„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Sonntag, 17. Juli 2016

Hans Markus Heimann, Deutschland als multireligiöser Staat. Eine Herausforderung, Frankfurt a.M. 2016

(S. Fischer Verlag, gebunden, 249 S., 22,99 €)

1. Zusammenfassung
2. Schulaufsicht und Erziehungsauftrag
3. Staatliche Neutralität und Lebenswelt
4. ‚Blasphemie‘ und öffentlicher Friede

Zur weltanschaulichen und religiösen Neutralitätspflicht des Staates gehört, daß der deutsche Staat anders als beim Laizismus in Frankreich den Religionsgemeinschaften gegenüber keine eigene, wertegebundene Position einnehmen darf, die über die im Grundgesetz aufgeführten Grundwerte hinausgeht. Solche Grundwerte sind Heimann zufolge die „Achtung der Menschenwürde, Gerechtigkeit, Gewaltlosigkeit, Achtung vor dem Leben, Achtung vor dem Gesetz, Achtung vor der Mehrheitsentscheidung oder Rücksicht auf Minderheiten“. (Vgl. Heimann 2016, S.171)

Dabei erscheint es mir aber als problematisch, auf der Ebene des Grundgesetzes pauschal von ‚Werten‘ zu sprechen. Auch Heimann selbst verwendet vorsichtshalber Anführungsstriche, wenn er von der „‚Werteordnung‘ des Grundgesetzes“ spricht. (Vgl. Heimann 2016, S.40) Zumindestens bei einigen von ihnen – abgesehen von der Achtung der Menschenwürde und des Lebens und auch abgesehen von der Gewaltlosigkeit – handelt es sich eher um formale Prinzipien, bei deren Anwendung es allererst auf eine Klärung hinsichtlich der Werte ankommt, um die es im Rahmen dieser Prinzipien gehen soll. Die Achtung vor dem Gesetz abstrahiert von den Inhalten, um die es dabei geht, und deshalb ist diese Achtung sicher immer auch mit einem Abwägungsprozeß verbunden, wie weit sie gehen kann, ohne z.B. das Grundrecht der Achtung auf Menschenwürde zu beschädigen. Das Gleiche gilt für Mehrheitsentscheidungen, bei denen ebenfalls noch gar nicht von irgendwelchen konkreten Werten und Interessen die Rede ist. Auch Minderheiten sind nicht einfach nur Minderheiten, sondern vertreten wiederum unterschiedliche Werte und Interessen, wobei sie sogar im Rahmen der Weltanschauungs- und Religionsfreiheit das Recht auf eine eigene „grundgesetzwidrige Vorstellung der Welt“ haben, solange sie diese Vorstellung nicht in konkretes, das Grundgesetz gefährdendes Handeln umsetzen (vgl. Heimann 2016, S.43) bzw. solange sie sich dabei im privaten Raum innerhalb der Grenzen ihrer Weltanschauungs- und Religionsgemeinschaft bewegen und dort außerdem keine Attentate auf die Grundrechte anderer vorbereiten (vgl. Heimann 2016, S.107, 171). Nicht zuletzt der Begriff der Gerechtigkeit kann auf die verschiedensten Wertvorstellungen bezogen werden und bezeichnet letztlich nichts anderes als den allen Menschen gleichermaßen zustehenden Zugriff auf die Ressourcen des Lebens und der Gesellschaft, die dann wiederum hinsichtlich ihrer Werthaltigkeit sehr unterschiedlich interpretiert werden können.

Der dem Staat vom Grundgesetz auferlegte Schutz der freiheitlich-demokratischen Grundordnung (vgl. Heimann 2016, S.39f.) bezieht sich nicht auf irgendwelche konkreten Werte und Interessen, sondern auf solche formalen Prinzipien, die die gesellschaftliche und individuelle Ausprägung konkreter, gewissens- und religionsbasierter Überzeugungen – ohne zu den Mitteln der Gewalt zu greifen – überhaupt erst ermöglichen. Dabei ist es dem Staat noch nicht einmal erlaubt, zu definieren, was eine Religionsgemeinschaft ist; zumindestens nicht inhaltlich. Zur Unterscheidung zwischen Weltanschauung und Religion bleibt ihm nur der Transzendenzbezug einer Religionsgemeinschaft, wobei der Begriff der Transzendenz wiederum weitere begriffliche Schwierigkeiten mit sich bringt. (Vgl. Heimann 2016, S.55)

