„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Dienstag, 11. September 2012

Entwicklungslogiken

1. Helmuth Plessner
2. Günter Dux
3. Burckhardt/Droysen
(Vgl hierzu auch meinen Post vom 21.04.2010)

In diesem Post will ich den begrifflichen Konstrukten, wie wir sie im letzten Post zu Günter Dux kennenlernten, „metaphorische Grenzüberschreitung(en)“ gegenüberstellen, die den „Alltag der Meinungen und Erzählungen, der Nachrichten und Gerüchte, der aufsteigenden und sich niederschlagenden Dünste, des wechselnden atmosphärischen Drucks der Stimmungen“ zum Thema machen. (Vgl. Blumenberg 2012, S.17) Dabei geht es um die im Blumenbergschen Sinne unbegrifflichen Lebensphänomene, die dem „Prozeß der Gegenstandsbildung“ in der Geschichtswissenschaft vorausgehen. (Vgl. ebenda)

Insbesondere zwei Historiker liefern für diese Fragestellung erhellende Metaphern: Jacob Burckhardt (1818-1897) und Johann Gustav Droysen (1808-1884). Alle folgenden Belege stammen aus Blumenbergs „Höhlenausgänge“ (1989) und seinem aus dem Nachlaß herausgegebenen Buch „Quellen, Ströme, Eisberge“ (2012).

Der Basler Professor für Geschichte und Kunstgeschichte Jacob Burckhardt wendet sich vor allem gegen eine geschichtsphilosophische Betrachtungsweise und findet dafür die Metapher vom „Wühlergeist“ des Maulwurfs, um einerseits mit der Unverhersagbarkeit seines Auftauchens aus dem Dunkel des Erdreichs auf die Unmöglichkeit gesetzmäßiger Rekonstruktionen historischer Ereignisse zu verweisen und ineins damit auf die Unmöglichkeit, irgendwelche Zukünfte vorherzusagen. Andererseits steht der Maulwurf aber auch dafür, daß die verschiedenen, von ihm aufgeworfenen Erdhaufen (Dokumente, Zeugnisse) durchaus in einem beschreibbaren, wenn auch nicht erklärbaren Zusammenhang stehen: „Als Wehender wie als Wühlender ist er (der ‚Wühlergeist‘ – DZ), was nicht zur Ruhe kommen läßt; aber das Wühlen ist die Unruhe ohne Richtung, ohne Orientierung, die blinde Bewegung des Maulwurfs, bei der abgewartet werden muß, wo er sich herauswühlt.“ (Blumenberg 1989, S.646)

Diese Unvorhersehbarkeit geschichtlicher Ereignisse hat etwas von der offenen Weite, von der in diesem Blog schon öfter die Rede gewesen ist. Keine Ideologie, keine soziologisch-ökonomische Analyse historischer Ausgangsbedingungen ist in der Lage, den geschichtlichen Verlauf auf eine konstruierbare oder zumindestens erwartbare Zukunft hin zu bestimmen. Am geschichtlichen Geschehen gibt es weder logische noch kausale Strukturen aufzudecken: „Der Wühler argumentiert nicht mit sich, bringt sich nicht zum Bewußtsein. Er ist weder der Treibende noch der Getriebene ...“ (Blumenberg 1989, S.646)

Burckhardt wählt seine Metaphern immer so, daß sie vor allem diese Diskontinuität in den historischen Ereignissen hervorheben. Zwar haben wir es bei den historischen Ereignissen mit Gestalten (Epochen, Stile) und Gestaltwandel zu tun. Aber der Gestaltwandel gleicht eher den Metamorphosen bei Insekten und Reptilien, „weil dabei das gleichsam Unvorbereitete der Neugestalt die teleologischen Unterstellungen vergessen macht, eher das Ästhetische als das Logische im Spiel zu sein scheint.“ (Blumenberg 1989, S.648)

Burckhardts Metaphern bewegen sich mehr im Bereich körperlicher Metamorphosen. Bei diesem Gestaltwandel haben wir es immer noch mit einer klaren Innen-Außen-Grenze der wechselnden Gestalten zu tun, auch wenn die entscheidenden Bewegungen im Verborgen stattfinden. Der lebensweltliche Aspekt wird von diesen Metaphern noch nicht erfaßt. Für eine weiterführende Analogie bedarf es hier des Verweises auf gasförmige Zustände, und die liefert uns der Historiker Johann Gustav Droysen. (Vgl. Blumenberg 2012, S.11-17)

Im Zuge seiner Kritik am geschichtswissenschaftlichen Fachbegriff der „Quelle“ und an der damit verbundenen Dokumentengläubigkeit seiner Fachgenossen – je näher der Historiker an die ‚ur-sprünglichen‘ Quellen herankommt, um so wirklichkeitsgetreuer kann er die historische Realität rekonstruieren – greift Droysen auf den zu diesem Zeitpunkt weitgehend vergessenen metaphorischen Gehalt der ‚Quelle‘ zurück. Auf diese Weise kann er plausibel machen, daß die historischen Quellen zwar ein Erstes der historischen Forschung bilden – hinter sie kann kein Historiker zurück –, daß sie aber keineswegs voraussetzungslos sind. Keine Quelle sprudelt aus sich selbst heraus, sondern aus einem verborgenen „Quellgrund“. (Vgl. Blumenberg 2012, S.13) Dieser Quellgrund wird von einem „wüste(n) Durcheinander der gleichzeitigen Meinungen, Nachrichten, Gerüchte“ gebildet; im Quellgrund sammelt sich „der sich täglich wiederholende atmosphärische Prozeß der aufsteigenden und sich niederschlagenden Dünste“, aus denen dann erst die Quellen zu sprudeln beginnen, deren sich die Historiker bei ihrer Arbeit bedienen. (Vgl. Droysen, „Grundriß der Historik“; zitiert nach Blumenberg 2012, S.13)

