„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Mittwoch, 21. August 2013

Jan Masschelein/Maarten Simons, Globale Immunität oder Eine kleine Kartographie des europäischen Bildungsraums, Zürich 2012

1. Das ausgesetzte Kind
2. Pädagogik und Emanzipation
3. Gemeinschaft als Netzwerk
4. Gemeinschaft als Last
5. Was sich manifestiert

Von Helmuth Plessner kennen wir die Differenzierung zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft, derzufolge beide Formen des Zusammenlebens nach völlig gegensetzlichen, sich gegenseitig ausschließenden Prinzipien organisiert sind. Das Prinzip der Gemeinschaft bildet die Blutsverwandtschaft, das den Einzelnen ungeachtet seiner Eigenschaften bedingungslos anerkennt, und das Prinzip der Gesellschaft bildet die Funktionalität wechselseitiger Rollenerwartungen, das die Einzelnen nur nach ihrer Nützlichkeit und Leistungsfähigkeit anerkennt. (Vgl. meine Posts vom 14.11. und vom 16.11.10) Aus der Systemtheorie kennen wir wiederum die Konzeption einer Gesellschaft, die sich selbst beobachtet und auf sich selbst reagiert. (Vgl. meinen Post vom 04.08.2013) Norbert Bolz schließlich beschreibt soziale Netzwerke im Internet als Gemeinschaftsformen, die durch schwache Bindungen gekennzeichnet sind und denen seiner Ansicht nach die Zukunft gehört. (Vgl. meinen Post vom 28.04.2013)

Alle diese unterschiedlichen Begriffsbestimmungen von Gemeinschaft und Gesellschaft tauchen auch bei Masschelein und Simons wieder auf. Allerdings verwandeln sie den von Plessner beschriebenen Gegensatz zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft in einen Gegensatz zwischen zwei nicht minder gegensätzlichen, sich gegenseitig ausschließenden Formen der Gemeinschaft selbst, ohne beider Beziehungen zur Gesellschaft noch einmal eigens zu thematisieren. Dabei scheint die eine Gemeinschaft, die die beiden Autoren ähnlich wie Norbert Bolz als „Netzwerk“ darstellen (vgl. Masschelein/Simons 2012, S.34), die begriffliche Funktion zu übernehmen, die bei Plessner die Gesellschaft inne hat; denn auch hier geht es primär um „employability“ bzw. Nützlichkeit. (Vgl. Masschelein/Simons 2012, S.37 und S.81) Außerdem hat das Netzwerk als „Mittelfeld zwischen Individuum und Gesellschaft“ (Masschelein/Simons 2012, S.60) die Fähigkeit, sich selbst zu beobachten und sich einem ständigen Qualitätsmanagement zu unterziehen. So müssen z.B. individualisierte Netzwerke wie Schulen und Universitäten in einer Marktumgebung wie dem europäischen Bildungsraum mit anderen Schulen und Universitäten konkurrieren und „unternehmerische, autonome Entscheidungen“ treffen. (Vgl. Masschelein/Simons 2012, S.76)

Die andere Gemeinschaftsform, die Plessner im engeren und eigentlichen Sinne einer Gemeinschaft als Blutsgemeinschaft beschreibt, ist die Gemeinschaft als ‚Last‘ bzw. als ‚Verantwortung‘, und sie steht im völligen Gegensatz zur Netzwerkgemeinschaft. (Vgl. Masschelein/Simons 2012, S.99f.) Auf diese Gemeinschaftsform werde ich im nächsten Post näher eingehen.

Die Netzwerk-Gemeinschaft beschreiben Masschelein und Simons vor allem mit Hilfe zweier Begriffskonstellationen: mit Hilfe der Begriffe der Inklusion und der Exklusion und mit Hilfe des Vertragsbegriffs. Zunächst einmal kann festgehalten werden, daß die Netzwerk-Gemeinschaft, wie die Plessnersche Gesellschaft, von Erwachsenen ‚bewohnt‘ wird. (Vgl. Masschelein/Simons 2012, S.80, 88f.) Die Netzwerk-Gemeinschaft kennt nichts anderes als Erwachsene, und sie beurteilt alle, die „Zugang“ (access) zu ihr suchen, nach ihrem Erwachsensein.