Diese gleichermaßen grundsätzliche wie grundgesetzlich geforderte Neutralitätspflicht des Staates gegenüber den wertbezogenen Überzeugungen seiner Bürger bringt nun gerade in dem Bereich der staatlichen Schulaufsicht gemäß dem Art.7 Abs.1 GG besondere Schwierigkeiten mit sich, zumal diese Schulaufsicht in Abs.3 desselben Artikels mit einem von den verschiedenen Religionsgemeinschaften getragenen Religionsunterricht verknüpft ist, der wiederum als Bestandteil der durch das Grundgesetz garantierten Religionsfreiheit gedeutet wird. Gleich in zweifacher Hinsicht wird hier die Wertneutralität des Staates auf die Probe gestellt. Zum einen wird die Schulaufsicht des Staates durch einen Bildungsauftrag ergänzt: der Staat soll gewährleisten, daß „alle() jungen Bürger() gemäß ihren Fähigkeiten“ Zugang zu den „dem heutigen gesellschaftlichen Leben entsprechenden Bildungsmöglichkeiten“ erhalten. (Vgl. Heimann 2016, S.187f.) Zu diesem Bildungsauftrag gehört auch die staatliche Verantwortung für das „inhaltliche und didaktische Programm der Lernvorgänge sowie das Setzen der Lernziele“. (Vgl. Heimann 2016, S.188)

Da in Deutschland die staatliche Schulaufsicht mit einer staatlichen Schulpflicht verknüpft ist, greift der Staat hier tief in die Grundrechte von Eltern und Schülern ein, und zugleich gerät er über die Festlegung von Lern- und Bildungszielen in Konflikt mit seiner eigenen Neutralitätsverpflichtung. Das wird konkret an der landläufigen Vorstellung deutlich, daß neben der fachlichen Bildung eine der Hauptaufgaben der Schule in der ‚Wertevermittlung‘ bestehe.

Zum anderen droht ein weiterer Konflikt mit der staatlichen Neutralitätsverpflichtung an der Stelle, wo dem Staat vom Grundgesetz die Förderung von Religionsgemeinschaften – „als spezielle Ausprägung der Religionsfreiheit“ (Heimann 2016, S.199) – in Form von bekenntnisorientiertem Religionsunterricht auferlegt wird. Vielfach zieht man sich damit aus der Affäre, daß man den Religionsunterricht gemeinhin damit begründet, daß ja der bekenntnisorientierte Religionsunterricht genau die Lücke ausfüllen könnte, die der Staat aufgrund seiner Neutralitätsverpflichtung offen lassen muß. Der bekenntnisorientierte Religionsunterricht erscheint „ein(em) größere(n) Teil der Bevölkerung“, so Heimann, „als sehr geeignet zur moralischen Auffüllung eines ‚Freiheitsvakuums‘“. (Vgl. Heimann 2016, S.173f.) Auch in der neueren Philosophiegeschichte wird so argumentiert. So hat z.B. Jürgen Habermas, der eine atheistische Weltsicht vertritt, inzwischen der Religion eine gesellschaftliche Notwendigkeit zugebilligt, jene lebensweltlichen Sinnressourcen sicherzustellen, vor derem Hintergrund ein öffentlicher Diskurs erst möglich wird.

Heimann hält einer vergleichbaren Begründung des Religionsunterrichts entgegen, daß sie der Intention des Grundgesetzes widerspricht. Der Staat würde sich, so Heimann, über die grundgesetzlich geforderte Förderung des Religionsunterrichts hinwegsetzen und die Religionsgemeinschaften in seinen staatlichen Dienst nehmen. (Vgl. Heimann 2016, S.199) Es handelt sich dabei gewissermaßen um eine neuer Art von Staatskirchentum, was der strikten Trennung vom Staat und Kirche widerspricht. (Vgl. Heimann 2016, S.176f.) Heimann hält in aller wünschenswerten Deutlichkeit fest: „Derartiges kommt dem Staat nicht zu, wie überhaupt einer Instrumentalisierung von Religion im Dienst der Moral und von Moral im Dienst der Staatserhaltung mit Vorsicht begegnet werden sollte.“ (Heimann 2016, S.174)

