„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Mittwoch, 31. August 2011

Eva Horn/Lucas Marco Gisi (Hg), Schwärme – Kollektive ohne Zentrum. Eine Wissensgeschichte zwischen Leben und Information, Bielefeld 2009

(Eva Horn, Schwärme – Kollektive ohne Zentrum. Einleitung, S.7-26 / Eugene Thacker, Netzwerke – Schwärme – Multitudes, S.27-68 / Michael Gamper, Massen als Schwärme. Zum Vergleich von Tier und Menschenmenge, S.69-84 / Urs Stäheli, Emergenz und Kontrolle in der Massenpsychologie, S.85-99 / Eva Horn, Das Leben ein Schwarm. Emergenz und Evolution in moderner Science Fiction, S.101-124 / Sebastian Vehlken, Fish & Chips. Schwärme – Simulation – Selbstoptimierung, S.125-162 / Sebastian Giessmann, Netzwerkprotokolle und Schwarm-Intelligenz. Zur Konstruktion von Komplexität und Selbstorganisation, S.163-182 / Niels Werber, Schwärme, soziale Insekten, Selbstbeschreibungen der Gesellschaft. Eine Ameisenfabel, S.183-202 / Eva Johach, Schwarm-Logiken. Genealogien sozialer Organisation in Industriegesellschaften, S.203-224 / Lucas Marco Gisi, Von der Selbsterhaltung zur Selbstorganisation. Der Biber als politisches Tier des 18. Jahrhunderts, S.225-251 / Benjamin Bühler, Tierische Kollektive und menschliche Organisationsformen: Kropotkin, Canetti, Frisch und Lem, S.253-272)

1. Narrative Mathematik
2. Epistemische Dinge, Metaphern und Grundbegriffe

In Platons „Staat“ sind Menschen in einer Höhle so vor einer Wand festgebunden, daß sie nichts anderes sehen als diese Höhlenwand, auf die Schattenspiele projiziert werden. Die gefesselten Menschen haben nie etwas anderes gesehen und halten sie für die Wirklichkeit. Während sie die Schattenspiele beobachten, reden sie miteinander darüber, was diese Schattenspiele bedeuten und welche Gesetzmäßigkeiten, kausalen Zusammenhänge es zwischen ihnen gibt. Sie betreiben also mit ihren beschränkten Mitteln, Beobachtung und Gespräch, so etwas wie wissenschaftliche Forschung.

Der Film „Matrix“ beginnt mit endlosen Zahlenreihen, die von oben über die Leinwand nach unten laufen, als stürzten sie im freien Fall in einen bodenlosen Abgrund. Nach und nach gehen die Zahlenkolonnen in eine Filmhandlung über und beginnen die Geschichte von Neo und Morpheus zu erzählen, die Geschichte eines Computerprogramms, das in einer Nährflüssigkeit schlafende Menschen in einer virtuellen Welt gefangen hält, die sie für die Wirklichkeit halten. Das Computerprogramm besteht aus diesen endlosen Zahlen, die sich wiederum im Traumbewußtsein der schlafenden Menschen in Erlebnisse, Landschaften, Städte etc. verwandeln.

Die ‚Realität‘ dieser Schlafwelt besteht also in einer Software, in mathematischen Algorithmen. Auf einem Blatt Papier hätten wir lediglich ein „mathematisches Modell“ vor Augen, „ein statisches, lebloses Ding“. (Vgl. Vehlken 2009, S.156) Erst, indem diese Zahlen zum ‚Laufen‘ gebracht werden, – indem ihnen „Laufzeit“ hinzugefügt wird, verwandeln sie sich in Geschichten, die jene schlafenden Menschen für die Wirklichkeit halten: „Zugespitzt könnte man vielleicht formulieren, dass die Code-Zeichen im evolutionären Programmparadigma eine Geschichte erhalten ...“ (Vehlken 2009, S.158f.)

„Evolutionäres Programmparadigma“, „unhintergehbare Vierdimensionalität“ (vgl. Vehlken 2009, S.131),  „Code-Zeichen“, die eine „Geschichte“ erhalten: alles das sind Formulierungen, die darauf hindeuten, daß Computersimulationen die statische Mathematik zum Fließen bringen, – daß die Mathematik, prägnant formuliert, narrativ geworden ist. Was genau könnte mit einer narrativen Mathematik gemeint sein?

