Michel Foucault: Sexualität und Wahrheit (4 Bde.):
Der Wille zur Wahrheit (1976/83; SuW 1)
Der Gebrauch der Lüste (1984/86; SuW 2)
Die Sorge um sich (1984/86; SuW 3)
Die Geständnisse des Fleisches (2018/19; SuW 4)
5. frühes Christentum
‒ Diätetik
‒ Unwillkürlichkeit und Willkür
‒ Ehe und Zweiheit
‒ Erkenntnis
‒ Jungfräulichkeit
Im vorangegangenen Exkurs ging es um die Problematik eines ,angemessenen Wollens‛, das Seneca zufolge in seiner ,Unbedingtheit‛ besteht, was heißen soll, daß wir immer nur eine Sache wollen sollen und nicht mehrere Dinge gleichzeitig. Diesen Exkurs habe ich als Überleitung zum Thema des heutigen Blogposts eingefügt, weil es hier um eine, wie mir scheint, heillos verworrene Begrifflichkeit geht; nämlich um die Frage, wann wir eigentlich wollen und wann nicht. Um diese Frage zu klären, versuchen sich die frühchristlichen Kirchenväter bezeichnenderweise an einer Verhältnisbestimmung von Unwillkürlichkeit und Willkür.
Ich weiß nicht, wie die französische Sprache mit diesem seltsamen Phänomenbereich umgeht. Im Deutschen bleibt es jedenfalls nicht aus, daß man sich fragt, was denn eigentlich der Unterschied zwischen Unwillkürlichkeit und Willkür ist? Was die Worte selbst betrifft, also unabhängig von ihrem Gebrauch, ist der Sachverhalt eigentlich klar. Willkür ist der Wille. Das steckt schon im ersten Bestandteil des Wortes. Aber auch der zweite Bestandteil, die ,Kür‛, ist eigentlich nicht mißzuverstehen. Die Kür ist die Wahl, wie etwa beim Sport, wenn der Pflichtteil absolviert ist und nun der Teil folgt, den sich Sportlerin oder Sportler ausgesucht hat.
Was den täglichen Gebrauch des Wortes betrifft, sieht die Sache schon ganz anders aus. Da sieht man auf den ersten Blick keinen Unterschied zwischen Unwillkürlichkeit und Willkür. Willkürlich handelt jemand, der offensichtlich grundlos und launenhaft handelt. Dessen Wille nicht berechenbar ist. Willkürlich handeln bedeutet also im täglichen Sprachgebrauch, unwillkürlich zu handeln. Entsprechend verwirrend sind die Stellungnahmen der frühchristlichen Kirchenväter zum Unterschied zwischen Unwillkürlichkeit und Willkür.
Die christliche Sexualmoral geht von einem Willen aus, der nicht einmal mit der „unschuldigste(n) Regung des Fleisches“ etwas zu tun hat. (Vgl. SuW 4, S.321) Das beinhaltet die paradoxe Vorstellung, daß die „Regungen des Körpers“ deshalb nichts mit dem Willen zu tun haben, weil sie „unwillkürlich“ seien. (Vgl. ebenda) Als könnte es einen frei schwebenden, körperlosen Willen geben. Und als könnte es einen Willen geben, der keinen Anlaß für sein Wollen bräuchte. Seneca nennt einen solchen Willen, wie wir gesehen haben, ,unbedingt‛, meint damit aber nicht einen anlaßlosen Willen, sondern einen Willen, der nicht mehrere Dinge gleichzeitig will.
Ist nicht der Wille selbst in gewisser Weise ,unwillkürlich‛, insofern man üblicherweise davon ausgeht, daß er keine Ursache im Sinne eines Kausalverhältnisses hat? Hätte er eine Ursache, wäre er kein Wille mehr, sondern nur eine Folge. Ist der Wille aber keine bloße Folge einer Ursache, ist er natürlich ,willkürlich‛. Wie sollte man den Willensakt, der die Wahl hat und eine Entscheidung trifft, sonst bezeichnen? Das ist alles ziemlich verworren.
