„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Sonntag, 4. September 2016

Claus Langbehn, Begriffe in der Sprache des Sichverstehens (2015)

(in: Oliver Müller/Giovanni Maio (Hg.), Orientierung am Menschen. Anthropologische Konzeptionen und normative Perspektiven, Göttingen 2015S.122-143)

Claus Langbehn befaßt sich in seinem Beitrag „Begriffe in der Sprache des Sichverstehens“ (2015) damit, was der Begriff „Sichverstehen“ bzw. „Selbstverständnis“ in seiner philosophiegeschichtlichen Tradition zur Klärung der anthropologischen Frage danach, was bzw. wer der Mensch ist, beizutragen vermag. Langbehns Vorgehen ist in großen Teilen des Textes sprachanalytisch, u.a. auch deshalb, weil Langbehn sich nicht nur mit Martin Heidegger (1889-1976) und Hans-Georg Gadamer (1900-2002), sondern auch mit dem in der sprachanalytischen Tradition stehenden deutschen Philosophen Ernst Tugendhat (*1930) auseinandersetzt. Aber auch das Thema von Langbehns Beitrag selbst ist sprachanalytisch ausgerichtet, da es nicht so sehr um das Selbst- und Weltverhältnis des Menschen im genuin anthropologischen Sinne als vielmehr um die Sprache des Sichverstehens und ihre Analyse geht. Von einer solchen sprachanalytischen Klärung erhofft sich Langbehn eine bessere Einschätzung der Möglichkeiten einer philosophischen Anthropologie und ihrer Entwicklung. (Vgl. Langbehn 2015, S.123)

Für den in philosophischen Begrifflichkeiten ungeschulten Leser ist es allerdings äußerst mühsam, den oftmals allzu subtilen Unterscheidungen zwischen Selbstverständnis, Selbsterkenntnis und Selbstbewußtsein zu folgen. Langbehn selbst gesteht ein, daß diese Unterscheidungen in der philosophischen Tradition über lange Zeit hinweg bis Heidegger keine Rolle spielten:
„Was man unter Selbstverständnis hätte verstehen können, ließ sich in den meisten Fällen genauso gut als Selbstbewusstsein und Selbsterkenntnis bezeichnen. Erst seit den 1920er Jahren verbreitete sich das Wort, befördert durch die Philosophie des Sichverstehens, wie sie Martin Heidegger in Sein und Zeit vorlegte, aber auch durch Entwicklungen in der hermeneutisch-geisteswissenschaftlichen Psychologie.“ (Langbehn 2015, S.123)
Heidegger vermied es in „Sein und Zeit“ (1927) ganz bewußt, vom Menschen zu sprechen. Es ging ihm nicht um den Menschen, sondern um eine „Daseinsontologie“ (Langbehn 2015, S.122), d.h. es ging ihm mit dem Begriff des „Sichverstehens“ um einen „formale(n) Existenzbegriff“, „der das Sichverstehen als Seinsweise des Daseins kennzeichnet“ (vgl. Langbehn 2015, S.124). Mit dieser fundamentalontologischen Fixierung reduzierte Heidegger das Sein des Menschen auf ein „Selbstverhältnis als verstehendes Verhalten zum eigenen Sein“. Das Weltverhältnis des Menschen interessierte Heidegger nicht. Es ging ihm lediglich um dessen Sein für sich selbst:
„Die grundlegende systematische Unterscheidung besteht hier in der Unterscheidung zwischen eigentlichem und uneigentlichem Sichverstehen. Während das eigentliche Sichverstehen ein Verstehen aus sich selbst ist, handelt es sich beim uneigentlichen Sichverstehen um ein Verstehen aus der Welt.()“ (Langbehn 2015, S.124)
Zwar ergänzt Langbehn, daß das „Prädikat ‚uneigentlich‘“ „keinen defizitären Status des entsprechenden Sichverstehens“ anzeige, sondern einen „spezifischen Bereich (der Praxis eben), in dem es als ein ontologisches Strukturmoment des Daseins begegnet“. (Vgl. Langbehn 2015, S.124f.) Dennoch ist es gewiß nicht bedeutungslos, wenn sich Heidegger ausgerechnet dieses Prädikats bedient, um das ontologische Strukturmoment des menschlichen Weltverhältnisses zu bezeichnen. Es bleibt der Umstand bestehen, daß Heidegger das Dasein nicht als ein im vollen Umfang menschliches Selbst- und Weltverhältnis kennzeichnet, sondern nur als ein fundamentalontologisches Selbstverhältnis.