Bleiben wir beim Versuch, diese Frage zu beantworten, mit Vehlken im Bereich der Episteme. Eine Wissenschaft, die sich mit Schwärmen befaßt, verläßt den präzise mathematisierbaren Bereich von Prozessen und Gegenständen, den Bereich der einfachen, mechanischen Kausalität: „Die Episteme der Struktur und ihre Analyse als Zergliederung eines geschlossenen Problemraums weichen der Episteme der Selbstorganisation als Synthese veränderlicher Formationen, zur iterativen Näherung einer Lösungskonfiguration.()“ (Vehlken 2009, S.158)

Die neue Episteme beschäftigt sich mit ‚unscharfen‘, d.h. nicht präzisierbaren Phänomenen, für die Fisch- und Vogelschwärme beispielhaft stehen. Um das Verhalten von Fisch- und Vogelschwärmen beschreiben zu können – und diese Episteme beschränkt sich auf die Beschreibung, denn jeder Erklärungsversuch muß an der Unkontrollierbarkeit des Schwarmverhaltens scheitern –, wird wiederum der Schwarm selbst, also der Untersuchungsgegenstand, zum Modell für stochastische Beschreibungsverfahren: „... Schwärme (werden) fast gleichzeitig in der Biologie als Wissensobjekt durch agentenbasierte Verfahren beschreibbar und in der Informatik als Wissensfigur an den Grenzen des Berechenbaren operabel. Schwärme sind zugleich Objekt als auch Prinzip agentenbasierter Simulationsmodelle.“ (Vehlken 2009, S.128)

Damit ermöglichen experimentelle Computersimulationen die pragmatische Erkundung von Unschärferäumen, etwa des prinzipiell unkontrollierbaren Verhaltens von Fisch- und Vogelschwärmen, ohne dem theoretischen Anspruch nach verifizierbaren oder falsifizierbaren Modellen, Gesetzen oder Hypothesen zu genügen oder auch nur genügen zu wollen: „Ihnen (den Computersimulationen – DZ) kann ... ein ganz eigener epistemologischer Status des Experimentierens mit Theorien zugeschrieben werden, indem eine pragmatische Operationalität eine genaue theoretische Fundierung ablöst, indem ein kategorischer Wahrheitsanspruch durch provisorische Erkenntnis ersetzt wird, oder kurz: indem ‚performance beats theoretical accuracy.‘() Anders als im Falle von Theorien geht es nicht um ihre Wahrheit oder Falschheit, sondern um Fragen von Brauchbarkeit und Richtigkeit.()“ (Vehlken 2009, S.156f.)

Damit aber erfüllen Computersimulationen genau jene Funktion, die Günther Buck Beispielgeschichten zuschreibt. (Vgl. „Lernen und Erfahrung – Epagogik. Zum Begriff der didaktischen Induktion“ (3/1989)) Beispielgeschichten funktionieren Buck zufolge nicht logisch, wie explizites, theoretisches Wissen, sondern ana-logisch. Es gibt in Beispielgeschichten keine expliziten Regeln, die festlegen, wie sie verstanden werden müssen. Wenn jemand eine Beispielgeschichte erzählt, versteht man sie oder man versteht sie nicht. Beispielgeschichten haben vor allem eine pragmatische und eine heuristische Funktion. Sie helfen uns im Alltag, Lösungen für Probleme zu finden, und sie helfen dem Wissenschaftler, auf neue Ideen zu kommen. Die ‚Übertragung‘, also die Anwendung einer Beispielgeschichte auf einen konkreten Fall geschieht also in einem Sprung, so daß man durchaus von einer ‚Emergenz‘ plötzlichen Verstehens sprechen könnte. Beispielgeschichten sind also selber ‚unscharf‘, und somit gehörten auch sie schon immer zu einer „Kultur der Unschärfe“. (Vgl. Vehlken 2009, S.127)

