm zugrundeliegende, seine Bedingungen definierende Gesetz zurückgeführt wird, bis eine Voraussage auf alle künftigen, denselben Bedingungen unterworfene Fälle möglich wird. Wir haben es in der Kasuistik also nicht mit einem Theorie-Empiriezusammenhang zu tun, sondern mit einem Theorie-Praxisproblem. Mit letzterem, mit dem Theorie-Praxisproblem, haben es wiederum vor allem die praktischen, also auf Handlungszusammenhänge bezogenen Wissenschaften zu tun. Und dazu zählt die Erziehungswissenschaft.

Allerdings läßt sich das Problem des Praxisbezugs nicht auf diese Handlungswissenschaften beschränken; denn insofern es in ihm ums Handeln geht – wo auch immer Handeln zum Problem wird –, haben es auch die empirischen Wissenschaften mit einem Theorie-/Praxisproblem zu tun: nämlich auf der Ebene des wissenschaftlichen Handelns selbst, wobei es sich insbesondere um die Ebenen des Forschens und des Lehrens handelt.

Mir geht es hier also um Kasuistik als einer spezifischen pädagogischen Methode. Sie kann für die pädagogische Forschung in vierfacher Weise pragmatisch genutzt werden: erstens als Heuristik, insofern Fallbeispiele den Wissenschaftler auf neue Ideen bringen; zweitens als Veranschaulichung, insofern Fallbeispiele „zur Erläuterung, Verfeinerung und Erweiterung“, also zur systematischen Differenzierung „vorhandener Hypothesen und Vorgänge beitragen“ (vgl. Karl Binneberg (Hg.): „Plädoyer für eine pädagogische Kasuistik“ (1997), S.22, 261f.); drittens als Korrektiv, insofern Fallbeispiele „zur Korrektur und Revision von Hypothesen und Theorien beitragen“ (ebenda); und viertens als Handlungsorientierung, insofern Pädagogen Fallbeispiele mit ihren eigenen Erfahrungen in der Schul- und Unterrichtspraxis vergleichen können.


Die ersten drei Nutzungsmöglichkeiten lassen sich primär auf die erziehungswissenschaftliche Forschung beziehen und die vierte vor allem auf die pädagogische Praxis. Aber insofern die erziehungswissenschaftliche Forschung selbst ein Handeln darstellt, profitiert dieses ebenfalls vom orientierenden Nutzen der Fallbeispiele, wie umgekehrt der pädagogische Praktiker der ersten drei Nutzungsmöglichkeiten von Fallbeispielen bedarf, da auch er auf neue Ideen kommen und seine bisherigen Handlungsmuster differenzieren, korrigieren und revidieren können muß. Nicht zuletzt die erziehungswissenschaftliche Lehre bedarf aller vier Nutzungsmöglichkeiten von Fallbeispielen, da wir es in ihr mit einem Verständigungsproblem zwischen Lehrenden und Studierenden zu tun haben.

Die pädagogische Kasuistik stellt zuallererst ein pragmatisches Prinzip der Verständigung über Probleme dar, die sich dem objektivierenden, messenden Zugriff entziehen. Sie bietet in Streitfällen und den Anfängern die Möglichkeit, unter Rückgriff auf die eigenen Vorurteile und Vorerfahrungen sowohl den Streit zu schlichten wie auch neue Erkenntnisse und ungewohnte Verfahrensweisen in den eigenen Wissensbestand zu integrieren und sich neu zu orientieren.

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