„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Montag, 22. August 2011

Eva Horn/Lucas Marco Gisi (Hg), Schwärme – Kollektive ohne Zentrum. Eine Wissensgeschichte zwischen Leben und Information, Bielefeld 2009

(Eva Horn, Schwärme – Kollektive ohne Zentrum. Einleitung, S.7-26 / Eugene Thacker, Netzwerke – Schwärme – Multitudes, S.27-68 / Michael Gamper, Massen als Schwärme. Zum Vergleich von Tier und Menschenmenge, S.69-84 / Urs Stäheli, Emergenz und Kontrolle in der Massenpsychologie, S.85-99 / Eva Horn, Das Leben ein Schwarm. Emergenz und Evolution in moderner Science Fiction, S.101-124 / Sebastian Vehlken, Fish & Chips. Schwärme – Simulation – Selbstoptimierung, S.125-162 / Sebastian Giessmann, Netzwerkprotokolle und Schwarm-Intelligenz. Zur Konstruktion von Komplexität und Selbstorganisation, S.163-182 / Niels Werber, Schwärme, soziale Insekten, Selbstbeschreibungen der Gesellschaft. Eine Ameisenfabel, S.183-202 / Eva Johach, Schwarm-Logiken. Genealogien sozialer Organisation in Industriegesellschaften, S.203-224 / Lucas Marco Gisi, Von der Selbsterhaltung zur Selbstorganisation. Der Biber als politisches Tier des 18. Jahrhunderts, S.225-251 / Benjamin Bühler, Tierische Kollektive und menschliche Organisationsformen: Kropotkin, Canetti, Frisch und Lem, S.253-272)

1. Genealogie des Vergleichs von Tier- und Menschenmenge
2. Kollektives Unbewußtes und kulturelles Gedächtnis

Michael Gamper entwickelt in seinem Aufsatz eine Genealogie des Vergleichs von Tier- und Menschenmenge. Dabei bezieht er sich auf Texte von Alfred Espinas ((1878) Gamper 2009, S.76-79), Enrico Ferri ((1884) Gamper 2009, S.79f.), Gabriel Tarde ((1890) Gamper 2009, S.75f., 80f.), Scipio Sighele ((1897) Gamper 2009, S.76-80) und Gustave Le Bon ((1895) Gamper 2009, S.82-84). In dieser Genealogie zeichnet Gamper das Wandern der Metaphern „Masse“ und „Schwarm“ über Disziplingrenzen hinweg nach, bei deren Überschreitung und Übertragung in unterschiedliche Begriffssysteme sie unterschiedlichen disziplinären Interessen dienstbar gemacht werden: „Beschreibungen von ‚Massen‘ als ‚Schwärme‘ beobachten zu wollen, heißt zu verfolgen, wie eine Metapher durch eine andere ergänzt, erweitert oder ersetzt wird.“ (Gamper 2009, S.69)

Bei diesen Disziplinen handelt es sich insbesondere um die Biologie (Espinas), Kriminologie (Ferri, Tarde, Sighele), Psychologie (Tarde, Sighele, Le Bon), Anthropologie (Sighele) und Soziologie (Espinas). Dabei reichen die Interessen am Phänomen der Masse von genetischen und psychophysiologischen, am individuellen Täter orientierten Erklärungsmodellen von Verbrechen (Ferri (vgl. Gamper 2009, S.75)) über massenpsychologische Beschreibungsansätze der Masse als „Bestie“ (Tarde (vgl. Gamper 2009, S.75f.)) oder als „Seele“ (Sighele (vgl. Gamper 2009, S.78)) bis hin zu ersten, an epidemischen Krankheiten orientierten Darstellungen der Masse als einem Vorgang der Verbreitung von „Ideen, Gefühle(n), Erregungen, Glaubenslehren“ unterhalb der Bewußtseinsschwelle (Le Bon (vgl. Gamper 2009, S.83))

Wenn bei Gamper von „Übertragung“ die Rede ist, ist trotz seiner Untersuchungsabsicht, die Bildung und das Wandern von Metaphern an den Disziplingrenzen entlang zu beobachten und zu beschreiben, meistens nicht von metaphorischer Übertragung die Rede, sondern von „Suggestion“ (vgl. Gamper 2009, S.76, 78, 81), „unmittelbarer Berührung“ (vgl. Gamper 2009, S.78) und eben im Sinne einer Krankheits-‚Übertragung‘ von „Ansteckung“ (vgl. Gamper 2009, S.82f.). Bei Schwärmen handelt es sich also um Phänomene, die mit Bewußtsein im eigentlichen Sinne wenig zu tun haben. Damit meine ich nicht, daß sie sich vor allem unterhalb der Bewußtseinsschwelle befinden. Denn zum Unterbewußtsein gehört ein Bewußtsein. Schwärme haben aber offensichtlich mit Bewußtsein überhaupt nichts zu tun, – es sei denn, daß normalerweise mit Bewußtsein begabte Individuen im Übergang zum Schwarm ihr Bewußtsein ‚verlieren‘.

Thacker spricht in diesem Zusammenhang davon, daß ‚Affekte‘ an die Stelle von Gefühlen treten: „Ein Affekt ist etwas Vernetztes, Dezentralisiertes und von seinem anthropomorphen Ort im Individuum Losgelöstes. In einem dynamischen Netzwerk besitzt nicht das Individuum eine Emotion, sondern dieses wird vielmehr durch die Zirkulation der Affekte konstituiert.“ (Thacker 2009, S.44) – Ein ‚Affekt‘ ist aber nicht viel mehr als eine äußere Berührung, im Grunde ein einfacher Reiz-Reaktions-Reflexbogen, während uns ‚Emotionen‘ wirklich von innen heraus bewegen. Wo sich also bei Individuen Emotionen in Affekte verwandeln, verwandelt sich das Individuum in eine Marionette äußerer Umstände, – in diesem Fall des Schwarms.

Wir verwenden also wohl Metaphern, wenn wir von ‚Massen‘ und von ‚Schwärmen‘ reden, aber die Übertragungsvorgänge zwischen den ‚Individuen‘ in den Schwärmen oder die von Schwärmen ausgelösten Übertragungen von Krankheiten sind nicht metaphorischer, sondern physiologischer Art. Was Metaphern für das individuelle Bewußtsein sind, sind Affekte und Epidemien für den Schwarm.

Gampers Genealogie der Metaphern ‚Masse‘ und ‚Schwarm‘ zeigt so auch die mit diesen Metaphern verbundenen Versuche, physiologische Vorgänge auf sozial-psychologische und individual-psychologische Vorgänge, also auf Bewußtseinsphänomene zu beziehen. Dabei wird deutlich, daß zumindestens die Theoretiker des 19 Jhdts. dabei vor allem an einen Antagonismus gedacht haben, der sich in Form wechselseitiger Ausschließung verwirklicht: wo Bewußtsein ist, kann keine Schwarmintelligenz sein, und wo Schwarmintelligenz ist, kann kein Bewußtsein sein. Dennoch deuten sich in Form des „kollektiven Unbewussten“ (Gamper 2009, S.84) Übergänge vom vollständigen Verlust der Individualität im Schwarm hin zu einem Ideen- und Gefühlsschwarm im Individuum an, die an das kollektive und kulturelle Gedächtnis bei Assmann erinnern. Dazu im nächsten Post mehr.

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