Hier haben wir nun genau die Metaphorik, die die Lebenswelt als atmosphärischen Prozeß in den Quellenbegriff mit einbezieht, ohne sie direkt selbst zum Gegenstand der historischen Forschung zu machen. (Vgl. Blumenberg 2012, S.17) Wie sich aber die Lebenswelt in ihrem gasförmigen, ungegenständlichen Zustand zum historischen Gegenstand formt, dafür findet Droysen eine andere, weiterführende Metapher, – die der Sedimentierung: „Es liegt in der Natur der menschlichen Persönlichkeit, daß sie ein Gewebe aus allen Fäden sittlicher Gestaltungen um sich her habe, wie fein oder roh es denn sei. In myriadenhafter Wiederholung bildet diese Tatsache die sich fort und fort anschließende Entwicklung des Menschengeschlechtes. Jeder einzelne hat diese mikrokosmische Welt seiner Persönlichkeit geformt; und wie winzig und gebrechlich diese Welt sein mochte, sie blieb von ihr zurück wie die Schalen der Infusorien, die zusammengeschlemmt, jene großen Kreidelager bilden.“ (Droysen, „Texte zur Geschichtstheorie“; zitiert nach Blumenberg 2012, S.14f.)

Die Lebenswelt ist in diesem Zitat in der nicht mehr gasförmigen Metapher des „Gewebes“ enthalten, das mit seiner gröberen, flächenhaft ausgebreiteten Materie auf die Myriaden von Kleinstlebewesen überleitet, aus deren Ablagerungen sich in „myriadenhafter Wiederholung“ Sedimente bilden, die sich schließlich zu Gebirgen auftürmen. So wird der Historiker zum Geologen, wie Blumenberg anmerkt: „Die Optik des Historikers erscheint der des Geologen am nächsten, der die Sedimente ganzer Erdzeitalter betrachtet, ohne noch an die zahllosen Organismen zu denken, die sie einmal hervorgebracht haben müssen.“ (Blumenberg 2012, S.14)

Von der Quelle, die das sich niederschlagende und versickernde Wasser von Nebeln und Dünsten sammelt, bis hin zu den zahllosen Kleinstlebewesen, in denen Droysen die individuellen Lebensschicksale der Menschheitsgeschichte versinnbildlicht sieht, wird also ein dynamischer Prozeß beschrieben, der keinerlei Teleologie beinhaltet und der seiner Gesetzmäßigkeit nach nicht linear-kausal beschreibbar ist. Seine Entwicklungslogik bildet eine multi-kausale, untergründige Dynamik aus Verdichtungen und Ablagerungen, aus denen als Spuren vergangener Lebenswelten die individuelle Lebensführung nur indirekt erschlossen werden kann.

So kehrt sich die von Günter Dux beschriebene, mit dem biogenetischen Grundgesetz von Haeckel vergleichbare Spiegelung der Phylogenese in der Ontogenese der frühen Kindheit des Menschen um in eine Spiegelung der individuellen Ontogenese, der individuellen Lebensführung, in den geschichtlichen Dokumenten und Zeugnissen der Menschheitsgeschichte: „Die unendliche Arbeit der Individuen schafft allererst das Niveau, auf dem sich die Größe der geschichtlichen Taten und Ereignisse überhaupt der historischen Optik darbietet: Freilich Myriaden leben und sterben, ohne daß ihrer Namen gedacht wird. Aber indem sie ein noch so kleines Gebilde ihres Ich zurücklassen, sind sie mit unter den zahllosen Atomen, die, aufeinander gehäuft, alpenhaft emporsteigen, welche die Spitze und die kühnen Konturen der Höhe bilden sollen.“ (Blumenberg mit Droysenzitat (2012), S.15)

Wir haben es also mit einer wechselseitigen Spiegelung von biologischen, kulturellen und individuellen Entwicklungsprozessen zu tun. Nach den neueren Erkenntnissen der Epigenetik kann man nämlich davon ausgehen, daß sich nicht nur biologische und kulturelle Prozesse auf das individuelle Leben auswirken, sondern daß sich auch die individuelle Lebensführung wiederum auf kulturelle und sogar auf generationsübergreifende biologische Prozesse auswirkt. Dies aber geschieht nicht, wie Günter Dux es darstellt, auf konstruktivistische Weise. Wir haben es vielmehr mit schicksalshaften Prozessen zu tun, deren Komplexität wir nur auf metaphorischer Ebene sichtbar machen können.

In Richtung auf die individuelle Lebensführung bedeutet das, daß wir hier nicht von einer kulturellen Nullage ausgehen können, daß der Mensch vielmehr schon vorgeprägt zur Welt kommt. Das „eigentliche Thema einer Kulturgeschichte“ ist deshalb, wie Blumenberg schreibt, die „Identität der Prägung“. (Vgl. Blumenberg 2012, S.16) Vor diesem Hintergrund ist individuelle Freiheit nur als exzentrische Positionalität beschreibbar, die das Herausfallen aus prägenden Lebenswelten denkbar macht.

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