Der christliche Denkfehler ‒ In welchem Verhältnis stehen also Unwillkürlichkeit und Willkür? Ich glaube, es ist die Komplexität der Motive, die einem Willensakt vorausgehen und es schwierig machen, die Handlung eines Menschen auf ein einzelnes Motiv und damit auf einen Willen zurückzuführen. Der Abt und Schriftsteller Cassian (360-435) spricht deshalb zurecht von der „Verwicklung des Willens“ und zählt sechs verschiedene Stufen dieser Verwicklung auf. In Foucaults Worten:
„Die sechs Grade des Aufstiegs zur Keuschheit sind ... sechs Stufen in einem Prozess, der die Verwicklung des Willens aufheben soll. Die Befreiung aus der Verwicklung in die Regungen des Körpers ist der erste Grad. Darauf folgt die Befreiung aus der Verwicklung in die Phantasien (nicht bei dem verweilen, was im Geiste ist). Sodann die Befreiung aus der Verwicklung in das Sinnliche (die Regungen des Körpers nicht mehr spüren). Dann die Befreiung aus der Verwicklung in die Anschauung (an die Objekte nicht mehr als Objekte eines möglichen Begehrens denken). Und schließlich die Befreiung aus der Verwicklung in den Traum (was den dennoch unwillkürlichen Bildern des Traums an Begehren anhaften mag).“ (Vgl. SuW 4, S.323)
Der Fehler ist, diese ganzen Verwicklungen des Willens einfach nur als ‚unwillkürlich‛ zu denken, weil das der seltsamen Doppelnatur des Willens als gleichermaßen unwillkürlich wie willkürlich nicht gerecht wird. Letztlich ist der Wille entweder nur eine Entscheidung, die eine Handlung auslöst, wie ein Schwert, das den gordischen Knoten unserer Motive durchschneidet, oder er ist das Ganze unseres Gefühlshaushalts mit seinen Rangordnungen und Dringlichkeiten, als wache Aufmerksamkeit für die passende Gelegenheit.
Cassian selbst gibt zu, daß der Unterschied zwischen unwillkürlichen körperlichen Regungen und eigentlichen Willensakten nur ein scheinbarer Unterschied ist: „Cassian weist darauf hin, dass dabei nicht notwendig alle (nächtlichen ,Beschmutzungen‛ ‒ DZ) unwillkürlich sind. Übermäßige Nahrungsaufnahme und unreine Gedanken während des Tages sind hier eine Art Einwilligung, wenn nicht sogar eine Vorbereitung.“ (SuW 4, S.326)
Gerade Cassians Hinweis auf die angeblich ,unreinen‛ Gedanken macht deutlich, daß die Motive und die Umstände, in die diese Motive verwickelt sind, die uns beeinflussen, stets über bloß physiologische Prozesse hinausgehen. Stets mischen sich biologische und soziale Bedürfnisse auf je individuelle Weise, weshalb es ja auch der Arbeit an einem Gefühlshaushalt bedarf, als Arbeit an sich selbst. Diese Arbeit beinhaltet aber niemals die Vernichtung der Individualität, sondern im Gegenteil deren Entfaltung zur vollen Menschlichkeit.
Natürlich harmonieren unsere unterschiedlichen Motive nur selten oder sogar nie miteinander. Das macht es möglich, zwei verschiedene Motive so gegeneinander zu wenden, daß das eine als freier Wille und das andere als unfreier Trieb klassifiziert werden kann. Dieser Klassifikation liegt die Vorstellung zugrunde, daß der Trieb einen Zwang beinhaltet, der einem keine Wahl läßt. Der freie Wille hingegen ist dann das Ergebnis einer Abwägung und einer Entscheidung, also einer Wahl.
Was also bedeutet es, wählen zu können? Es bedeutet, urteilen zu können, was gleichbedeutend mit Denken ist. Der freie Wille ist also ein Denken und Urteilen. Aber dieses Denken und Urteilen findet nicht in einem luftleeren Raum statt. Ohne Motive, zwischen denen wir uns entscheiden müssen, gäbe es kein Denken und kein Urteilen. Diese Motive aber treten wiederum als Willensregungen mit unterschiedlicher Dringlichkeit in Erscheinung, bis hin zum Zwang, der keine anderen Motive mehr zuläßt als nur ein einziges. Der Wille ist also selbst kein Denken. Er ist Anlaß und Gegenstand des Denkens. Das Prinzip der Freiheit besteht nicht im Wollen selbst, sondern in der Möglichkeit, über das Wollen nachzudenken und seine Dringlichkeit im Gesamt der Motive und in Bezug auf die Gelegenheiten, die aktuelle Situation, abzuwägen. Je größer dabei die Dringlichkeit bis hin zum Zwang ist, um so größer ist auch die Not des Denkens, so daß es tatsächlich dazu kommen kann, daß wir dem Zwang unterliegen.
Niemals aber ist die Disziplin des Denkens ein Wille, der sich gegen sich selbst richtet. Niemals ist die Disziplin des Denkens selbst ein Wille. Die Disziplin des Denkens dient unserem Wollen in der Vielfalt der auf Situationen bezogenen Motive.
