„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Dienstag, 26. Oktober 2010

Helmuth Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch. Einleitung in die philosophische Anthropologie, Berlin/New York 1975 (1928)

1. Dingphänomene
2. Zwei Anmerkungen zu den Dingphänomenen (A & B)
3. Lebensphänomene: Pflanzen
4. Lebensphänomene: Tiere
5. Lebensphänomene: Menschen (A, B & C)
6. Entwicklungsphänomene

Im letzten Post wurde darauf hingewiesen, daß Mensch und Tier das gleiche Bewußtsein gemeinsam haben. Auf dieser Ebene hat der Mensch auch Teil an der Unbefangenheit, ein unmittelbares Verhältnis zu sich selbst und zu seiner Umwelt. Zugleich verwandelt sich aber auf der neuen Ebene des Selbstbewußtseins, die Plessner im Unterschied zur Positionalität von Pflanzen und Tieren als exzentrische Positionalität (vgl.S.292f.) kennzeichnet, der Charakter dieser Unmittelbarkeit. Wir haben es nun mit einer „vermittelten Unmittelbarkeit“ (vgl.S.321-341 u.ö.) zu tun, mit einer Unmittelbarkeit, der wir „zusehen“: „Als Ich dagegen, das sich in voller Rückwendung erfaßt, sich fühlt, seiner inne wird, seinem Wollen, Denken, Treiben, Empfinden zusieht (und auch seinem Zusehen zusieht), bleibt der Mensch im Hier-Jetzt gebunden, im Zentrum totaler Konvergenz des Umfeldes und des eigenen Leibes. So lebt er unmittelbar, ungebrochen im Vollzug dessen, was er kraft seiner unobjektivierbaren Ichnatur als seelisches Leben im Innenfeld faßt.“ (S.292)

Zugleich gilt aber eben auch, daß wir mit dieser weiteren Anhebung auf ein neues Seinsniveau ‚neben‘ uns zu stehen kommen: „Als Ich, das die volle Rückwendung des lebendigen System zu sich ermöglicht, steht der Mensch nicht mehr im Hier-Jetzt, sondern ‚hinter‘ ihm, hinter sich selbst, ortlos, im Nichts geht er im Nichts auf, im raumzeithaften Nirgendwo-Nirgendwann.“ (S.292) – Dieses Nicht-mehr im Hier-Jetzt des tierischen Bewußtseins beinhaltet zugleich ein Noch-nicht, in dem der Mensch noch nicht bei sich selbst, sondern erst auf dem Weg zu sich selbst ist. (Vgl.S.134, 174 u.ö.)

Diese exzentrische Position verleiht nun dem Menschen, wie schon in den Anmerkungen zur Dingphänomenalität erwähnt, auch ein selbst-bewußtes Verhältnis zum Nichts als Negation. Wir fallen nicht nur selbst aus unserer Umwelt heraus, wir können auch die individuellen Dinge aus ihrem Umfeld herauslösen und uns gegenüberstellen. (Vgl.S.271) Dies ermöglicht es uns, sie als ‚Sachverhalte‘ zu begreifen. Sachverhalte beinhalten wiederum ‚Tatbestände‘ (vgl.S.322), die unabhängig von unseren aktuellen Bedürfnissen bestehen, von denen wir ebenfalls nur aufgrund unserer Fähigkeit zur Negation abstrahieren können. Daß uns solche Tatbestände unabhängig von unseren Bedürfnissen gegeben sein können, macht aus der Entwicklung von Techniken, wie z.B. Werkzeugen und Technologien mehr als bloße Erfindungen: sie werden nun zu „Entdeckungen“ (S.322), nämlich von Sachverhalten, die wir uns in Form von Technologien zunutze machen können.

