„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Freitag, 3. Juni 2011

Sönke Neitzel/Harald Welzer, Soldaten. Protokolle vom Kämpfen, Töten und Sterben, Frankfurt a.M. 5/2011

1. Rückblick auf de Waal
2. Methode
3. Referenzrahmen, Rollenerwartungen und Lebenswelt
4. Rollenerwartungen und Arbeitsteilung
5. Mentalitäten, Eigenschaften und Ideologien
6. Wertewandel und shifting baselines
7. Gruppendenken und Pfadabhängigkeiten
8. „Drittes Reich“ und Differenz
9. Zur Bedeutung individuellen Urteilens und Handelns

Von den überraschenden Ergebnissen, die Neitzel und Welzer in ihrer Studie ankündigen, bleibt meiner Ansicht nach nur eine Korrektur am Konzept der shifting baselines übrig. Neitzel und Welzer schildern anschaulich, wie sich im „Dritten Reich“ grundlegende Wertekanons innerhalb weniger Jahre verschieben und sich dabei tiefgreifend verändern können, so daß schließlich möglich wurde, was zu Beginn der nationalsozialistischen Machtergreifung für unmöglich gehalten worden wäre: „1933 hätten es die allermeisten Bürgerinnen und Bürger für völlig undenkbar gehalten, dass nur wenige Jahre später unter ihrer tätigen Teilhabe die Juden nicht nur ihrer Rechte und Besitztümer beraubt, sondern zur Tötung abtransportiert würden. Welcher Wertewandel bis dahin stattgefunden hatte, wird klar, wenn man sich im Rahmen eines Gedankenexperiments vorstellt, die Deportationen hätten schon im Februar 1933, unmittelbar nach der sogenannten Machtergreifung, begonnen. Da wäre die Abweichung von den Normalitätserwartungen der Mehrheitsbevölkerung zu groß gewesen ... Nur acht Jahre später war diese Form des Umgangs mit Anderen Bestandteil dessen geworden, was man erwarten konnte und was deshalb kaum noch jemand als außergewöhnlich empfand. Man sieht, dass die Verschiebung sogar ganz grundlegender sozialer Referenzlinien nicht einmal eines generationellen Wechsels oder jahrzehntelanger Entwicklung bedarf; es genügen ein paar Jahre.“ (Neitzel/Welzer 5/2011, S.64)

Das Konzept der shifting baselines basiert darauf, daß das menschliche Gedächtnis nur historische Ereignisse innerhalb von drei bis vier Generationen umfassen kann, weil jenseits dieser Zeitspanne keine Zeitzeugen mehr am Leben sind, die die Vergangenheit noch selbst erlebt haben. Es handelt sich also um historische Veränderungen, auf die wir nicht reagieren und sie somit auch nicht verhindern können, weil sie so langsam vonstatten gehen, daß sie nicht innerhalb dieser drei bis vier Generationen umfassenden Zeitspanne wahrnehmbar werden. Es war deshalb schon immer ein gesellschaftliches Rätsel, wie es der Nationalsozialismus geschafft hat, eine hoch zivilisierte, ‚gebildete‘ Gesellschaft in kurzer Zeit von Grund auf so zu ‚barbarisieren‘, daß in ihrer Mitte ein gigantischer Genozid geplant und ausgeführt werden konnte. Neitzel und Welzer können mit ihrer Verknüpfung von Rollenerwartungen und Arbeitsteilung schlüssig zeigen, daß aufgrund des gleichzeitig funktionalen wie lebensweltlichen Charakters von Rollen das individuelle Bewußtsein gleichsam ‚ausgehebelt‘ wird. Die auf die normalen beruflichen und gesellschaftlichen Erwartungen fokussierte Aufmerksamkeit der Rollenspiele hat die Menschen daran gehindert, zu sehen, daß sie, indem sie weiter machten ‚wie immer‘, genau die Verbrechen aktiv unterstützten, die vor ihren Augen geschahen, einfach weil sie sie nicht mehr als ‚Verbrechen‘ wahrnehmen konnten.