Zu diesen Motiven gehören auch die Vorstellungen, die wir uns von unseren Motiven machen. Zusammen mit den Situationen eröffnet sich hier mit den Vorstellungen ein Grenzraum zwischen Innen und Außen, in dem sich unser Denken bewegt. In diesem Grenzraum wägt es unsere Motive ab, unterscheidet sie nach ihrem fiktiven und realen Charakter, und es beurteilt sie nach ihrer individuellen und lebensweltlichen Herkunft. All diese Abwägungsprozesse setzen Selbsterkenntnis voraus und führen zu einem Gefühlshaushalt.
Insofern ist die Disziplin des Denkens zwar selbst kein Wille; doch ohne sie gäbe es keine Willensfreiheit. So wenig wie es ohne unsere Willensregungen ein Denken gäbe.
,Gott‛ ist ein dem Christentum inhärenter Denkfehler. Weil das Christentum den Willen dafür verantwortlich macht, daß die Menschen in ihren Beziehungen zu sich selbst und zu anderen Menschen ,versagen‛ ‒ gemessen an den antiken und frühchristlichn Moralvorstellungen mit ihrem patriarchalen Hintergrund ‒, schließt es die menschlichen Willensregungen mit dem Willen Gottes kurz. Weil die Menschen den eigenen Willensregungen nicht gewachsen sind, sollen sie gleich gar nicht mehr wollen dürfen. Wo Seneca darauf Wert legte, den Willen nicht zu zerstreuen, sondern immer nur eins nach dem anderen zu wollen, soll der gläubige Christ sein ganzes Leben lang überhaupt nur noch eins wollen: Gott.
Gottes Wille wiederum wird mit der Wahrheit gleichgesetzt, der sich die gläubigen Christen in Form einer reinen Erkenntnis, also jenseits des ,Fleisches‛ und seiner Begierden, zuwenden sollen. Der einzige Bewußtseinsakt, der dem Gläubigen angemessen ist, ist eine Form des Denkens, dessen Zweck die Erkenntnis der göttlichen Wahrheit und die Unterdrückung aller eigenen Willensregungen ist. Der christliche Denkfehler liegt in der Verhältnisbestimmung von Denken und Wollen nach Maßgabe des Willens Gottes.
Vegetativ und somatisch ‒ Dieser Denkfehler ist typisch für eine monotheistische Religion wie das Christentum. Hinzu kommt eine Verwechslung, die spezifisch ist für die augustinische Denkweise. Augustinus (354-430), Bischof von Hippo, vergleicht den männlichen Penis mit anderen Organen wie Händen und Füßen, die dem Willen unterworfen sind. (Vgl. SuW 4, S.442) Der Penis reagiert auf diesen Willen nicht wie Hände und Füße. Also muß das, was eine Erektion des Penisses bewirkt, etwas anderes als ein freier Wille sein. Augustinus nennt dieses Etwas die Libido und behauptet, daß der Geschlechtsakt infolge des Sündenfalls im Paradies, als der Penis noch ein Organ wie die Hände und die Füße gewesen war und wie diese unserem Willen jederzeit zur Verfügung gestanden hatte, libidinisiert wurde. (Vgl. SuW 4, S.452) Der Penis reagierte jetzt nicht mehr auf den freien Willen, sondern nur noch auf die Wollust. Daß die ‚Wollust‛ bzw. die Libido nichts anderes sein könnte ‒ im Deutschen wörtlich: ‚Lust des Wollens‛ ‒, als eine dem Geschlechtsakt entsprechende Willensregung, die sich auf eine andere Weise vollzieht als die bewußte Entscheidung, nach etwas zu greifen oder irgendwohin zu gehen, ist ihm nicht in den Sinn gekommen.
Auch Hände und Füße können erogene Zonen sein, die durch eine bestimmte Art der Berührung Lust erzeugen. Auch hier ist die entsprechende Willensregung eine andere als wenn wir mit der Hand nach einer Türklinke greifen oder den Fuß auf eine Pedale setzen, um uns aufs Rad zu schwingen und loszufahren. Tasten, streicheln, küssen versetzen nicht nur die Geschlechtsteile selbst in Erregung. Erogene Zonen sind über den ganzen Körper verteilt und teilen sie mit anderen organischen Funktionen. Auch verschiedenartige Willensregungen können durchaus beim gemeinsamen Geschlechtsakt kooperieren und komplexe Dimensionen unserer Menschlichkeit integrieren: ‚Fleisch‛ und ‚Geist‛, ‚Fleisch‛ und ‚Seele‛ müssen einander nicht widerstreiten. Wo sie es aber tun, heißt das eben nicht, daß das eine als Wille zu bezeichnen wäre, das andere aber nicht. Der wesentliche Unterschied zwischen ihnen ist nicht die Willkürlichkeit, sondern mit welcher Intensität sie auftreten und von welcher Herkunft (innen/außen) sie sind.