Was Heidegger auf diese Weise nicht denken kann – nämlich die Weltzugewandtheit des Menschen als expressives Moment seiner Selbstdarstellung –, haben zwei andere Denker in seiner Nachfolge, Gadamer (vgl. Langbehn 2015, S.125ff.) und Tugendhat (vgl. Langbehn 2015, S.131ff.), zu korrigieren versucht, und sie sind dabei, wie wir noch sehen werden, gescheitert. Mit diesen beiden Denkern befaßt sich Langbehn ausführlicher. Bei beiden werden dabei in Langbehns Darstellung spezifische Grenzen dieser an Heidegger anknüpfenden Denkwege deutlich.

Gadamer versucht Heideggers Daseinsontologie auf hermeneutischem Wege theologisch zu überwinden. Auch er versteht das Verstehen als „ursprünglichste Vollzugsform des Daseins“. Aber Gadamer geht im Unterschied zu Heidegger von einer „dialogischen Struktur“ des Verstehens aus. (Vgl. Langbehn 2015, S.126) Das sich verstehende ‚Selbst‘ versteht sich nicht in und durch sich selbst, sondern es braucht einen Anderen, um sich zu verstehen. Damit kommt Gadamer dicht an den Begriff der Expressivität heran, wie ihn Helmuth Plessner verwendet. Aber letztlich verfehlt Gadamer diese Expressivität, in der das menschliche Subjekt nach Selbstausdruck strebt. Gadamer überhöht die dialogische Struktur des Sich-Verstehens zu einer Theologie. Der Mensch ist demnach nicht in der Lage „aus Eigenem zu einem Verständnis seiner selbst zu gelangen“. Er bedarf dazu des „Anrufs“ durch Gott, in Form einer „Verkündigung“, die ihm mitteilt, wer er ist:
„Damit setzt Gadamer den Anspruch auf die dialogische Form des Verstehens vollends um, denn Sichverstehen ist nunmehr ein Verstehen in Ansprache durch Gott.“ (Vgl. Langbehn 2015, S.129)
An die Stelle der von der unaufhebbaren Differenz von Meinen und Sagen gekennzeichneten Plessnerschen Expressivität tritt bei Gadamer also der Glaube.

Tugendhat beerbt Heidegger in einer anderen Richtung. Er versucht Heideggers einseitig auf das Selbstverhältnis ausgerichtete Daseinsontologie durch eine Ethik zu ergänzen, und er geht dabei sprachanalytisch vor. Tugendhat unterscheidet Langbehn zufolge zwischen einem theoretischen und einem praktischen Selbstbewußtsein. Das theoretische Selbstbewußtsein bezeichnet Tugendhat als ‚propositional‘ (vgl. Langbehn 2015, S.132), ein Begriff aus der Linguistik, der den Inhalt (Proposition) eines Sprechakts bezeichnet. Das theoretische Selbstbewußtsein richtet sich auf die eigenen „Zustände“, verfügt also über ein (inhaltlich bestimmtes bzw. propositionales) „Wissen“ über die eigene „Person“. Der dazugehörige sprachliche Ausdruck lautet: „(I)ch weiß, dass ich diesen oder jenen Zustand habe“. (Vgl. Langbehn 2015, S.132)

Für das praktische Selbstbewußtsein hat Tugendhat den Begriff des ‚Verstehens‘ reserviert. Dabei ist dieses ‚Verstehen‘ keineswegs kontemplativ gemeint, sondern im Gegenteil praktisch und der Welt zugewandt:
„Das ‚Selbst‘ wird also nicht wie im Falle des theoretischen Selbstbewusstsein in bestimmte eigene Zustände übersetzt, sondern in das eigene ‚Sein‘ überhaupt, das Tugendhat als das Leben ausgibt, das wir zu führen haben.() Existieren bedeutet nicht mehr Sichverstehen, sondern das Leben, auf das wir uns verstehend beziehen können ...“ (Langbehn 2015, S.133)
Der sprachliche Ausdruck für dieses Selbstverständnis lautet: „Ich verhalte mich verstehend dazu, dass ich existiere“. (Vgl. Langbehn 2015, S.133)