Sowohl diese Struktur von Sachverhalten wie das Noch-nicht im Hier und Jetzt beinhalten einen „Grundzug menschlichen Lebens ..., den man als Expressivität, als Ausdrücklichkeit menschlicher Lebensäußerungen überhaupt bezeichnen muß.“ (Vgl.S.323f.) Denn die Technologien, die der Mensch „erfindet“, stellen nur verschiedene Möglichkeiten dar, den ihnen zugrundeliegenden Tatbeständen „Ausdruck“ zu verleihen. Technologien, Werkzeuge sind nur verschiedene ‚Formen‘, mit denen wir die ihnen zugrundeliegende Tatbestände umsetzen, sie verwirklichen. Technologien stellen also als solche – anders als es von interessierter Seite immer gerne behauptet wird – weder schicksalhafte noch ethisch neutrale Sachverhalte dar. Indem der Mensch in ihnen Tatbestände auf eine bestimmte Weise, für die er sich entscheiden mußte (er hätte sich auch für eine andere Form entscheiden können), verwirklicht, sie zum Ausdruck bringt, verwirklicht er sich selbst, d.h. er bringt in ihnen sich und sein Wollen zum Ausdruck.

Das gleiche gilt für das „Noch-nicht“ im „Hier-Jetzt“: Indem er noch nicht ist, was er erst noch werden muß, ist der Prozeß, in dem er zu sich selbst kommt, eine Ausdruckbewegung. Der Mensch sucht nach der äußeren ‚Form‘, die seinem inneren ‚Wesen‘ entspricht. Da aber das Medium, in dem er sich verwirklichen will und muß, für ihn keine Umwelt, sondern eine Welt darstellt, in der die Dinge ihm als eigenständige Gegenstände entgegentreten – das gilt gleichermaßen für die Naturwelt wie auch für die Sprache selbst, denn auch sprechend, also im engeren Sinne Ausdruck suchend, haben wir Mühe, die richtigen Worte zu finden (vgl.S.340) –, gelingt es uns immer nur halb. Stets versagt uns die Form, die wir finden, die vollständige Erfüllung: „Der Abstand des Zielpunktes der Intention vom Endpunkt der Realisierung der Intention ist eben das Wie oder die Form, die Art und Weise der Realisierung. Jede Lebensregung der Person, die in Tat, Sage, oder Mimus faßlich wird, ist daher ausdruckshaft, bringt das Was eines Bestrebens irgendwie, d.h. zum Ausdruck, ob sie den Ausdruck will oder nicht. Sie ist notwendig Verwirklichung ...“ (S.338)

Dieses Versagen ist nun aber nicht nur ein wesentliches Prinzip der Expressivität, sondern zugleich Bedingung für ihr Gelingen: „Die Einheit der Intention hält sich nur in der Zersplitterung in verschiedene Idiome. Und man darf den Satz wagen, daß alles Suchen nach einer Ursprache nicht nur aus empirischen Gründen zur Erfolglosigkeit verurteilt ist. Es beweist Unkenntnis des Gesetzes der Konkretion und Objektivierung des Geistes, welche erst dann die über alle beschränkende Form hinausliegende Intention durchsetzt, wenn ihr durch den Prozeß der Objektivierung eine Form (und zwar eine an sich nicht notwendige) ‚zufällt‘. Realisierung und Erfüllung einer Intention heißt Brechung ihres Strahls in einem ihr fremden Medium.“ (S.340)

Technologien und – präziser – ‚Kultur‘ müssen also ergänzend als ‚zweite Natur‘ zu seiner organischen, tierischen Natur hinzutreten, um dem Wesen des Menschen Ausdruck zu verleihen: „Nur weil der Mensch von Natur halb ist und (was damit wesensverknüpft ist) über sich steht, bildet Künstlichkeit das Mittel, mit sich und der Welt in’s Gleichgewicht zu kommen.“ (S.321) – Daraus ergibt sich bei Plessner ein deutlicher Widerspruch zu Blumenbergs These zur Selbstzerstörung der Lebenswelt: „Die konstitutive Gleichgewichtslosigkeit seiner besonderen Positionalitätsart – und nicht erst die Störung eines ursprünglich normal, harmonistisch gewesenen und wieder harmonisch werden könnenden Lebenssystems ist der ‚Anlaß‘ zur Kultur.“ (S.316) – Aufgrund seiner exzentrischen Positionalität ist der Mensch aus der Lebenswelt immer schon herausgefallen, und deshalb ist er immer schon bestrebt, mit sich und der Welt ins Gleichgewicht zu kommen, sich auszudrücken.

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