„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Montag, 9. September 2013

Pädagogische Kasuistik

1. Methode
2. Ebenen wissenschaftlichen Denkens und Handelns
3. Günther Buck
4. Fallbeispiele

Klaus Holzkamps grundsätzliche Kritik des Induktionsprinzips ist an der Vorstellung einer regelgeleiten Erfahrung (Vorrang des Allgemeingültigen) und eines regelgeleiteten Lernens orientiert. Diese zunächst wissenschaftstheoretisch begründete und in diesem Sinne berechtigte Voreingenommenheit für die Theorie verstellt aber den Blick auf grundlegende Momente des Erfahrungs- und Lernphänomens, wie sie Günther Buck in seinem Buch „Lernen und Erfahrung“ (3/1989) beschreibt.

Günther Buck setzt genau dort an, wo Holzkamp die Grenze seiner wissenschaftstheoretischen Bemühungen sieht: bei der Frage nach dem Anfang und ersten Grund des Wissens, also bei der heuristischen Frage, woher die Ideen kommen, die unseren Theorien zugrundeliegen, nach denen wir die Realität experimentell modellieren. Und in genau diesem Sinne versteht er ‚Induktion‘, nämlich als die lateinische Version des griechischen ‚epagoge‘ (έπαγωγή), das Buck mit „Hinführung“ übersetzt. (Vgl. Buck 3/1989, S.97ff.)

Gemeint ist die Hinführung gleichermaßen zu einem Früheren, nämlich zu einem Vorverständnis hinsichtlich des noch Unbekannten, wie auch zu einem Späteren bzw. Neuen, das wir noch nicht verstanden haben. Es geht also um eine Hinführung zu einem schon Verstandenen und zu einem noch nicht Verstandenen. Beides bezeichnet Buck als Induktion bzw. als epagoge. Und das Medium, das diese ‚Induktion‘, wie wir es im folgenden nennen wollen, ermöglicht, ist Buck zufolge das Beispiel, als „Anfang und erster Grund, von dem aus Wissen und Überzeugung (πιστις) zustande kommen.“ (Vgl. Buck 3/1989, S.97)

In diesem Sinne erfüllt das Beispiel vor allem zwei Funktionen, eine praktische bzw. pragmatische, also der Verständigung dienende Funktion und eine heuristische, dem Finden neuer Ideen dienende Funktion. Am Anfang sowohl der pragmatischen wie der heuristischen Funktion stehen also weder etwas Allgemeines noch etwas Besonderes und ihr jeweiliger induktiver oder deduktiver Ableitungszusammenhang, sondern etwas Konkretes und Individuelles, von dem her wir auf etwas kommen: bei dem, wie Buck sich ausdrückt, etwas ‚beiherspielt‘ (vgl. Buck 3/1989, , S.161), also eben das Beispiel.

Wie funktioniert also das Beispiel? Es funktioniert, so Günther Buck, vor allem analogisch. ‚Analogisch‘ meint hier allererst: es funktioniert nicht aufgrund einer Regel, die uns von einem Fall bzw. Beispiel zu einem anderen Fall bzw. Beispiel führt oder die uns von einem konkreten Fall zu einer allgemeinen Einsicht führt. Solche Regeln können zwar nachträglich rekonstruiert werden: aber der Sprung vom einen Zustand zu einem anderen Zustand geschieht regellos. Die übliche Reaktion auf eine Beispielerzählung ist dann auch, daß dem Zuhörer ein anderes, dazu passendes Beispiel einfällt, wodurch er dann auch gleichzeitig signalisiert, daß er verstanden hat. Diese Ebene des Verstehens ist fundamental für das Verstehen von Beispielen: Wir verstehen nicht aufgrund einer expliziten Regel, sondern aufgrund des Auffindens neuer, zum ersteren passender Beispiele!

Jürgen Henningsen hält in seinem Aufsatz „Kasuistik: Beispielerzählen in der Streitsituation“ (1982) fest, daß diese Art, sich gegenseitig Geschichten zu erzählen, die normale Umgangsweise unter pädagogischen Praktikern ist. Indem sich z.B. Lehrer gegenseitig über Vorkommnisse in ihren Unterrichtsstunden informieren, lernen sie dazu: sie üben sich in einem genaueren Blick für pädagogische Situationen und den Umgang mit ihnen.