Es ist, wie ich finde, interessant, daß Augustinus das Böse („böser Wille“: vgl. SuW 4, S.456) mit einer Umkehr des Willens gegen sich selbst begründet, also gerade den zentralen Denkfehler, den ich dem Christentum vorwerfe, zum Argument für eben die Notwendigkeit der Erlösung des Menschen von der Ursünde von Adam und Eva macht. Diese Wendung des Willens gegen sich selbst ist nämlich, so Augustinus, die Konsequenz einer Revolte, eben der Ursünde, in der sich der Mensch gegen den Willen Gottes wandte. (Vgl. SuW 4, S.444ff.)
Die Strafe für diese Revolte besteht, trickreich wie Gott ist, in einer Spaltung des männlichen Willens (wieder die Männermoral!): sein Penis kann jetzt nicht mehr eregieren, wenn der Mann es will, sondern nur in Verbindung mit der Wollust, die demnach selbst kein Wille ist: „In der Regung der libido, die den Geschlechtsakt unterfüttert und begleitet, ohne dass er davon getrennt werden kann, darf man nicht das Auftauchen einer Natur sehen, die dem Subjekt äußerlich ist und frei von seinem Einfluss ihre eigenen Gesetze walten lässt, ohne dass es hierbei etwas ausrichten könnte; sondern vielmehr die Spaltung, die, indem sie ein jedes Subjekt teilt, dieses wollen lässt, was es nicht will.“ (SuW 4, S.457f.)
Die Wollust ist also kein Wille, für den Menschen nämlich, weil die Wollust kein
freier bzw. kein
geistiger Wille ist, wie Augustinus erläutert, denn bei den Tieren ist die Wollust nichts Böses, sondern etwas natürliches, „weil das Unwillkürliche, das sie kennzeichnet, bei ihnen keine Auflehnung ist, sie markiert keine Teilung zwischen den Begierden des Fleisches und den Begierden des Geistes ...“ (Vgl. SuW 4, S.459)
Der Hinweis auf das Unwillkürliche bei Tieren, das bei ihnen keine Auflehnung ist, ist die augustinische Variante des Paradoxes eines menschlichen Willens, der sich in Gestalt zweier Erscheinungsformen, als Unwillkürlichkeit und als Willkür, gegen sich selbst richtet.
Im Unterschied zu seiner früheren Position, die der von Chrysostomos (349-407), Bischof von Konstantinopel, nahestand, postuliert Augustinus im „Gottesstaat“, daß es im Paradies den Geschlechtsakt zwar schon gegeben hatte, dieser aber noch nicht mit der Wollust (Libido) verbunden, sondern dem freien Willen des Mannes unterworfen gewesen sei. Erst mit dem Sündenfall, mit der Abwendung von Gottes Willen spaltete sich der menschliche Wille und von nun an war jeder Geschlechtsakt unlösbar mit der Libido verbunden und unabhängig vom Willen des Mannes.
An dieser Stelle gelingt es Augustinus, das Paradox aus Unwillkürlichkeit und Willkür zu überwinden. Foucault schreibt: „Die Analyse von Augustinus macht aus der Begierde nun aber weder eine spezifische Kraft in der Seele noch eine Passivität, die ihre Macht einschränkt, sondern die Form des Willens selbst, das heißt die Form dessen, was aus der Seele ein Subjekt macht. Sie ist für ihn nicht das Unwillkürliche gegen den Willen, sondern das Unwillkürliche des Willens selbst: Sie ist das, ohne das der Wille nicht wollen kann.“ (SuW 4, S.460)
Foucaults Formulierung „das Unwillkürliche des Willens selbst“ kann man auch so verstehen, daß der Wille sein eigener Ursprung ist, ein ursprünglicher Akt und nicht die Folge von etwas anderem. Sie kann aber auch bedeuten, daß unsere Willensregungen keine Denkakte sind. Sie sind planlos und gehen aus keinem Entschluß hervor, sondern sind Gegenstand von Planung und Entschluß.
Hier macht es Sinn, auf die medizinische Anatomie zurückzugreifen. Es gibt ein vegetatives und ein somatisches Nervensystem. Das vegetative Nervensystem läuft nicht über das Gehirn und ist also vom Bewußtsein unabhängig. Das somatische Nervensystem verläuft über das Gehirn und ermöglicht dem Bewußtsein die Kontrolle über die gestreifte Muskulatur. Hände und Füße werden vom somatischen Nervensystem gesteuert (gestreifte Muskulatur); der Penis hingegen wird vom vegetativen Nervensystem gesteuert (glatte Muskulatur), kann also nicht vom Bewußtsein kontrolliert werden.