Alle diese Mißdeutungen des Grundgesetzes als ‚Werteordnung‘ gehen auf den problematischen Begriff der Wertevermittlung zurück. Die staatliche Neutralitätsverpflichtung bedeutet eben zuallererst, daß es bei der Erfüllung des Bildungsauftrags eben nicht um die Vermittlung von Werten gehen kann. Heimann weist völlig zu Recht darauf hin, daß auch aus „pädagogischer Sicht“ „Zweifel an der Wirksamkeit ‚normativer Didaktik‘“ bestehen. (Vgl. Heimann 2016, S.171; vgl. auch S.169) Alles was die Pädagogik leisten kann und alles was der Staat im Rahmen seiner Schulaufsicht leisten darf, besteht in der Vermittlung und Übung von Fähigkeiten und Kompetenzen im Rahmen einer Werturteilsbildung! (Vgl. Heimann 2016, S.172) Es geht darum, die Schüler zu einer inneren Distanz gegenüber ihren eigenen Werthaltungen und Wertüberzeugungen zu befähigen, und nicht um Wertevermittlung. Dem Staat und der Gesellschaft in ihrem Verhältnis zum Staat bleibt Heimann zufolge nichts anderes übrig als darauf zu vertrauen, daß „die Normierungen des Grundgesetzes für das staatliche Handeln und die kritische Reflexion von Moralsystemen im Ethikunterricht“ ausreichen, „um den für eine Gesellschaft in dieser Hinsicht notwendigen Fundamentalkonsens zu erreichen“. (Vgl. Heimann 2016, S.175)

Das alles hat entsprechende Auswirkungen auf die Aufgabenverteilung zwischen dem Ethikunterricht und dem Religionsunterricht. Unter dem Anspruch der „Wertevermittlung“ werden im öffentlichen Diskurs beide Unterrichtsfächer in einem Konkurrenzverhältnis zueinander gesehen. (Vgl. Heimann 2016, S.168f.) Aber hier ist es vor allem der Religionsunterricht, der tatsächlich aufgrund seiner Bekenntnisorientierung konkrete Werte vermittelt, und zwar eben nicht im staatlichen oder gesellschaftlichen Auftrag, sondern aus eigenem, den Religionsgemeinschaften vom Grundgesetz zugebilligtem Recht! Die einzige Grenze, die der Staat dem Religionsunterricht hier ziehen darf, besteht in der „Achtung“ und dem „Schutz der Menschenwürde als des tragenden Konstruktionsprinzips und obersten Grundwerts der freiheitlichen, demokratisch verfassten Grundordnung“. (Vgl. Heimann 2016, S.192)

Diese Grenze darf der Staat den jeweiligen Religionsgemeinschaften aber nur ziehen, solange sie in seinen öffentlichen Einrichtungen tätig sind. In ihrem eigenen privaten Bereich sind die Religionsgemeinschaften, wie schon erwähnt, frei, vom Grundgesetz abweichende Vorstellungen zu verwirklichen, solange sie dabei nicht die Grundrechte anderer verletzen.