Worin besteht nun aber genau die  Übertragungsleistung, die uns Computersimulationen ermöglichen? Vehlken spricht davon, daß Schwärme als biologischer Untersuchungsgegenstand in Form von Computersimulationen zugleich „zum Modell, zur Möglichkeitsbedingung“ für deren Untersuchung werden. (Vgl. Vehlken 2009, S.149) An Schwarmverhalten orientierte „Computergrafik macht ... einen visuellen Abgleich verschiedener Globalstrukturen im Hinblick auf veränderte Parametereinstellungen im Regelwerk der agentenbasierten Simulationsmodelle als auch im Hinblick auf die sporadischen empirischen Daten von Open-Water- und Laborstudien von Fischschwärmen möglich.“ (Vehlken 2009, S.155)

Der „visuelle Abgleich“ einerseits zwischen den konkurrierenden Computersimulationen untereinander und andererseits zwischen den den Computersimulationen zugrundeliegenden mathematischen Algorithmen und den realen Open-Water-Schwärmen wird dadurch möglich, daß alle Daten auf die gleiche Phänomenebene, die visuelle Wahrnehmung, projiziert werden, so daß die dort auftauchenden ‚Gestalten‘ visuell miteinander verglichen werden können.

Im Grunde ist es wie in der Höhle von Platon: die an die Wand projizierten Schatten sind mit verschiedenen Datensätzen verbunden, derem ‚Profil‘ (Schattenriß) Informationen über die Brauchbarkeit dieser Datensätze (bei Platon die im Hintergrund vorbeigetragenen Gegenstände) entnommen werden können. Sobald aber nicht nur die verschiedenen, miteinander konkurrierenden Computersimulationen (Schatten) untereinander verglichen werden, sondern auch mit den empirischen Daten von Open-Water-Studien, ist die Situation in der Höhle doch spezifisch anders. Denn zwischen den Schatten auf der Höhlenwand und ihren Gegenständen im Hintergrund der Höhle besteht ein linearer ‚Erscheinungs‘-Zusammenhang. Wüßten die Höhlenmenschen von den realen Gegenständen hinter ihrem Rücken, so hätten sie in den Schatten vor ihnen ein recht gutes Abbild, von dem sie auf die realen Gegenstände zurückschließen könnten.

Bei einem Vergleich zwischen Computersimulationen und Open-Water-Studien ist das anders. Der von Vehlken angesprochene „Abgleich“ zwischen den mathematischen Algorithmen und den realen Fisch- und Vogelschwärmen bleibt unentschieden, weil es keinen linearen Erscheinungszusammenhang zwischen Open-Water-Schwarmverhalten und den Computersimulationen gibt. Auch wenn die Computersimulationen den Fisch- und Vogelschwärmen immer ähnlicher werden, werden die mathematischen Algorithmen dadurch doch nicht zu Gesetzmäßigkeiten des Schwarmverhaltens, mit deren Hilfe wir es erklären oder prognoszieren könnten.

Letztlich gilt also für den Abgleich mit der Wirklichkeit dasselbe wie für den wechselseitigen Abgleich konkurrierender Computersimulationen: „Verschiedene konkurrierende Schwarm-Simulationsmodelle zeigen diesen hypothetischen Charakter des Wissens der Computersimulation an – anstatt sich gegenseitig zu beweisen und Gewissheiten zu produzieren, erzeugen sie ein Spektrum an Meinungen und Auffassungen.() ... Es ist eben nicht ohne Weiteres möglich, die Prozesse von Schwarm-Simulationen mit den Prozessen in biologischen Schwärmen zu vergleichen und ihre (Re-)Präsentationalität zu überprüfen. Vielmehr müssen sie sich quasi intern verifizieren.“ (Vehlken 2009, S.157)

Computersimulationen liefern also Beispielstrukturen für Schwarmverhalten, ohne daß diese Beispielstrukturen den Status verifizierbarer oder falsifizierbarer Theorien einnehmen könnten. Wir haben es analog zum Erzählen von Beispielgeschichten mit einer narrativen Mathematik zu tun. Diese Mathematik ‚erzählt‘ uns etwas über unscharfe Phänomene, von denen wir auf andere Weise nichts wissen können. So wird die narrative „Visualisierung von Daten ... essentiell für die Wissensproduktion ...“ (Vehlken 2009, S.155) Allerdings für eine Wissensproduktion, die sich darin bescheidet, nichts erklären und lediglich die „Beschreibung kontingenter Realweltphänomene“ verbessern zu wollen. (Vgl. Vehlken 2009, S.127)

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