Neben dem Nutzen für die Pragmatik profitiert die Heuristik von der analogischen Struktur von Beispielen. Da sich Beispiele nicht auf eine Regel zurückführen lassen, sind sie an den Rändern ‚unscharf‘, d.h. sie sind vieldeutig und vielfach anwendbar und interpretierbar. Der „Gang von Beispiel zu Beispiel“ bzw. von „Analogie zu Analogie“, wie Günther Buck sich ausdrückt – Jürgen Henningsen spricht vom „Hüpfen“ von „Verwendungsbeispiel zu Verwendungsbeispiel“ (Henningsen 1982, S.212f.) –, ermöglicht es dem Forscher, auf neue Ideen zu kommen.

In diesem Sinne funktionieren Beispiele nicht anders als die natürliche Sprache. Die natürliche Sprache funktioniert nur deshalb als Verständigungsmedium, weil sie nicht eindeutig festgelegt ist, – weil die Wörter einer Sprache nicht eindeutig definiert sind wie wissenschaftliche Begriffe. Beispiele wecken im Forscher Assoziationen, Erwartungen, Horizonte, Ahnungen, von denen aus er dann zu neuen Begriffen gelangen kann. Und auch die wissenschaftlichen Begriffe selbst funktionieren nicht ohne den Hintergrund einer natürlichen Sprache.

Der innovative, heuristische Charakter interdisziplinärer Forschung ist allgemein unbestritten. Auch zwischen den Wissenschaftsdisziplinen haben wir es letztlich nicht mit logischen, sondern mit analogischen Beziehungen zu tun. Problematisch wird die interdisziplinäre Vorgehensweise deshalb immer dann, wenn wir anders als bei Beispielerzählungen, wo wir um deren pragmatische Dynamik sehr wohl wissen und deshalb der wissenschaftliche Status disziplinärer Begriffsbildung nicht gefährdet ist, mit den interdisziplinären Begriffsbildungsprozessen ungeachtet ihrer analogischen Struktur unmittelbar einen wissenschaftlichen Anspruch erheben und sie keinem disziplinären Eignungstest mehr unterziehen.  Die disziplinäre Tauglichkeit interdisziplinär ausgetauschter Begrifflichkeiten bleibt immer problematisch.

Mit diesem Problem haben wir es insbesondere in der Pädagogik schon seit Johann Friedrich Herbarts Zeiten zu tun, der nicht umsonst schon vor 200 Jahren das Fehlen ‚einheimischer‘ pädagogischer Begriffe beklagt hatte.

Bezogen auf die didaktische und heuristische Funktion von Beispielen spricht Buck nun von epagogischen und von apagogischen Analogien. Epagogische Analogien sind ursprüngliche Induktionen, mit deren Hilfe wir von Beispielen auf andere Beispiele kommen. Hierzu bedarf es ausschließlich der Beispielerzählung. Der Versuch einer kommentierenden Erläuterung von seiten des Erzählers zeigt im Grunde schon, daß die Beispielerzählung nicht funktioniert hat: den Zuhörern ist dazu nichts eingefallen! Die epagogische Analogie dient gleichermaßen der Lehre wie der Grundlagenforschung.

Darüberhinaus nennt Buck noch die apagogischen Analogien, die er auch im Unterschied zur ursprünglichen In-Duktion als Ab-Duktionen bezeichnet. Gemeint sind veranschaulichende Induktionen, wie z.B. Allegorien oder auch Graphiken. Sie funktionieren nicht von sich aus! Sie bedürfen der Kommentierung bzw. der Erläuterung. Eine Allegorisierung der Gerechtigkeit als blinder Frau mit Schwert und Waage bedarf der zusätzlichen Erläuterung, um den nicht Eingeweihten die Allegorie verstehen zu lassen.