Die Gekünsteltheit dieses sprachanalytischen Vorgehens besteht darin, daß es ein von Grund auf reflektiertes Selbstverhältnis des Menschen zu sich selbst voraussetzt. Die weltliche Praxis geschieht nicht, sie wird konstruiert. Das zeigt sich an Befindlichkeiten wie der Scham und der Empörung. Scham und Empörung überwältigen den Menschen nicht, sondern sie gehen aus einer Reflexion hervor, in der es darum geht, ob ich mich als moralisch verstehen will:
„Diese Frage“ – nämlich ob ich mich als moralisch verstehen will – „erörtert Tugendhat in Hinsicht auf die Motivation in Form einer Autonomiekonzeption, in der das ‚ich will‘ dem moralischen ‚ich muss‘ zugrunde liegt.() Das entsprechende ‚Sich-moralisch-Verstehen‘() ist darüber hinaus die Bedingung der Möglichkeit von Scham und Empörung.“ (Langbehn 2015, S.136)
An dieser Stelle wird deutlich, wie sehr das sprachanalytische Vorgehen die anthropologische Grundbefindlichkeit des Körperleibs verfehlt. Wer Befindlichkeiten wie Scham und Empörung aus einer Reflexion hervorgehen läßt, belegt damit nur die Weltfremdheit seines Ansatzes.

Beide Konzepte, sowohl das von Gadamer wie auch das von Tugendhat, verfehlen also das Ziel, der eine theologisch, der andere sprachanalytisch, Heideggers Daseinsontologie in Richtung auf eine umfassende Beschreibung des Menschen zu überwinden. Langbehn beschränkt sich in seiner Darstellung aber darauf, die begriffsgeschichtliche Entwicklung des Begriffs „Sichverstehen“ bzw. „Selbstverständnis“ von Heidegger über Gadamer und Tugendhat nachzuzeichnen. Eine Kritik an dieser Begriffsgeschichte fehlt; was hier an Kritik geäußert wurde, bildet lediglich eine Zutat des Rezensenten.

Zum Schluß kommt Langbehn noch einmal auf die Notwendigkeit einer Anthropologie zu sprechen, denn die vorangegangenen Analysen sollten ja einen „Ausblick auf Entwicklungen der philosophischen Anthropologie“ ermöglichen. (Vgl. Langbehn 2015, S.123) Dabei bezieht sich Langbehn unter anderem auf Helmuth Plessner, dessen Definition der Anthropologie als „Selbst- und Weltauffassung“ des Menschen erwähnt wird  (vgl. Langbehn 2015, S.138). Anstatt diese Verhältnisbestimmung, in der Plessner dem Selbstverhältnis ein Weltverhältnis zuordnet und damit den anthropologischen Horizont allererst vervollständigt, auf Heideggers fundamentalontologisch einseitig bestimmte Selbstsorge zurückzubeziehen, geht Langbehn kommentarlos darüber hinweg und zu weiteren Hinweisen auf Äußerungen von anderen Denkern wie Arnold Gehlen, Jürgen Habermas und Wilhelm Kamlah über. (Vgl. Langbehn 2015, S.138f.)

Letztlich sieht Langbehn die Notwendigkeit der Anthropologie in der heutigen Zeit vor allem darin, für ein allgemeines Bewußtsein dafür zu sorgen, daß das „menschliche Selbstverständnis“ wieder „anthropologisch ernst genommen werden muss“. (Vgl. Langbehn 2015, S.138) Die „gemeinsame Motivlage“ der unterschiedlichen anthropologischen Positionen bestehe in einer antireduktionistischen Haltung, „die sich mit den naturwissenschaftlichen Theorien des Menschen nicht zufriedengibt“. (Vgl. Langbehn 2015, S.139f.) Man könne, so Langbehn, die „Naturalismuskritik“ als eine Form „menschlicher Selbstbehauptung“ verstehen. (Vgl. Langbehn 2015, S.140)

Im letzten Absatz verweist Langbehn nochmal auf Habermas:
„Wenn Habermas in jüngster Zeit den anthropologischen Diskurs aufnimmt und von der Philosophie eine Gattungsethik im Sinne eines ethischen Selbstverständnisses des Menschen fordert,() so zeigt das grundsätzlich, dass es sich beim anthropologisch verstandenen Selbstverständnis um eine praktische Kategorie handelt, die vorgibt, wie wir uns verstehen müssen, um leben zu können.“ (Langbehn 2015, S.140f.)
Langbehns Schlußüberlegungen sind respektabel. Aber letztlich wirken sie irgendwie aufgesetzt, weil es unklar bleibt, was sie mit der vorangegangenen Auseinandersetzung mit Heidegger, Gadamer und Tugendhat zu tun haben. Gadamers auf den Anspruch Gottes bezogene dialogische Form und Tugendhats sprachanalytisch begründete Ethik bilden nur disziplinär und methodisch begrenzte Ergänzungen zu Heideggers Daseinsontologie und reichen für die Begründung einer normativ reflektierten, das menschliche Selbst- und Weltverhältnis gleichermaßen berücksichtigenden philosophischen Anthropologie nicht aus.

Download

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen