„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Mittwoch, 5. Juni 2013

Felix Hasler, Neuromythologie. Eine Streitschrift gegen die Deutungsmacht der Hirnforschung, Bielefeld 3/2013 (2012)

1. Methoden und Experimente
2. neurologische ‚Korrelate‘
3. „Säftelehre der Griechen“
4. „Pathologisierung psychischer Phänomene“
5. Neurowissenschaften und Politik
6. Kritische Neurowissenschaften

Ich hatte mich in einem Post (vom 26.07.2012) skeptisch gegenüber Darstellungen neurowissenschaftlicher Experimente geäußert, weil ich immer den Eindruck habe, daß in diesen Darstellungen entweder zu viele oder zu wenige Daten offengelegt werden. Zu viele Daten erzeugen eine Art ‚Rauschen‘ und behindern den kritischen Fokus auf den eigentlichen Zweck der Experimente, bei denen es oft darum geht, irgendwelche zentralen Aussagen zur Verknüpfung von Bewußtseinsqualitäten mit neurophysiologischen ‚Korrelaten‘ zu belegen. Insbesondere Laien wie ich fühlen sich dabei entmündigt, weil die für sie oft undurchschaubaren neurophysiologischen Begrifflichkeiten die Befunde mit einer blendenden Aura der Autorität versehen.

Zu wenige Daten wiederum rufen ebenfalls Verwirrung hervor, weil die oft weitreichenden Behauptungen der Neurophysiologen so lückenhaft und unzulänglich belegt sind, daß man auch das Gegenteil aus der vorhandenen Datenlage schließen könnte. Ich behelfe mir deshalb immer damit, daß ich bei den Auseinandersetzungen mit den Neurowissenschaften niemals einzelne Befunde als solche in Frage stelle – irgendwie wird das alles schon stimmen, was die Neurowissenschaftler so forschen –, sondern mich immer aufs Grundsätzliche beziehe: also auf die berüchtigten Aussagen zur Willensfreiheit, zum Gedächtnis oder zum Lernen etc.

Genau in dieser Grundhaltung war ich aber offensichtlich bislang noch zu naiv und zu leichtgläubig. Denn nicht nur auf anthropologischer und philosophischer Ebene betreiben viele Neurowissenschaftler mit ihren „umfassende(n) Erklärungsansprüche(n) weit jenseits der Erkenntnismöglichkeiten des eigenen Fachs“ (Hasler 2012, S.7) Scharlatanerie und Bauernfängerei. Sogar in den Grenzen ihres eigenen Fachgebiets wird bei den Experimenten gepfuscht, und Daten werden manipuliert, verzerrt oder bewußt falsch ausgelegt, nur um der Öffentlichkeit und den Medien interessante, aufmerksamkeitsträchtige Ergebnisse präsentieren zu können. (Vgl. Hasler 2012, S.108f.u.ö.)  Auf forschungsleitende Hypothesen wird gelegentlich ganz gerne mal verzichtet und einfach drauf los geforscht, um im nachhinein die „planlos erhobenen Messdaten“ daraufhin zu sichten, was sich mit ihnen anfangen läßt: „Kurz gesagt: einfach mal im Trüben fischen und dann so tun, als hätte man von Anfang an gewusst, wonach man sucht.“ (Hasler 2012, S.52) – Dabei kann man natürlich gleich solche nachträglichen Erklärungen bevorzugen, die den größten finanziellen Gewinn versprechen; sprich: je reduktionistischer, desto höher die Bewertung (vgl. Hasler 2012, S.36).

Inzwischen gibt es sogar in den Neurowissenschaften selbst eine Gegenbewegung zu Singer, Roth und Co.: das Netzwerk der „Kritischen Neurowissenschaften“ (Hasler 2012, S.228), das „ganz grundsätzlich die Vorzugsstellung der Hirnforschung zur Erklärung des Menschen und seiner Lebenswelt in Frage“ stellt (vgl. Hasler 2012, S.229).

Als besonders aufschlußreich empfinde ich Haslers Darstellungen zur funktionellen Magnet-Resonanz-Tomographie (fMRT), dem wichtigsten Instrument der Gehirnforschung. (Vgl. Hasler 2012, S.39-60) Diese Methode gehört in den Bereich der narrativen Mathematik, wie ich sie schon in einem Post zur Komplexitätsforschung (vom 31.08.2011) beschrieben habe. Neben der funktionellen gibt es noch die strukturelle MRT. Die strukturelle MRT kann man mit den traditionellen Röntgenbildern vergleichen, die die inneren Organe des menschlichen Körpers wie ein Photoapparat ‚ablichten‘. Tatsächlich sind aber auch die ‚Abbilder‘ der strukturellen MRT, die ja immerhin die tatsächliche ‚Struktur‘ der inneren Organe wiedergeben, nicht abphotographiert, sondern aus der Antwort (Resonanz) von Atomkernen auf starke Magnetfelder errechnet:
„Schon bevor die MRT-Aufnahme gemacht wird, muss eine Vielzahl von Entscheidungen getroffen werden, die Einfluss auf das Messergebnis haben. So muss beispielsweise die Schichtdicke der Aufnahme festgelegt werden. Wird diese zu groß gewählt, können kleine Läsionen oder pathologische Veränderungen in der Aufzeichnung verpasst werden. Wird die Schichtdicke zu klein gewählt, wird die Aufnahmequalität schlecht oder die Messung dauert unzumutbar lange. Der maschinelle Blick in einen lebenden Menschen bedingt eine komplizierte Übersetzung seiner biologischen Struktur in Zahlen, die dann wiederum zu Bildern umgerechnet werden. Und am Ende der Übersetzungskette steht der fehleranfällige Mensch, meist in Gestalt eines Radiologen, der die MRT-Bilder liest, beurteilt und daraus eine Diagnose ableitet.()“ (Hasler 2012, S.40)
Wir haben es also schon bei der strukturellen und erst recht bei der funktionellen MRT nicht mit Abbildungen, sondern mit Bildgebungen zu tun: also mit bildgebenden Verfahren. (Vgl. Hasler 2012, S.43) Was die strukturelle MRT betrifft, hat dieser Sachverhalt für den Forscher noch keine sonderlich dramatischen Konsequenzen. Denn ob die strukturelle MRT die Lage und den Zustand der einzelnen Organe richtig wiedergibt, ist ‚nur‘ ein Problem für die Diagnose. Allerdings kommt es schon hier oft genug zu Über- oder Unterdiagnosen, zu falsch positiven oder falsch negativen Befunden. (Vgl. Hasler 2012, S.40) Das ist nur ein Problem für den Patienten, aber nicht für den Forscher. Denn daß das errechnete ‚Herz‘ im Computerbild dem tatsächlichen Herz im Körper des Patienten zugeordnet werden kann, ist nicht weiter zweifelhaft.

Von einer vergleichbaren Sachlage kann man aber nun bei der funktionellen MRT leider überhaupt nicht ausgehen. Die ‚funktionelle‘ MRT ist speziell für Gehirnscans entwickelt worden und soll es ermöglichen, dem Gehirn, salopp formuliert, beim Funktionieren zuzusehen. Anstatt aber nun die Gehirnprozesse auf Synapsenebene zu beobachten – die ja den eigentlichen Gegenstand der Neurowissenschaften bilden –, werden zeitabhängige lokale Veränderungen „im Blutfluss und Sauerstoffverbrauch“ gemessen. (Vgl. Hasler 2012, S.42) Die Eisenatome im Blut interagieren mit den Magnetfeldern des MRT und erzeugen so die sogenannten BOLD-Signale: bold = blood-oxygen-level-dependent.

Die Zeitabhängigkeit dieser lokalen Veränderungen bildet dabei die Crux dieses Verfahrens. Die Blutflußveränderungen bewegen sich im Sekundenbereich, während die elektrochemischen Prozesse zwischen den Synapsen im Millisekundenbereich stattfinden. Selbst im günstigsten Fall liegen zwischen den Blutflußveränderungen und den elektrochemischen Prozessen mehrere hundert Millisekunden. Die ‚Abbildungen‘ der funktionellen MRT hinken also den tatsächlichen neurologischen Ereignissen immer hinterher. Von einer ‚Abbildung‘ bzw. von einer eindeutigen Zuordnung der ‚Bilder‘ zu neurologischen Prozessen kann also keine Rede sein. Die Gehirnfunktionen mit Hilfe des Blutflusses sichtbar machen zu wollen, ist in etwa so sinnvoll, wie die „Funktionsweise eines Computers“ mit Hilfe der Messung des Stromverbrauchs ergründen zu wollen. (Vgl. Hasler 2012, S.56)

Läßt also schon die Methode der Bildgebung selbst nur eine globale Zuordnung von bunt eingefärbten Bildern zu grob umrissenen Gehirnbereichen zu, und keinesfalls zu spezifischen synaptischen Ereignissen und Netzwerken, gibt es aber auch in der Verwendung der fMRT weitere fehleranfällige Ungenauigkeiten. Die bunt eingefärbten Bilder von den Gehirnregionen, die als Ergebnisse neurophysiologischer Experimente präsentiert werden, kommen durch ein Differenzverfahren zustande. Es werden immer mindestens zwei Experimente gemacht: ein Testexperiment und ein Kontrollexperiment:
„Auf der Suche nach, sagen wir, dem Sitz der romantischen Liebe, werden Verliebten Fotos ihres geliebten Partners gezeigt und auch Bilder von Freunden gleichen Alters und Geschlechts, in die sie aber nicht ‚wahrhaftig, tief und wie verrückt‘ verknallt sind.() Man subtrahiert dann einfach die MRT-Aufnahme der Kontrollbedingung von der MRT-Aufnahme, die beim Betrachten des Subjektes der Begierde gemacht wurden. So hofft man, alle unspezifischen Hirnaktivierungen loszuwerden, die nichts mit dem Verliebtsein zu tun haben.()“ (Hasler 2012, S.45)
Nun muß man dabei aber wissen, daß das Gehirn ständig aktiv ist, selbst wenn wir schlafen. Also auch, wenn wir nicht wach und aufmerksam sind, gibt es eine Ruhezustandsaktivität. Dieser Ruhezustand an sich beinhaltet schon ein komplexes, das Bewußtsein ermöglichendes Aktivitätsspektrum. Hinzu kommen eine Unzahl an Wechselwirkungen zwischen dem Gehirn, dem übrigen Organismus und der Umwelt, so daß schon allein der Umstand, daß ein Experiment stattfindet, sich auf die neurophysiologische Aktivität auswirkt. Alles das wird nun beim Subtraktionsverfahren, wenn die Kontrollergebnisse von den Testergebnissen abgezogen werden, als bloßes „Hintergrundrauschen“ weggerechnet. Was übrigbleibt, gilt nun als neurologisches Korrelat für romantische Liebe. Das ist in etwa so, als würde man das Gewicht des Kapitäns einer Yacht errechnen, indem man beide wiegt und dann vom Endergebnis das Gewicht der Yacht wieder abzieht. (Vgl. Hasler 2012, S.45)

Die bunten Bilder der fMRT bilden also immer das Ergebnis statistischer Berechnungen: entweder werden auf individueller Ebene mehrere Bilder hintereinander oder Untersuchungen von mehreren Individuen und Gruppen zu Einzelbildern zusammengerechnet. (Vgl. Hasler 2012, S.34) Diese ‚Bilder‘ stellen also niemals Befunde einer einzelnen Untersuchung dar und ermöglichen deshalb auch keine Aussagen über individuelle Bewußtseinsprozesse. (Vgl. Hasler 2012, S.47f.) Und was das Gravierendste ist: sie lassen sich auch nicht reproduzieren! (Vgl. Hasler 2012, S.58f.)

