„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Donnerstag, 4. August 2011

Len Fisher, Schwarmintelligenz. Wie einfache Regeln Großes möglich machen, Frankfurt a.M. 2010 (2009)

1. Schwarmintelligenz als universales und skalenfreies Phänomen
2. Mustererkennung und Gestaltwahrnehmung
3. Mehrheitsentscheidungen und individuelles Urteil
4. Gesellschaftsfähigkeit
5. Bildung und Netzwerk

Nach Fisher kann das Verhalten Einzelner „unverhältnismäßig große Auswirkungen auf die anderen und die Gruppe als Ganze haben“. (Vgl. Fisher 2010, S.18f.) Diese Aussage kann man z.B. auf die heimlichen Anführer in Bienenschwärmen auf der Suche nach einer neuen Nisthöhle beziehen, denen der Schwarm folgt, ohne daß sie in irgendeiner Weise als Anführer in Erscheinung treten. Aber die Rolle des Einzelnen, seine Fähigkeit, sich seines eigenen Verstandes unabhängig von der Meinung der Anderen zu bedienen, ist auch bei Entscheidungsprozessen von Gruppen unverzichtbar (vgl. Fisher 2010, S.81, 86, 91): „Die Meinungsvielfalt ist eine Voraussetzung der Gruppenintelligenz.“ (Fisher 2010, S.81)

Wenn ich schon bei dem Begriff der ‚Schwarmintelligenz‘ wegen des damit verbundenen Intelligenzbegriffs meine Schwierigkeiten hatte (vgl. meinen Post vom 02.08.2011), so vollends bei dem Begriff der „Gruppenintelligenz“. Ich halte es hier entschieden mit Terry Pratchetts Formel, daß die Intelligenz einer Gruppe gleich der Intelligenz des Dümmsten in der Gruppe ist, geteilt durch die Zahl der Gruppenmitglieder. Allerdings muß ich nun einschränkend hinzufügen, daß es sich bei Pratchetts Formel um Gruppen handelt, die die Meinungsvielfalt der Individuen in Richtung auf eine Gruppenmeinung reduzieren. Fisher spricht in diesem Zusammenhang von der „Falle der Gruppendenke“. (Vgl. Fisher 2010, S.20) Wird die Meinungsvielfalt in der Gruppe hingegen respektiert, so kommt es zu einem erstaunlichen Phänomen, daß man tatsächlich kaum anders kann, als von Gruppenintelligenz zu sprechen.

Wenn es darum geht, zu schätzen, wie viele Gummibärchen sich in einem Glas befinden, wird ein Einzelner nur selten und eher zufällig auf die richtige Zahl kommen. (Vgl. Fisher 2010, S.85f.) Wenn aber eine Gruppe von Leuten schätzt, wie viele Gummibärchen sich in dem Glas befinden, so wird der Durchschnitt (oder der Mittelwert, was nicht ganz dasselbe ist) die richtige Zahl immer ziemlich genau treffen. Und das gilt nicht nur für Gummibärchen, sondern für fast alle Probleme und Fragen, auf die wir Antworten zu finden versuchen! Die Mitglieder der Gruppe brauchen noch nicht mal Experten für die entsprechenden Fragen zu sein. Es reicht, wenn sie sich nur ungefähr mit dem Thema auskennen.

Die wichtigste Voraussetzung ist dabei die Unabhängigkeit der einzelnen Mitglieder der Gruppe. Sobald ein Meinungsführer versucht, die anderen zu seiner eigenen Meinung zu überreden, wird die Schätzung falsch! (Vgl. Fisher 2010, S.86) Zwei weitere Voraussetzungen dürfen hier nicht unerwähnt bleiben: auf die gestellte Frage muß es eine „definitive Antwort“ geben, und alle „Angehörigen der Gruppe müssen dieselbe Frage beantworten“ (vgl. Fisher 2010, S.82), d.h. sie müssen die Frage verstanden haben! Wenn diese Voraussetzungen stimmen, „erzielt die Gruppe als Ganze bessere Ergebnisse als die Mehrheit ihrer Mitglieder“. (Vgl. Fisher 2010, S.82)

So erfreulich diese Aufwertung der individuellen Meinung und damit der Urteilskraft ist, führt das nun aber zu einem paradoxen Effekt. Wenn eine Entscheidung getroffen werden soll, egal ob es dabei um die Zahl von Gummibärchen geht oder welche Partei bei einer demokratischen Wahl die richtigen Antworten auf die richtigen Probleme hat, darf in der Gruppe nicht darüber diskutiert werden, wie abgestimmt werden soll. Diskussionen sind, wenn es um die Gruppenintelligenz geht, kontraproduktiv! Das hat etwas mit Condorcets Jury-Theorem zu tun. (Vgl. Fisher 2010, S.92f.) Damit die zwölf Geschworenen in einem Prozeß die richtige Antwort finden, ob der Angeklagte schuldig ist oder nicht, darf diese Entscheidung nicht einstimmig ausfallen, weil sie dann nämlich mit großer Wahrscheinlichkeit falsch ist! Einstimmigkeit setzt immer „Gruppenzwang“ (Fisher 2010, S.93), also Gruppendenke voraus.

Wahrscheinlich kann man dieses Problem nur so lösen, daß man Diskussion und Entscheidung zeitlich und räumlich trennt, wie das z.B. bei demokratischen Wahlen der Fall ist. Es gibt einen Wahlkampf, in der die Parteien mit allen manipulativen Mitteln versuchen, die Meinung der Wähler zu beeinflussen. Am Tag der Wahl aber darf es keinen Wahlkampf mehr geben, und jeder Wähler hat es alleine für sich in seiner Wahlkabine zu entscheiden, wo er sein Kreuzchen macht.

Diskussionen haben vor allem immer dort ihre Berechtigung, wo es darum geht, Meinungen zu klären und Vorurteile abzubauen. (Vgl. Fisher 2010, S.93) Dabei spielen dann auch wieder Experten eine wichtige Rolle. Denn wie Fisher festhält: „Die Gruppe ist mit ihren Schätzungen nur besser als die Mehrzahl ihrer Angehörigen. Sie ist nicht unbedingt besser als alle.“ (Fisher 2010, S.88) – Experten können also den Gruppenmitgliedern helfen, sich über ihre eigenen Meinungen aufzuklären. Das wird niemals zu einer Reduktion der Meinungsvielfalt führen, weil diese von ganz anderen Dingen abhängt als von der Dummheit der Gruppenmitglieder. Sprich: wenn die Gruppenmitglieder in der Diskussion dazulernen, also durch die Diskussion klüger werden, ist das Ergebnis bestimmt nicht, daß jetzt alle plötzlich einer Meinung sind. Wäre das der Fall, hätten wir es eher mit „Gruppendenke“ zu tun.

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