Dieses Erwachsensein besteht im Wesentlichen in der Vertragsfähigkeit des zugangsuchenden Erwachsenen. In den Verträgen zwischen den Netzwerken und ihren Mitgliedern werden die zum Netzwerk passenden „Vorlieben und Bedürfnisse“ dieser ‚Erwachsenen‘ geklärt und „Pflichten und Verantwortlichkeiten“ der Neumitglieder festgelegt. Das ist der Grund, warum Netzwerke nur von Erwachsenen ‚bewohnt‘ werden (und wenn es sich um Kinder handelt, wird ihr Kindsein einfach ignoriert): „Soziale Beziehungen setzen daher Individuen voraus, die ihre Bindungen, Überzeugungen, Werte, Bedürfnisse, Nöte, Kompetenzen und Fähigkeiten transparent machen und ihnen gegenüber eine objektivierende, berechnende und berechnete Haltung einnehmen können.“ (Masschelein/Simons 2012, S.82f.)

Beziehungen in Netzwerken, „in denen eine transparente und wechselseitige Kommunikation im Mittelpunkt steht“, beruhen also immer „auf einem Vertrag zwischen gleichen, autonomen unternehmerischen Subjekten“. (Vgl. Masschelein/Simons 2012, S.33)

In einer Netzwerkwelt beruht das „Existenzrecht“ des Menschen auf dieser Fähigkeit bzw. Kompetenz, Zugang zu Netzwerken zu finden und ihnen nützlich zu sein: „Die weitere Existenz (das Existenzrecht) steht hier ständig auf dem Spiel, und es ist dieser Lage nur angemessen, das Handeln ständig auf das ‚kreative Durchspielen neuer Kombinationen‘ einzustellen. Diese Haltung oder Einstellung, für die Wissen und Fertigkeiten als eine Form von Kapital erscheinen, ist die einzige Chance, sich einer Ausschaltung zu widersetzen.“ (Masschelein/Simons 2012, S.26)

Die Netzwerkwelt unterscheidet deshalb nicht zwischen Innen und Außen (vgl. Masschelein/Simons 2012, S.35), sondern zwischen Zugang oder kein Zugang, zwischen Inklusion oder Exklusion. In der „neuen Politik“ wird deshalb nicht mehr zwischen „Gleichheit“ und „Ungleichheit“, sondern zwischen „Einschluß“ und „Ausschluß“ differenziert, wie Masschelein und Simons Anthony Giddens zitieren. (Vgl. Masschelein/Simons 2012, S.54) Möglicherweise ist genau dies das „Unrecht“, von dem Masschelein und Simons immer sprechen, wenn sie die Kindheit und die Gemeinschaft als Last bzw. Verantwortung thematisieren. (Vgl. Masschelein/Simons 2012, S.94f., 99f., 106) Durch den beständigen Ausschluß, die Exklusion des Kindlichen aus der Netzwerk-Gemeinschaft, wird dessen „Manifestation“ (Existenzrecht) von vornherein verhindert. (Zur ‚Manifestation‘ vgl. Masschelein/Simons 2012, S.97, 104, 106)

Inklusion ist das Ziel des „unternehmerischen Selbst“, und Exklusion und der damit drohende Verlust des Existenzrechts ist sein Risiko. Ohne dieses Risiko, also ohne den drohenden Ausschluß im Konkurrenzkampf um den Zugang, wäre es kein unternehmerisches Selbst. Erst die Verlierer machen aus den Unternehmern Unternehmer: „Um den Nachweis zu erbringen, dass im Kontext des beweglichen Unternehmertums innerhalb einer Netzwerkumgebung nicht das Problem der sozialen Ungleichheit entsteht, sondern vielmehr das Problem der Ex- und Inklusion, mag man bei der Bedeutung des Risikos für das Unternehmertum ansetzen. Für das unternehmerische Selbst ist das Risiko keineswegs etwas, das unverzüglich aus der Welt geschafft werden muss – ist doch das Risiko (des Misserfolgs oder Verlustes) Bedingung für den Gewinn und garantiert zudem die permanente Innovation, Anpassung und Mobilisierung des unternehmerischen Selbst.“ (Masschelein/Simons 2012, S.51)  – Vielleicht ist die Notwendigkeit der Exklusion die Wurzel des Cybermobbings?

Es ist also nachvollziehbar, daß Masschelein und Simons in einer Welt der Vertragsfähigkeit und der Risikenabwägungen das Kind nur als ein „Unrecht“ thematisieren können, das sich in dem Abwägungsprozeß von Bedürfnis und Befriedigung und von in einer Marktumgebung zur Verfügung stehenden Mitteln nicht zu manifestieren vermag. So wird das Ausgesetztsein des Kindes zur paradigmatischen Formel für Seele und Expressivität (Plessner), und es eröffnet den Ausblick auf eine „Pädagogik der reinen Mittel“, von „Mitteln ohne Zweck“ (Masschelein/Simons 2012, S.115), in denen es um nichts anderes geht, als den Raum zu schaffen, in dem es sich zeigen kann.

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