„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Samstag, 13. Juli 2013

Marcus Knaup, Leib und Seele oder mind and brain? Zu einem Paradigmenwechsel im Menschenbild der Moderne, Freiburg/ München 2012

1. Neurowissenschaften und Philosophie
2. Embryonale Leiblichkeit
3. Das Mensch-Welt-Verhältnis
4. Supervenienz und Epiphänomenalismus
5. Plastizität und Korrelation
6. Damasios Monismus

Ich hatte schon in einem anderen Post (vom 06.06.2013) darauf hingewiesen, daß die enorme Plastizität des Gehirns gegen die 1:1 Korrelation von Gehirnfunktionen für spezifische Bewußtseinsqualitäten spricht. Wenn immer wieder solche Gehirnbereiche entdeckt werden und Schlagzeilen machen, wie jüngst die temporoparietale Übergangsregion (TPJ) im Mental-Netzwerk, die für Begeisterung und Mitteilungsdrang zuständig sein soll, so belegen diese Resultate – vorausgesetzt, es ist im Experiment und beim Auswerten der Daten alles mit rechten Dingen zugegangen (vgl. meinen Post vom 05.06.2013) – zunächst einmal nur, daß dieser Gehirnbereich für diese mentalen Lebensäußerungen funktional ist. Eine darüber hinaus gehende Determination ist damit nicht belegbar.

So verweist Marcus Knaup z.B. in einem Gedankenexperiment auf einen Philosophen, der mit seiner Streitlust seiner Umgebung, insbesondere den Hirnforschern, auf die Nerven geht: „Angenommen, es wäre ... tatsächlich geglückt, ein NCC (neural correlates of consciousness – DZ) für die Streitlust des Philosophen auszumachen, der vor keiner Diskussion mit einem Hirnforscher einen Bogen gemacht hat und bereit war, sich untersuchen zu lassen. In seiner jetzigen Lebenssituation nach einem schlimmen Unfall könnte es sein, dass eben dieser Hirnbereich eine ganz andere Bestimmung für den Gesamtorganismus innehat, weshalb wir festhalten müssen, dass NCCs nicht hinreichend sein können für bewusste mentale Lebensäußerungen.()“ (Knaup 2012, S.389f.)

Aufgrund des „stetigen Formprozesses“, in dem sich Knaup zufolge „unser Zerebrum“ befindet, also aufgrund seiner Plastizität, können nämlich durch Unfall, Krankheit oder Operation beschädigte oder entfernte Gehirnbereiche und ihre verlorengegangenen Funktionen von anderen Gehirnbereichen übernommen werden. Ein Gehirnbereich, der vorher für Streitlust ‚zuständig‘ (bzw. funktional) war, kann nun eine andere Aufgabe übernehmen, oder, falls dieser Bereich selbst beschädigt wurde, können ihn andere Bereiche ersetzen.

Plastizität ist so ziemlich das Gegenteil von Determination. Entweder bildet ein lokalisierbares neuronales Set ein Korrelat für ‚Streitlust‘ oder ‚Begeisterung‘ oder ‚Mitteilungsdrang‘ oder nicht. Es kann nicht eine bestimmte korrelative Funktion innehaben und bei späterer Gelegenheit eine andere korrelative Funktion übernehmen und gleichzeitig mentale Lebensäußerungen diktieren.

Aber es gibt nicht nur diese Plastizität in der bereichsspezifischen Zuständigkeit von Gehirnfunktionen. Es gibt darüber hinaus auch eine Plastizität hinsichtlich ihrer mentalen Inhalte. Das zeigt sich z.B. an den sogenannten Bereitschaftspotentialen (BP), wie sie Benjamin Libet in seinen berühmten Experimenten entdeckt hat. (Vgl. Knaup 2012, S.498ff.) Diese Bereitschaftspotentiale werden von den Neurodeterministen immer wieder gerne als Beweis dafür angeführt, daß es keine Willensfreiheit gibt. Im Experiment treten bei den Versuchspersonen diese Bereitschaftspotentiale etwa 550 Millisekunden vor dem bewußten Entschluß auf, einen bestimmten Finger zu heben.