Dennoch können Männer mit ihren Händen ihren Penis auf eine Weise manipulieren, daß er erigiert bis hin zur Ejakulation. Penis und Hand, vegetatives und somatisches Nervensystem, arbeiten also gewissermaßen Hand in Hand. Das Gleiche funktioniert auch mithilfe unserer Vorstellungen. Auch mit ihnen können Männer den Penis erigieren lassen. Für alles weitere bedarf es dann allerdings der Hand, der eigenen oder der des Partners.
Es gibt also eine Kooperation zwischen vegetativem und somatischem Nervensystem samt dazugehörigen Organen. Das vegetative Nervensystem sorgt für die Begierden, um derentwillen wir mittels des somatischen Nervensystems unser Denken und unsere Hände und Füße in Bewegung setzen, um sie auf die eine oder andere Weise zu befriedigen. Beides ist Wille. Und nur als dieser Wille findet er seine Erfüllung. Die neue Position von Augustinus besteht also darin, daß der Mensch infolge der Ursünde in ein ,geistiges‛ Denken und in ,fleischliche‛ Begierden gespalten ist, Aber diese fleischlichen Begierden sind ihm nicht äußerlich. Sie sind Teil von ihm, und deshalb richtet sich sein Wille gegen sich selbst mit allen damit verbundenen, durchaus unerfreulichen Folgen.
Das, worin sich letztlich aber der augustinische Willensbegriff von meinem vor allem unterscheidet, ist die Rolle, die Gott bei all dem spielt. Gott ist der Grund, weshalb Sloterdijk Augustinus zurecht als „Hysteriker von Hippo“ bezeichnen kann.
sui generis ‒ Foucault schreibt: „Nun wird verständlich, weshalb der Umstand, dass die Begierde ,sui generis‛ (die eigene Begierde ‒ DZ) ist, nicht ausschließt, dass sie dem Subjekt angelastet werden kann. Dies kann sie, insofern sie ‚von unserem Willen‛ kommt, der durch diese Tatsache selbst ,sui generis‛ (der eigene Wille ‒ DZ) ist; und umgekehrt kann sich unser Wille der Begierde nur entziehen, indem er darauf verzichtet, ‚sui generis‛ (der eigene Wille ‒ DZ) zu sein, und erkennt, dass er das Gute nur durch die Macht der Gnade wollen kann. Die ,Autonomie‛ der Begierde ist das Gesetz des Subjekts, wenn es seinen eigenen Willen will. Und die Machtlosigkeit des Subjekts ist das Gesetz der Begierde.“ (SuW 4, S.460)
Die Absurdität dieser augustinischen Konstruktion einer, wie Foucault schreibt, ‚Autonomie‛ des in sich gespaltenen Willens als Folge des Sündenfalls wirft ein erhellendes Licht auf den Umstand, daß die christliche Fundamentalrelation nicht im Mensch-Weltverhältnis besteht, sondern im Gottesverhältnis. Wenn der Mensch aus seiner weltlichen Bestimmtheit herausgelöst und einem göttlichen Gnadenakt unterworfen wird, kann er seine Freiheit bzw. Autonomie bzw. seinen Willen nicht mehr am Widerstand der Welt bilden. Alles das, was den Menschen zum Menschen macht, wird nun zur Sünde. Seine Autonomie ist eine Abwendung
von Gott, und selbst etwas zu wollen, ist eine Revolte
gegen Gott. Die Welt, die Mitmenschen und er selbst spielen keine Rolle mehr.
Foucault bringt die Absurdität der augustinischen Konstruktion in einer schlichten Frage zum Ausdruck: „Kann der Wille schuld sein, zu sein, was er ist?“ (SuW 4, S.461)
Mit dieser Frage leitet Foucault über zur Thematik der „Entstehung des Begehrensmenschen“ (vgl. SuW 4, S.459), der wiederum eng mit der augustinischen Erfindung der Erbsünde verknüpft ist, derzufolge der Sündenfall nicht in einem Erkenntnisakt, sondern in einem Akt der Wollust besteht. (Vgl. SuW 4, S.396 und S.463)
Foucault zufolge haben wir es hier mit einer „Konstanten des abendländischen Denkens in Bezug auf den Sex“ zu tun: „Dieses Thema ist der grundlegende und untrennbare Zusammenhang zwischen der Form des Geschlechtsakts und der Struktur des Subjekts.“ (SuW 4, S.463)