Das „Dritte Reich“ ersetzte eben nicht einfach alte durch neue Werte, sondern es entfaltete sich wie ein unbekanntes Virus in einer Lebenswelt; ein Virus, das sich im lebensweltlichen Stoffkreislauf integriert und davon profitiert, ohne daß es schon ein wirksames Immunsystem dagegen gäbe: „Es (das Dritte Reich – DZ) bestand zunächst einmal aus derselben Menge Alltag, der in jeder möglichen Gesellschaft das Leben von Menschen strukturiert ...“ (Neitzel/Welzer 5/2011, S.50) – Und so war auch das „Dritte Reich“ nichts anderes als ein „‚so-wie-immer‘ geprägter Alltag“. (Vgl.ebd.)

Ein treffendes Beispiel dafür, wie leicht sich die individuelle Aufmerksamkeit lenken und fokussieren läßt, so daß gewissermaßen ein Tunnelblick entsteht, der links und rechts von seiner Blickrichtung nichts mehr wahrzunehmen vermag, ist ein Experiment, das sich auch bei Frans de Waal (2011) findet. Theologiestudenten sollen sich auf eine Rundfunksendung vorbereiten, in der sie eine Predigt zum Gleichnis des barmherzigen Samariters halten sollen. Während die betreffenden Kandidaten noch bei der Vorbereitung der Predigt sind, kommt plötzlich ein Rundfunkassistent aufgeregt in den Raum gestürzt und teilt einem der Theologiestudenten mit, daß er jetzt an der Reihe und spät dran sei. Er müsse sofort in das Studio, und er solle sich bitte beeilen!

Auf dem Weg zum Studio muß der Student eine Straße überqueren, wo ein Schauspieler auf dem Asphalt liegt und um Hilfe bittet. Zwei Drittel der am Experiment beteiligten Studenten ignorieren den offensichtlichen Notfall, um rechtzeitig ins Studio zu ihrer Predigt über den barmherzigen Samariter zu kommen. Bei der anschließenden Befragung der Studenten stellte sich hinterher heraus, daß sie den notleidenden Menschen tatsächlich nicht gesehen hatten, obwohl sie praktisch über ihn drübersteigen mußten, um in das Rundfunkgebäude zu gelangen: „Dieses Experiment sagt zunächst aus, dass Menschen erst einmal etwas wahrnehmen müssen, bevor sie etwas tun. Wenn man höchst konzentriert auf etwas hin arbeitet, blendet man vieles einfach aus der Wahrnehmung aus – das, was mit der Erfüllung der Aufgabe nichts zu tun hat. Diese Fokussierung hat mit moralischen Fragen nichts zu tun; sie geht auf eine notwendige und fast immer aktive Ökonomisierung im Handeln zurück, die Überflüssiges zu vermeiden sucht.“ (Neitzel/Welzer 5/2011, S.43)

Auch dieses Experiment ist übrigens ein Beispiel dafür, wie Ideologien funktionieren, nämlich als Verengung unseres Blicks, so daß wir die offensichtlichen Alternativen, die unserem Handeln zur Verfügung stünden, gar nicht erst wahrnehmen: „Es ist der Handlungszusammenhang aus politischer Initiative und privater Aneignung und Umsetzung, der das nationalsozialistische Projekt innerhalb so erstaunlich kurzer Zeit so zustimmungsfähig macht. Man könnte das eine partizipative Diktatur nennen, zu der die Mitglieder der Volksgemeinschaft gern auch dann ihren Teil beitragen, wenn sie gar keine ‚Nazis‘ sind. So wird ein Handlungszusammenhang sichtbar, in dem veränderte Normen nicht vertikal von oben nach unten durchgesetzt werden, sondern in dem auf praktische und sich kontinuierlich verschärfende Weise das Verhältnis zwischen den Menschen entsolidarisiert (wird) und sich eine soziale ‚Normalität‘ etabliert.“ (Neitzel/Welzer 5/2011, S.65)

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