„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Dienstag, 10. September 2013

Pädagogische Kasuistik

1. Methode
2. Ebenen wissenschaftlichen Denkens und Handelns
3. Günther Buck
4. Fallbeispiele

Die Frage nach dem Wahrheitswert von Fallbeispielen versucht Karl Binneberg mit dem Kriterium des „reflexiven Gleichgewichts“ zu beantworten. Hierbei geht es um das Gleichgewicht zwischen Bild und Sache, also zwischen der Beispielerzählung bzw. der Falldarstellung und ihrer Analyse und Interpretation. Grundsätzlich haben wir es hierbei mit einem Plausibilitätskriterium zu tun: der Zuhörer hört der Beispielserzählung gewissermaßen an, ob sie realitätshaltig ist. Das entspricht dem von Holzkamp beschriebenen „Versuch der Selbstsubsumtion“. Hier erweist sich jeder einzelne Fall als solcher vor dem Hintergrund des Erfahrungswissens der Zuhörer als „aufklärungsbedürftig“ (Holzkamp 1995, S.440).

Unglaubwürdig im Sinne Binnebergs wird eine Falldarstellung dann, wenn der Interpretationsaufwand hinsichtlich des Beispiels zu aufwendig wird. Widerlegbar wird eine Falldarstellung allerdings nur durch innere Widersprüche in der Darstellung selbst oder durch eine andere Falldarstellung, – nicht aber durch eine Theorie oder durch unter standardisierten Bedingungen durchgeführte Experimente. Hier gibt die Falldarstellung vielmehr Anlaß zu deren Kritik und zu einem Überdenken der Gültigkeit von Theorien bzw. zu einer Neuinterpretation experimenteller Ergebnisse.

Im folgenden Beispiel für eine Falldarstellung berichtet Hans Freudenthal davon, wie sein Enkel (4;4 Jahre) zum ersten Mal Zahlenverhältnisse erkennt:
„13.8.74 bei der Mahlzeit, bei ihm zu Hause. Ein rechteckiger Tisch: Er gegenüber der – jüngeren – Schwester, sein Vater gegenüber seiner Mutter, sein Großvater gegenüber seiner Großmutter. Plötzlich beim Nachtisch – abgestreifte Johannisbeeren – erhebt er in größter Aufregung das Löffelchen und ruft aus: ‚So viel sind wir.‘ Es waren in der Tat sechs Johannisbeeren auf dem Löffel. Ich fragte ‚Warum?‘, und er antwortete erst: ‚Ich sehe es so‘, um fortzufahren: ‚Zwei Kinder, zwei Erwachsene, zwei Oma und Opa!‘ Vielleicht lagen die Johannisbeeren in derselben Konfiguration der Würfelsechs auf dem Löffel, wie wir am Tisch saßen, aber das konnte ich nicht sehen ...“ (Freudenthal in: „Plädoyer für eine pädagogische Kasuistik“ (1997), S.121)
Freudenthal interpretiert den von ihm beobachteten Lernfortschritt seines Enkels dahingehend, daß diesem hier zum ersten Mal die Zahl als „mentales Objekt“ bewußt geworden ist. D.h., daß sein Enkel zwar noch nicht zählen gelernt hat, – aber er hat die Zahl als Phänomen entdeckt. Oder um es mit Günther Buck auszudrücken: Freudenthals Enkel ist in der Lage, quantitative Proportionalitätsanalogien zu sehen. Daß Piaget zur Entwicklung mathematischer Fähigkeiten bei Kindern zu ganz anderen, dazu widersprüchlichen Ergebnissen gekommen ist, kümmert Freudenthal überhaupt nicht. Vielmehr nimmt er diesen von ihm beobachteten zufälligen Einzelfall zum Anlaß, Piagets experimentell kontrollierte Untersuchungen in Zweifel zu ziehen.

Zum Schluß möchte ich hier noch zwischen drei verschiedenen Arten von ‚Fallbeispielen‘ unterscheiden. Ich unterscheide zwischen erlebten und konstruierten Falldarstellungen und literarischen Beispielerzählungen. Erlebte Falldarstellungen, wie die eben von Freudenthal vorgetragene, haben eine Verständnis erzeugende Qualität, im Sinne von Günther Bucks ursprünglicher Induktion. Konstruierte Falldarstellungen wie die von Jürgen Henningsen sind von praktischen und theoretischen Erläuterungen durchsetzt. In diesem Sinne konstruiert sind auch Graphiken und schematisierte Darstellungen aller Art, die ich, wenn es sich dabei nicht um Statistiken handelt, aufgrund ihres bildlichen Charakters den konstruierten Falldarstellungen zuordnen möchte. Sie setzen entweder schon ein gewisses Verständnis voraus oder müssen durch begleitende Erläuterungen immer wieder Verständnis sicherstellen und dienen vor allem der nachträglichen oder begleitenden Veranschaulichung. Literarische Beispielerzählungen, wie z.B. der „Emile“ von Jean-Jacques Rousseau oder „Die Verwirrungen des Zöglings Törleß“ von Robert Musil haben wiederum eine ursprünglich induktive und deshalb Verständnis erzeugende Qualität.


In der heutigen empirisch ausgerichteten Erziehungswissenschaft geht es viel zu wenig um das, worum es in der Pädagogik letztendlich geht: um den Menschen. Dem Menschen wiederum geht es nie nur um das Einsammeln ‚objektiver‘ Daten, sondern um Sinn- und Bedeutungszusammenhänge. Diese liegen aber nicht in der Reichweite von unsere körperlichen Organe verlängernden und darin von ihnen abstrahierenden Meßinstrumenten oder von soziale Kontexte reduzierenden und darin ebenfalls von ihnen abstrahierenden Medientechnologien. Sinn- und Bedeutungszusammenhänge entspringen vielmehr einer die biologische Natur des Menschen gleichzeitig übersteigenden wie in dieser ‚Natur‘ wurzelnden Geschichte des menschlichen Bewußtseins. Goethe hatte noch um einen anderen, einen humanen Sinn der Wissenschaften und darin eingeschlossen auch der Naturwissenschaft gewußt. So resümiert z.B. sein Wilhelm Meister:
„... ich habe im Leben überhaupt und im Durchschnitt gefunden, daß diese Mittel, wodurch wir unsern Sinnen zu Hülfe kommen, keine sittlich günstige Wirkung auf den Menschen ausüben. Wer durch Brillen sieht, hält sich für klüger, als er ist, denn sein äußerer Sinn wird dadurch mit seiner innern Urteilsfähigkeit außer Gleichgewicht gesetzt; es gehört eine höhere Kultur dazu, deren nur vorzügliche Menschen fähig sind, ihr Inneres, Wahres mit diesem von außen herangerückten Falschen einigermaßen auszugleichen.“ (Vgl. Goethe, Werke, Bd.8, 1981/1994, S.120f.)
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