„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Donnerstag, 2. Juni 2011

Sönke Neitzel/Harald Welzer, Soldaten. Protokolle vom Kämpfen, Töten und Sterben, Frankfurt a.M. 5/2011

1. Rückblick auf de Waal
2. Methode
3. Referenzrahmen, Rollenerwartungen und Lebenswelt
4. Rollenerwartungen und Arbeitsteilung
5. Mentalitäten, Eigenschaften und Ideologien
6. Wertewandel und shifting baselines
7. Gruppendenken und Pfadabhängigkeiten
8. „Drittes Reich“ und Differenz
9. Zur Bedeutung individuellen Urteilens und Handelns

Nach Neitzel und Welzer bestimmen weder Mentalitäten noch Personeigenschaften oder Ideologien, was Menschen in bestimmten Situationen tun, sondern die Erwartungen, von denen die Menschen glauben, daß sie mit diesen Situationen verbunden sind: „Selbstverständlich bringen einzelne Personen unterschiedliche Wahrnehmungsweisen, sozialisierte Deutungsmuster, altersspezifische Erfahrungen und besondere Fähigkeiten, Schwächen und Vorlieben mit in die Situationen, die sie dechiffrieren und in denen sie handeln müssen. In diesem Sinn bilden soziale Situationen immer Gelegenheitsstrukturen, die in unterschiedlichen Freiheitsgraden genutzt und ausgeweitet werden können. Es ist also ein Unterschied, wer mit welcher Persönlichkeitsausstattung mit welcher Situation konfrontiert ist. Aber man sollte das Gewicht dieser Differenzen nicht überschätzen: Wie der Holocaust und der nationalsozialistische Vernichtungskrieg zeigen, verhält sich die weit überwiegende Mehrheit aller Zivilisten und Soldaten bzw. SS-Männer und Polizisten ausgrenzend, gewaltbereit und gegenmenschlich, wenn die entsprechende Situation das nahezulegen und zu fordern scheint, und nur eine verschwindende Minderheit ist widerständig und prosozial.“ (Vgl. Neitzel/Welzer 5/2011, S.45)

Die Situation, so Neitzel und Welzer, ist also viel entscheidender, als alle unsere Vorstellungen von uns selbst und von richtig und falsch. Ein interessantes Beispiel für solche mit Situationen verbundenen Erwartungshaltungen ist das „Bystander-Phänomen“. Wenn ein Unfall passiert und sich eine Gruppe von ‚Zuschauern‘ bildet, kann es sein, daß keiner hilft: „Keiner hilft, aber nicht – wie das dann in den Medien gewöhnlich kommentiert wird – aus ‚Herzlosigkeit‘, sondern aus Orientierungsmangel und aufgrund eines fatal ablaufenden Prozesses der wechselseitigen Bestätigung im Nicht-Handeln. ... Menschen, die allein sind, wenn sie damit konfrontiert werden, helfen zu sollen, greifen in der Regel ein, ohne groß nachzudenken.“ (Neitzel/Welzer 5/2011, S.21) – Obwohl alle ‚Zuschauer‘ des Unfalls wissen, daß es richtig wäre zu helfen, und obwohl jeder Einzelne möglicherweise helfen würde, wenn er alleine wäre, interpretieren alle die Situation so, daß es wohl besser wäre, jemand anderen helfen zu lassen, der kompetenter ist als man selbst. Denn es sind ja genug Leute da, von denen höchst wahrscheinlich einer besser Bescheid wissen wird, was zu tun ist, als man selbst.

Natürlich wird es auch noch andere, weniger gutartige Motive geben, nicht zu helfen, wie etwa Ängstlichkeit, Voyeurismus, Schadenfreude, Neugier, was wohl als nächstes passiert etc. Aber die Gemengelage von Motiven in Situationen ist immer komplex, und welches Motiv die Oberhand behält, hängt eben, wie gesagt, von der Situation ab.

Dieses Primat der mit konkreten Situationen verbundenen Erwartungshaltungen (vgl. Neitzel/Welzer 5/2011, S.15, 22, 64, 391) halten Neitzel und Welzer begrifflich auch über den größten Teil ihrer theoretischen Erwägungen hin durch. Um so irritierender ist es, wenn es dann plötzlich heißt, daß es doch nicht die Erwartungen sind, auf die es ankommt: „Aus unserer Sicht ist die Verschiebung des Referenzrahmens vom zivilen Zustand in jenen des Krieges der entscheidende Faktor, wichtiger als alle Weltanschauung, Disposition und Ideologisierung. Diese sind nur wichtig dafür, was die Soldaten für erwartbar, gerecht, irritierend halten, aber nicht für das, was sie tun.“ (Neitzel/Welzer 5/2011, S.394)

Hatte es bisher immer geheißen, daß es für das, was letztlich wirklich getan wird, nicht auf die „Weltanschauung, Disposition und Ideologisierung“ ankomme, sondern auf die Erwartungen, die mit einer konkreten Situation verbunden sind, so kommt es jetzt plötzlich auch nicht mehr auf die Erwartungen an, die nun auch gar nicht mit den konkreten Situationen verbunden sind, sondern vielmehr mit „Weltanschauung, Disposition und Ideologisierung“! – Wie kommt es zu dieser unvermittelten Rücknahme früherer Aussagen und ihre Verkehrung ins Gegenteil?

