„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Dienstag, 25. September 2012

Hans Blumenberg, Quellen, Ströme, Eisberge, hrsg.v. Ulrich von Bülow und Dorit Krusche, Berlin 2012

1. Bewußtseinsstrom versus Pulsschlag
2. Probleme des Gestaltenwandels
3. Die Einheit des Zeiterlebens
4. Im Strom oder auf dem Ufer
5. Unter der Oberfläche

Die Metapher des Bewußtseinsstroms ‚hinkt‘ nicht nur hinsichtlich der Differenzierung von Bewußtseinsakten (vgl. meinen Post vom 24.09.2012) und hinsichtlich einer tragfähigen Bildungskonzeption (vgl. meinen Post vom 25.09.2012), sondern Blumenberg zufolge sogar hinsichtlich dessen, was eigentlich ihre Stärke sein sollte: nämlich der Einheit des Zeiterlebens. Wenn nämlich der Bewußtseinsstrom etwas veranschaulicht, dann doch wohl die Einheitlichkeit eines einzigen kontinuierlichen Strömens von der Quelle bis zur Mündung: „Die Metapher des Bewußtseinsstromes impliziert, daß das Bewußtsein nur ein einziger Akt, seine Inhalte nur ein einziges Faktum sind.“ (Blumenberg 2012, S.187)

Da es sich dabei aber um einen Bewußtseins-Strom handelt, stellt sich sogleich die Frage nach der ‚Quelle‘ seiner Wahrnehmungserlebnisse. Diese Quelle besteht nun aber in den Sinnesorganen und ihrer Besonderheit. Letztlich geht es also bei der Einheit des Zeiterlebens um die Frage nach der Einheit dieser Sinnesorgane. Was Plessner in seinem Buch „Die Einheit der Sinne“ (vgl. hierzu meine Posts zu Plessner vom 14.07. und vom 15.07.2010) nicht thematisiert hatte, betrifft die mit den Sinnesorganen verbundene unterschiedliche Qualität des Zeiterlebens. Blumenberg spricht hier vom „Problem der Synästhesie“, also der Einheit der Wahrnehmung in der Vielheit der Sinnesorgane: „Sofern man, obwohl unbewiesen und unbeweisbar, zugestehen mag, daß mehrere oder gar viele Urempfindungen ‚auf einmal‘ sein können, bieten sie im Abfließen eine Vielheit von Flüssen der Reflexion dar, in völlig gleichem Modus, mit völlig gleichen Abstufungen, in völlig gleichem Tempo: nur daß die eine aufhört, während die andere noch ihr Noch-nicht, ihre neuen Urempfindungen hat, die die Dauer des in ihr Bewußten noch fortsetzen.“ (Blumenberg 2012, S.137)

Mit „Urempfindungen“ sind eben die unterschiedlichen Wahrnehmungserlebnisse der verschiedenen Sinnesorgane, Gesicht, Geruch, Gehör, Geschmack, Getast, gemeint, denen Blumenberg jeweils eine unterschiedliche „Dauer“ zuspricht. (Vgl. hierzu auch meinen Post vom 14.07.2012) So haftet im Geruch noch eine Gegenwart, die sich dem Gesicht und dem Gehör längst in eine unerreichbare Vergangenheit entzogen hat. Dennoch erleben wir die Gegenwart als eine einzige Unteilbarkeit, der aber eine „Pluralität des Bewußtseins“ in Form der „Sinnesmodalitäten“ entgegensteht. (Vgl. Blumenberg 2012, S.138)

Das wirft Blumenberg zufolge die Frage nach einer weiteren, vereinheitlichenden Bewußtseinsinstanz auf, die die Einheit des Zeiterlebens zu gewährleisten vermag: „Soll die Einheit des Bewußtseins als Fluß erhalten werden, muß solcher synchronen Vielheit eine vorgeprägte und nachprägende Form auferlegt sein, oder es muß jenseits des immanent vielfachen Bewußtseinsstromes noch so etwas wie ein weiteres, letztes Bewußtsein geben, sofern man sie nicht auf verschiedene Arten der Betrachtungsweise des Flusses, die Intentionalität durch den Fluß hindurch und die am Fluß entlang, die eine als analytisch, die andere als synthetisch, reduzieren will ...“ (Blumenberg 2012, S.138)

Mit der Frage nach diesem letzten Bewußtsein stehen wir aber schon mit einem Bein in der Homunculusthematik: einem verborgenen Kybernator, der die verschiedenen Bewußtseinsprozesse steuert. (Vgl. meine Posts vom 27.07.2012 und vom 15.08.2012) Blumenberg ergänzt deshalb, daß es nicht darum geht, innerhalb oder unterhalb des in sich heterogenen Bewußtseinsstroms einen weiteren, vereinheitlichenden „zweiten Fluß“ anzunehmen, sondern daß man vielmehr von einer „Selbsterscheinung des Flusses“ ausgehen müsse, in der sich „der Fluß selbst notwendig im Fließen“ erfaßt. (Vgl. Blumenberg 2012, S.138)

Damasio hat diesen von Blumenberg mit der Strommetapher etwas umständlich umschriebenen Sachverhalt wesentlich eleganter mit einer Orchesteraufführung verglichen, in der der Dirigent erst mit der Aufführung selbst auf der Bühne erscheint und sich weder vorher noch nachher irgendwo aufgehalten hätte bzw. aufhält, wo man ihn – mit welchen Mitteln auch immer – auffinden könnte. Das Orchester wiederum umfaßt mit seinen verschiedenen Instrumenten und ihren unterschiedlichen ‚Geschwindigkeiten‘ die Synästhesie des an unsere Sinnesorgane gebundenen Zeiterlebens.

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