„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Dienstag, 25. September 2012

Hans Blumenberg, Quellen, Ströme, Eisberge, hrsg.v. Ulrich von Bülow und Dorit Krusche, Berlin 2012

1. Bewußtseinsstrom versus Pulsschlag
2. Probleme des Gestaltenwandels
3. Die Einheit des Zeiterlebens
4. Im Strom oder auf dem Ufer
5. Unter der Oberfläche

Der im letzten Post angesprochenen Problematik eines strömend-fließenden, also durchgängig kontinuierlichen Bewußtseins, in dem sich keine einzelnen Bewußtseinsakte ‚ding‘-fest machen lassen, wirkt sich nicht nur auf  die Willensfreiheit aus – und damit auf die Möglichkeit bzw. Unmöglichkeit einer phänomenologischen Ethik (vgl. Blumenberg 2012, S.186). Sie betrifft auch die Frage nach der Möglichkeit einer phänomenologischen Bildungskonzeption: „Da stoßen zwei Bildungskonzeptionen hart aufeinander: die des Strömens und die der Prägung.“ (Vgl. Blumenberg 2012, S.116) – Nach dem, was Blumenberg über die Notwendigkeit sequentierender Mechanismen im Bewußtseinsstrom geschrieben hat, könnte man seinen Hinweis auf die Verschiedenheit von Strömen und Prägung gleich dahingehend ergänzen, daß im ozeanischen Verströmen überhaupt keine Bildungskonzeption greift.

Das wäre dann aber etwas vorschnell. Denn da sind ja noch die Verwirbelungen im Strom (vgl. Blumenberg 2012, S.152, 154f.), die ebenfalls dauerhaftere Aufenthalte für sich ausprägende ‚Typiken‘ ermöglichen. Wenn deshalb Blumenberg an dieser Stelle von zwei verschiedenen „Bildungskonzeptionen“ spricht, so ist damit vorerst vor allem die Differenz zwischen dem Wandel (fließen bzw. strömen) und der Beharrung (Prägung) von Gestalten gemeint. Die „Metaphorik des Strömens“ ist also „auf den subjektiven Aspekt“ und „die der Prägung auf seinen objektiven Aspekt bezogen“. (Vgl. Blumenberg 2012, S.116)

Im oder auf dem Fluß mitfließend muß man sich also Wirbel oder Treibgut denken, die für eine wiedererkennbare „Typik“ sorgen, ohne die es „keine Wesensschau (gäbe), keine Beschreibung des Bewußtseins, keine Wissenschaft von ihm“. (Vgl. Blumenberg 2012, S.116) – Wandel und Beharrung von Gestalten sind aber, anders als Blumenberg schreibt, tatsächlich keine verschiedenen, einander widersprechenden Bildungskonzeptionen. Denn die objektive Dimension der „Prägung“ bzw. Beharrung von Phänomenen in der ihnen eigenen Gestalt ist nicht nur eine isolierbare Eigenschaft von Dingphänomenen der Außenwelt, sondern auch ein stabilisierender Aspekt in der Dynamik des Gestaltwandels von lebenden Organismen wie auch von individuellen Persönlichkeiten. (Vgl. hierzu meinen Post zu Plessners „Stufen des Organischen“ vom 29.10.2010) Gäbe es keine Dialektik zwischen Wandel und Beharrung, zwischen Strömen und Prägung, gäbe es weder auf organischer Ebene Leben noch gäbe es auf personaler Ebene Bildung. Erst ihre Isolierung und Entgegensetzung würde beides unmöglich machen. Das zumindestens kann man von Hegel lernen.

Deshalb bilden ‚Gestalten‘ bzw. ‚Gegenstände‘ – was in diesem metaphorischen Zusammenhang immer auch ‚Widerstände‘ bedeutet – die ‚Pulse‘, die in der unterschiedslosen, alles erfassenden Wahrnehmungskontinuität Inseln der „Aufmerksamkeit“ erzeugen, die sich dann wiederum, als Perspektivität, individualisierend auf die Persönlichkeit auswirken. (Zur Differenz zwischen Wahrnehmung und Aufmerksamkeit vgl. Blumenberg 2012, S.163)

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