In einem anderen Experiment wurden Teilnehmern Handlungsalternativen geboten. Statt nur einen bestimmten Finger hochzuheben, sollten sie einen von zwei Knöpfen drücken: „Laut Versuchsanordnung sollten die Probanden entweder mit dem rechten oder linken Zeigefinger einen von zwei Knöpfen bedienen. ... Wie bereits bei Libet, so konnte auch hier eine Umgestaltung im Hirn ausgemacht werden, noch bevor die Teilnehmer irgendwelche Aktionen starteten. Allerdings: Um welchen Knopf es jeweils ging, ergab sich aus den ihnen in einem zeitlichen Abstand von 1 bis 1,5 Sekunden dargebotenen geometrischen Figuren, die allesamt eine gewisse Ähnlichkeit aufwiesen. Das wirklich Überraschende war dies: Noch bevor das Team überhaupt die unterschiedlichen Darstellungen präsentierte, konnte schon ein BP ausgemacht werden.() Und was noch weit mehr verblüffte: Ob denn nun der rechte oder doch der andere Knopf zu drücken war, war zu diesem Augenblick für die Beteiligten überhaupt noch nicht abzuschätzen!" (Knaup 2012, S.527)

Das gemessene Bereitschaftspotential ist also viel zu unspezifisch, um irgendetwas darüber auszusagen, was man konkret tun wird. Damit läßt sich aber kein Neurodeterminismus begründen. Die Experimentatoren schlagen vor, die Bereitschaftspotentiale nur als „Richtungsanzeiger“ dafür zu verstehen, „dass eine Person einer Sache mit mehr oder weniger großer Spannung entgegensieht.()“ (Vgl. Knaup 2012, S.527) Anders formuliert: Bereitschaftspotentiale sind funktional für Intentionalität, mehr aber auch nicht. Auch die eingangs genannte temporoparietale Übergangsregion, die für Begeisterung und Mitteilungsdrang zuständig sein soll, legt nicht fest, wofür ich mich begeistere oder was ich wem mitteilen möchte. Außerdem belegen die diesbezüglichen Studien offensichtlich, daß die genannte Region nicht nur für ein bestimmtes Bewußtseinsmoment zuständig ist, sondern gleich für zwei. Also auch hier keine 1:1-Korrelation.

Daß gleiche quantifizierbare und lokalisierbare Gehirnzustände nicht zwangsläufig auch gleiche qualitative Bewußtseinszustände mit sich bringen müssen, veranschaulicht sehr schön das von dem Berliner Philosophen Dominik Perler stammende Gedankenexperiment von der Zwillingserde und dem Zwillingserdenbewohner. In diesem Gedankenexperiment geht es darum, daß trotz gleicher physiologischer Denkvoraussetzungen zwei in Parallelwelten lebende, physisch perfekt aufeinander abgestimmte Zwillinge völlig verschiedene Gedanken denken können, so daß also „der Gehirnzustand den Inhalt unserer Überzeugungen nicht festlegt.“ (Vgl. Knaup 2012, S.297, Fußnote 134)

Marcus Knaup weist noch auf ein weiteres Manko beim Messen und Zuordnen von Gehirnfunktionen und Bewußtseinsqualitäten hin: Neurowissenschaftler können immer nur nach schon festgelegten neuronalen Schaltkreisen und ihren mentalen ‚Korrelaten‘ suchen. Die eigentliche Leistung des Bewußtseins kommt dabei aber gar nicht in den Blick: nämlich die Fähigkeit, etwas zu verstehen, was man bislang noch nicht verstanden hatte, den sogenannten ‚Kairos‘: „Neurowissenschaftlern geht es um das, was jederzeit einer Prüfung offen steht. Um einmalige Kairos-Situationen geht es ihnen nicht.“ (Knaup 2012, S.327)

Der ‚Kairos‘ bildet einen göttlichen Zeitpunkt, der aus dem normalen Leben herausfällt. Bei solchen göttlichen Momenten kann es sich um „Einsichten der Mystiker“ handeln (vgl. Knaup 2012, S.425) oder um Lernerfahrungen oder – wie bei Nishitani, den ich in diesem Zusammenhang einfach immer wieder gerne zitiere – um einen Nieser, der zur Erleuchtung führt. Solche „völlig außerordentliche(n) bewusste(n) Lebenserfahrungen“ begegnen uns in „Laboruntersuchungen“ nicht. (Vgl. ebenda) Sie bilden aber einen wichtigen Aspekt der menschlichen Freiheit, die die Neurodeterministen leugnen.

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