Um noch einmal den Unterschied zwischen Günther Buck und Klaus Holzkamp zu zeigen, verwende ich deshalb selbst noch einnmal zwei Graphiken, in denen es um deren unterschiedliche Lernbegriffe geht. Diese Graphiken sollen selbst wiederum als Beispiele für eine Mischform aus Epagogik und Apagogik dienen: epagogisch bzw. induktiv funktioniert der Verweis auf den Motorschaden. Er soll dazu motivieren, sich an eigene Erfahrungen mit Motorschäden, aber auch an problematische pädagogische Situationen und letztlich überhaupt an Situationen zu erinnern, in denen es in Form eines Aha-Erlebnisses gelungen ist, ein Problem zu lösen. Dies bedarf keiner weiteren Erläuterung.


In der den Graphiken zugrundeliegenden Beispielgeschichte geht es um einen gerissenen Keilriemen und die Gefahr eines in der Folge auftretenden Motorschadens. Die Frage ist, wie die Kühlung des Motors sichergestellt werden kann. Das Beispiel mit dem Keilriemen dient selbst als Erläuterung der dazugehörigen Graphik, die nur apagogisch bzw. abduktiv funktioniert. Ohne diese Verbindung mit der Beispielgeschichte – und sicher auch ohne meine gleichzeitigen Erläuterungen dazu –, bliebe die Graphik unverständlich. Dennoch kann sie die von mir behandelte Problematik veranschaulichen.

Bei Buck (Abb. I) geht es nun darum, daß wir vom gerissenen Keilriemen zum Nylonstrumpfersatz nicht aufgrund theoretischen Nachdenkens kommen, sondern aufgrund einer sprunghaften Verbindung zwischen dem aktuellen Problem und nicht aktuellem Hintergrundwissen, zu dem eben auch Nylonstrümpfe gehören. Durch unsere Problemlösung wird nicht etwa unser Wissen über Motoren erweitert – daran, daß Motoren der Kühlung bedürfen, ändert sich durch unsere Entdeckung, daß man auch Nylonstrümpfe nehmen kann, gar nichts –, sondern wir haben uns lediglich im Reparieren von Motorschäden geübt.

Diese praktische Übung im Problemlösen vermehrt unsere Kompetenzen, nicht aber unser Wissen! Ein Nachweis für das Vorhandensein dieser Kompetenzen besteht nicht darin, daß wir ein Prinzip für die originelle Reparatur des Motors benennen können, sondern daß wir aufgrund der neugewonnenen Flexibilität im Umgang mit Problemen mit künftigen Motorschäden besser umgehen können.

Ganz anders Holzkamp (Abb. II): Zwar ist bei ihm wie bei Buck von einem qualitativen Lernsprung die Rede. Außerdem hat der authentische Bericht über so einen qualitativen Lernsprung motivierende Wirkung auf andere Menschen, die, so Holzkamp, ihre eigenen Lernerfahrungen damit vergleichen können und dadurch in die Lage versetzt werden, gleichermaßen die Plausibilität des gehörten Berichts zu beurteilen wie auch daran ihre bisherigen Erfahrungen eventuell neu einzuschätzen. Holzkamp nennt das die „Selbstsubsumtion“ eigener Erfahrung unter den dargestellten Fall. (Vgl. „Lernen“ (1995), S.440) So werden die Zuhörer zu Mitforschern, an deren Urteil sich die Realitätshaltigkeit des berichteten Falles erweist.

Dennoch haben wir es nach Holzkamp bei diesem qualitativen Lernsprung nicht mit einer induktiven, sondern primär theoretischen Lernleistung zu tun. In dem Moment, wo unsere bisherigen Lernprinzipien versagen, suchen wir nach einem neuen Lernprinzip, das uns eventuell weiterhilft. Dies geschieht zwar auch durch einen Sprung, wie bei der Analogie, aber dieser Sprung bringt uns auf eine neue Ebene des Wissens, und damit haben wir es mit einem Wissensfortschritt zu tun.

Im Buckschen Sinn funktioniert die Analogie also eher pragmatisch und didaktisch. Die Holzkampsche Sicht verdeutlicht eher die heuristische Funktion von Beispielgeschichten, die uns auf neue Prinzipien bzw. Ideen bringen. Beide Sichtweisen widersprechen sich nicht, sondern ergänzen einander, wie ja auch Günther Buck immer wieder auf beide Funktionsweisen der analogischen Struktur von Beispielen verweist.

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