Der Ethikunterricht – der kein Religionsersatzunterricht ist – darf hingegen überhaupt keine Werte vermitteln. (Vgl. Heimann 2016, S.176) Natürlich dürfen und müssen Werte thematisiert werden. Sie dürfen nur nicht vermittelt werden. Es bleibt den Schülern und ihrer Urteilskompetenz, die ja durch den Ethikunterricht gefördert und geübt werden soll, überlassen, an welchen Werten sie sich orientieren wollen:
„Im Ethikunterricht zeigt sich staatliche Neutralität also nicht durch das Ignorieren weltanschaulicher und religiöser Fragen, sondern im Verbot der Identifikation. Der Unterricht muss nicht weltanschauungsfrei, sondern weltanschauungsneutral sein. Daher ist die Vermittlung ethischer Vorstellungen und Grundsätze in ihrer pluralistischen Vielfalt ebenso wie die Förderung des Zugangs zu den dafür maßgeblichen philosophischen und religionskundlichen Fragestellungen rechtlich erlaubt.“ (Heimann 2016, S.170)
Heimann schlägt deshalb vor, den Ethikunterricht nicht in Konkurrenz zum Religionsunterricht, sondern als „Teildisziplin der Philosophie“ zu verstehen. (Vgl. Heimann 2016, S.172) Dabei stellt er eine besondere Herausforderung für die Lehrerpersönlichkeit dar:
„Selbstverständlich stellt ein solcher wertneutraler Ethikunterricht hohe Anforderungen an die intellektuelle Redlichkeit der Lehrer, die Gefahr des Umschlagens in einen weltanschaulichen Unterricht ist stets präsent.“ (Heiman 2016, S.172)
Damit kommt Heimann auf eine weitere Problematik zu sprechen, die mit der staatlichen Schulaufsicht verbunden ist. Im Rahmen dieser Schulaufsicht haben wir es mit verschiedenen Grundrechtsträgern zu tun, deren Grundrechte gleichzeitig geschützt und gegeneinander abgewogen werden müssen. Zu diesen Grundrechtsträgern gehören neben den Eltern zuallererst die Schüler und die Lehrer. Aufgrund der Schulpflicht, die die Schüler zum Schulbesuch zwingt, sind sie im besonderen Maße vor Beeinträchtigungen ihrer Grundrechte zu schützen. Das zeigt sich nirgendwo so deutlich wie beim Umgang mit religiösen Symbolen. So sind die Schüler selbstverständlich im Rahmen der Religions- und Gewissensfreiheit berechtigt, ihre Überzeugungen öffentlich zu dokumentieren. Wie aber sieht es mit den diesbezüglichen Rechten der Lehrerinnen und Lehrer aus?

Heimann diskutiert detailliert, wie weit die Lehrer als Grundrechtsträger ihre eigenen Überzeugungen vertreten dürfen, und er geht dabei insbesondere auf das Kreuz und auf das Kopftuch ein. Im Falle des Kreuzes unterscheidet das Bundesverfassungsgericht zwischen dem Kreuz an der Wand eines Unterrichtsraums und dem Kreuz als Bestandteil der Kleidung einer Lehrkraft. (Vgl. Heimann 2016, S.92, 99f., 103) Das Kreuz an der Wand stellt einen unberechtigten Eingriff in die Grundrechte der Schüler dar, das Kreuz an der Kleidung einer Lehrkraft bzw. das Kopftuch hingegen nicht. Was das Kopftuch betrifft, geht Heimann sogar so weit, an dieser Stelle auch die Burka und den Niqab miteinzubeziehen. (Vgl. Heimann 2016, S.107) Diese Formen der Verschleierung seien nur in einem pädagogischen Sinne bedenklich, insofern sie die Kommunikation zwischen Schülern und Lehrern beeinträchtigen. Das sei aber beim Kopftuch gerade nicht der Fall, weshalb ein Kopftuchverbot grundgesetzlich nicht gerechtfertigt werden kann. Es komme bei der Berufsausübung einer Lehrerin nicht auf die Bekleidung an, sondern auf deren Verhalten:
„Für die staatliche Neutralität ist nicht von Belang, dass die Religion oder Weltanschauung einer Beschäftigten bekannt ist oder deutlich wird, sondern dass sich der Beschäftigte im Dienst neutral verhält.“ (Heimann 2016, S.104)
Als das Bundesverfassungsgericht erstmals 1995 entschied, daß das Kreuz in staatlichen Schulräumen nichts zu suchen habe, hatte Bayern noch im gleichen Jahr den entsprechenden Artikel seiner Landesverfassung modifiziert. (Vgl. Heimann 2016, S.91ff.) Darin heißt es jetzt, daß der jeweilige Schulleiter im Konfliktfalle für einen Interessensausgleich zwischen Befürwortern und Gegnern des Kreuzes zu sorgen habe, wobei er die Mehrheitsentscheidung der Betroffenen berücksichtigen müsse. (Vgl. Heimann 2016, S.93f.) Heimann zufolge ist auch der modifizierte Landesverfassungsartikel immer noch grundgesetzwidrig:
„Insbesondere wird verkannt, dass grundrechtlicher Schutz nicht Gegenstand einer Mehrheitsentscheidung sein kann, zumal der Staat sich nicht mit dem Willen einer Mehrheit als Begründung seiner verfassungsrechtlich gebotenen Verpflichtung zur Neutralität entziehen kann.“ (Heimann 2016, S.94)
Anscheinend hat sich bislang aber kein Kläger gegen diesen Artikel gefunden. Und wo (bislang) kein Kläger, da (bislang) auch kein Urteil.

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