Es ist also kein Wunder, wenn bei der geringen Spezifität der fMRT immer wieder die gleichen Gehirnregionen genannt werden, die für alle möglichen Bewußtseinsqualitäten verantwortlich gemacht werden. Zum anterioren cingulären Cortex schreibt Hasler: „Eine Aktivierung dieser Hirnregion findet man nicht nur bei frisch Verliebten und amerikanischen Wechselwählern, die Bilder von Hillary Clinton sehen, sondern auch wenn chinesisch-englische Zweisprachige bei der Wortbildung eine der Sprachen hemmen,(), wenn Frauen zwischen potenziellen Sexpartnern wählen müssen,() wenn Esssüchtige einen Schokolade- Milchshake vorgesetzt bekommen,() wenn Männer an die eigene Sterblichkeit erinnert werden,() wenn man Vegetariern Bilder von Tiermisshandlungen zeigt,() wenn sich Optimisten positive Gegebenheiten vorstellen() oder wenn man im MRT-Scanner gekitzelt wird.() Man könnte diese Liste beliebig fortführen. Als kleinster gemeinsamer Nenner wurde vorgeschlagen, der anteriore cinguläre Cortex sei das Bindeglied zwischen Emotion und Kognition.() Das macht wohl Sinn und würde auch erklären, warum der ACC notorisch aktiv ist, was immer man auch messen will.“ (Hasler 2012, S.50)

Wo für so viele unterschiedliche Experimente immer dasselbe Ergebnis präsentiert wird, verliert es jede Aussagekraft. Wenn also der anteriore cinguläre Cortex ein Korrelat des Bewußtseins bilden soll, dann gilt dasselbe auch für die Luft, die wir atmen, denn auf sie kann das Gehirn so wenig verzichten wie auf den Blutzufluß, den die fMRT mißt.

Zum Schluß möchte ich aber nochmal auf den Erfolg zurückkommen, den diese bunten Gehirnbilder beim Laien haben. Da läuft manches auf einer Ebene ab, die mit Wissenschaft überhaupt nichts zu tun hat. Bilder sind offensichtlich generell sehr wirkmächtig, denn insbesondere unser Unterbewußtsein spricht auf sie an. Hasler bringt diesen Effekt auf die Formel: „Sehen heißt glauben“ (Hasler 2012, S.43). Die Wirkung auf das Unterbewußte zeigt sich besonders deutlich bei Psychiatriepatienten, denen man „MRT-Bilder des eigenen Gehirns“ gezeigt hat:
„An klinischen Studien teilnehmenden Patienten wird zwar in der Regel mitgeteilt, dass die Hirnbilder, die von ihnen gemacht werden, der Grundlagenforschung dienen und für sie persönlich keine diagnostische Aussagekraft haben. Dies scheint bei den Patienten jedoch kaum anzukommen. Wie Simon Cohn ausführt, machen sich die Patienten ihre eigenen Geschichten zu den Hirn-Scans ... Über eine MRT-Aufnahme ihres Gehirns sagt eine bipolare Patientin: ‚Dieses Bild. Das ist das genaueste Portrait, das du jemals haben kannst. Ein Bild davon, wer du wirklich bist. Innen drin. Ich sage den Leuten: das ist mein Selbstportrait.‘()“ (Hasler 2012, S.68)
Die bunten fMRT-Bilder entwickeln eine „verführerische Suggestionskraft“ (vgl. Hasler 2012, S.43), und viele Neurowissenschaftler bedienen sich der fMRT deshalb nicht als eines wie auch immer problematischen Forschungsinstruments, dessen Fehleranfälligkeit einer beständigen kritischen Aufmerksamkeit bedarf, sondern als „Evidenzmaschine()“ (Hasler 2012, S.44), mit deren Hilfe man seine Reputation in der Öffentlichkeit aufwerten und staatliche Gelder einwerben kann.

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