Es ist einfach die Folge aus einem eklatanten begrifflichen Defizit. Keiner der Begriffe, die Neitzel und Welzer verwenden, um das Handeln von Menschen zu beschreiben, ist definiert. Sie werden nur entsprechend dem allgemeinen Sprachgebrauch verwendet. Jeder kann sich ungefähr vorstellen, was Mentalitäten sind, oder Personeigenschaften, Weltanschauungen, Ideologien, Normen, Wertekanons etc. Und irgendwie weiß man auch, was es bedeutet, wenn von einem etwas ‚erwartet‘ wird. Aber wo genau verläuft die Grenze zwischen allen diesen Begriffen? Was macht die Erwartungshaltung in einer Situation begrifflich so ganz und gar anders als Begriffe wie ‚Normen‘, ‚Wertekanons‘ ‚Ideologien‘ etc.? Warum ist das eine abstrakt und das andere konkret? Das wird an keiner Stelle ausführlicher erörtert und das macht die ganze Begrifflichkeit letztlich unbrauchbar.

Nehmen wir z.B. den Begriff der Ideologie. Was ist das? Bei einem ersten Versuch, diesen Begriff einzugrenzen, würde ich sagen, daß es um normative Behauptungen über die Welt und die Gesellschaft geht, die sich einer weitergehenden Begründung entziehen. Mit ihnen soll ich dazu gebracht werden, etwas für richtig zu halten und Dinge zu tun, die nicht unbedingt in meinem Interesse liegen. Es ist ganz offensichtlich, daß bestimmte gesellschaftliche Interessengruppen, insbesondere die ‚Mächtigen‘, sich bestimmter Ideologien bedienen, um andere gesellschaftliche Gruppen dazu zu bringen, etwas Bestimmtes zu tun oder nicht zu tun.

Wenn Neitzel und Welzer also behaupten, daß Ideologien keinen Einfluß darauf haben, was wir in konkreten Situationen wirklich tun, wären natürlich alle die Bemühungen der genannten Interessengruppen vergeblich, und man wundert sich, warum sie so einen großen Aufwand betreiben, der ohnehin nichts bringt. Im Interesse der weiteren Argumentation nimmt man als Leser diese Behauptung aber gerne hin, und man ist gespannt, wie es weitergeht. Dann zeigt sich aber, daß Neitzel und Welzer zahlreiche Beispiele für ideologische Aktivitäten von seiten der jeweiligen Regierungen und Militärführungen in der Weimarer Republik und im „Dritten Reich“ bringen, mit denen die allgemeine Wehrbereitschaft in der Bevölkerung angehoben werden sollte: „Der Krieg sollte (in der Weimarer Republik mit Hilfe des Wehrdienstes – DZ) mental vorbereitet werden, indem Mut, Begeisterung und Aufopferungsfähigkeit gefördert wurden.()“ (Neitzel/Welzer 5/2011, S.69) – Und an anderer Stelle: „Bereits 1924 hatte der Chef der Heeresabteilung im Truppenamt, Oberstleutnant Joachim von Stülpnagel, den Weg vorgegeben und die ‚moralische Vorbereitung von Volk und Heer auf den Krieg‘ gefordert. Weil die ‚Masse unseres Volkes‘ nicht vom ‚kategorischen Imperativ, für das Vaterland zu kämpfen und zu sterben‘, durchdrungen sei, riet er unter anderem zur ‚nationalen und wehrhaften Erziehung unserer Jugend in Schule und Universität‘ ...“ (Neitzel/Welzer 5/2011, S.70f.)

Hinzu kommen einige sehr ausführliche und detailreiche Seiten zur Praxis der Ordensverleihung im Ersten und Zweiten Weltkrieg. (Vgl. Neitzel/Welzer 5/2011, S.76-81) An keiner dieser historischen Erläuterungen zur geistigen und moralischen Vorbereitung auf den Krieg stellen sich Neitzel und Welzer die Frage, ob es sich hier denn nicht um Ideologie handelt, also um jenes Phänomen, das angeblich keine Auswirkung darauf hat, was jemand letztlich wirklich tut!

Dabei hätten sich alle die verschiedenen Begriffe bei einigermaßen klarer Definition leicht in ein einfaches Bild von der schiefen Ebene einordnen lassen. Schon der Begriff der „Pfadabhängigkeit“ (Neitzel/Welzer 5/2011, S.44f., 49f., 400) hätte dieses Bild nahegelegt. In der „Praxis des Krieges“ (Neitzel/Welzer 5/2011, S.417) spielt die Ideologie sicher nur eine geringe Rolle. An ihre Stelle tritt die Gruppe, die jeden anderen Begründungszusammenhang überflüssig macht. Aber vor der Praxis des Krieges, bei der Vorbereitung, ist ihre Funktion umso wichtiger! So kann man an den historischen Zusammenhängen bis hin zu den Abhörprotokollen erkennen, wie die ‚abstrakteren‘ Handlungsorientierungen (Ideologien, Normen, Rollenerwartungen, wirtschaftliche und geographische Notwendigkeiten, militärische Wertekanons, soldatischer Drill, persönliche Dispositionen etc.) auf der schiefen Ebene nach und nach durch immer konkretere Handlungsorientierungen ergänzt und schließlich in der „Kameradschaftsgruppe“ (vgl. Neitzel/Welzer 5/2011, S.31, 34, 40f.u.ö.) sogar vollständig durch Gruppendenken ersetzt werden.

Letztlich läßt sich also die ständig wiederholte Beteuerung, daß Ideologien für das Handeln keine Rolle spielen, nur aufrecht erhalten, weil man ihre Auswirkungen an der falschen Stelle sucht. In der konkreten Situation kommen sie einfach nicht vor. Aber sie gehören durchaus zu ihrem Referenzrahmen und entfalten in diesem ihre Wirksamkeit. Warum aber suchen Neitzel und Welzer an der falschen Stelle nach ihnen? Weil sie versäumt haben, zu definieren, was Ideologie eigentlich ist!

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