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Montag, 14. Juli 2025

„Kann der Wille schuld sein, zu sein, was er ist?“

Michel Foucault: Sexualität und Wahrheit (4 Bde.):
Der Wille zur Wahrheit (1976/83; SuW 1)
Der Gebrauch der Lüste (1984/86; SuW 2)
Die Sorge um sich (1984/86; SuW 3)
Die Geständnisse des Fleisches (2018/19; SuW 4)

5. frühes Christentum
‒ Diätetik
‒ Unwillkürlichkeit und Willkür
‒ Ehe und Zweiheit
‒ Erkenntnis
‒ Jungfräulichkeit

Jungfräulichkeit und Ordensgemeinschaft ‒ Es gibt zwei Formen einer Gott geweihten christlichen Lebensführung: die Ordensgemeinschaft, von der hier schon die Rede gewesen ist, und die ‚Jungfräulichkeit‛, die sich unabhängig von irgendeiner Gemeinschaftsbindung ebenfalls ausschließlich der Gottesbeziehung widmet. Dabei hat der Begriff der Jungfräulichkeit sein Vorbild in der Gottesmutter Maria, meint aber nicht nur Frauen, sondern auch Männer. Foucault bezieht sich bei diesem Thema auf Basilius (336-365), ehemaliger Arzt und Bischof von Ankyra, und auf Clemens von Alexandrien (150-250), Philosoph und Theologe.

Foucault weist ausdrücklich darauf hin, daß sich alles, was Basilius von Ankyra zur Jungfräulichkeit zu sagen weiß, diametral von dem unterscheidet, was Cassian über das Klosterleben schreibt: „Die Analyse Cassians ist sehr anders als die des Basilius von Ankyra. Sein Bezugsrahmen ist die klösterliche Praxis ... Auf jeden Fall treffen die Ausführungen Cassians, die Regeln und Vorschriften, die er aufzeigt, auf eine Lebensform zu, bei der der Verzicht auf jegliche Form von sexuellen Beziehungen bereits erfolgt ist.“ (SuW 4, S.292)

Foucaults Formulierung vom „Verzicht“ klingt so, als handelte es sich bei der Entscheidung des Novizen für das Kloster um eine der Jungfräulichkeit vergleichbare freie Entscheidung, was aber angesichts dessen, was Foucault zuvor über die Taufe und über das Klosterleben geschrieben hatte, nicht so gemeint sein kann. Möglicherweise meint er mit der Feststellung, daß der Verzicht „bereits erfolgt“ sei, daß mit dem Gelübde für den jetzigen Mönch der Punkt gesetzt ist, von dem an er sich vollständig dem Willen anderer zu unterwerfen hat, während die ,Jungfrau‛ zwar ebenfalls verzichtet, ihr Wille aber weiterhin durch kein Gelübde gebunden ist.

Ein weiterer Unterschied zum Klosterleben besteht darin, daß die Jungfräulichkeit nach dem Modell „der sexuellen Begierden, Handlungen und Beziehungen“ (vgl. SuW 4, S.274), bis hin zur „sexuelle(n) Vereinigung von zwei Individuen als implizites oder explizites Modell“ für den „souveränen Eingang des Herrn“ in den jungfräulichen Geist (vgl. SuW 4, S.297), gestaltet ist, während im Kloster die „Beziehung des Geistes zu Gott“ eine reine „Erkenntnisbeziehung“ (vgl. SuW 4, S.298) „nach dem Modell des Blicks und des Lichts“ ist. Cassian denkt das Klosterleben nicht in den Kategorien der Jungfräulichkeit, nicht nach dem Modell von Braut und Bräutigam, sondern er denkt es als geistigen „Akt der Betrachtung (Gottes), der mit dem Betrachteten ein und dasselbe ist“. (Vgl. SuW 4, S.297)

Gemeinsam ist beiden Glaubenspraktiken, der Jungfräulichkeit und der Erkenntnisbeziehung, jedenfalls, daß sie ganz und gar auf Gott ausgerichtet sind. Gott übernimmt dem Gläubigen gegenüber die Funktion des Du, das jetzt nicht mehr für soziale Beziehungen zwischen Menschen zur Verfügung steht. Cassian deutet den ‚Anderen‛ um zum „Feind“, gegen den der Gläubige einen „geistigen“ Krieg führen muß: „Aber als Krieg gegen einen Gegner (und mehr noch einen unermüdlichen, zu allen Listen fähigen Feind als einen Rivalen in einem redlichen Spiel) erfolgt der Kampf gegen einen anderen. Athleten gebietet der Kampf eine Form des Selbstbezugs. Kriegerisch ist er eine Beziehung zu einem irreduziblen Element der Andersheit.“ (SuW 4, S.305f.)

So steht also jede Beziehung zu einem Anderen, der bzw. das nicht Gott ist, unter diesem Makel der potenziellen Feindschaft, auch das Verhältnis von Körper und Seele, wobei der Körper das Schlachtfeld der Seele mit dem Feind ist: „Der geistige Kampf ist damit unabdingbar eine Auseinandersetzung mit dem Anderen, eine Dynamik von Bewegungen, die von der Seele zum Körper gehen und umgekehrt, schließlich die Aufgabe der Entzifferung, um zu erfassen, was sich unter dem Anschein des Selbst verbirgt.“ (SuW 4, S.305f.)

Was Foucault hier als „Anschein des Selbst“ bezeichnet, ist nichts anderes als der Körperleib, auf dem sich wie auf einem Schlachtfeld die Kräfte des Feindes (Außenwelt) und die seelischen Befindlichkeiten (Innenwelt) begegnen und vermischen, so daß sich der Gläubige in dem Kampfgetümmel nicht mehr wiedererkennt: „Insgesamt handelt es sich um ein komplexes Spiel zwischen der Seele und dem Feind, bei dem mittels des Körpers, der Bewegungen von sich gibt und aufnimmt, Gedanken ausgesandt, repetiert, aufgenommen, von neuem in Gang gesetzt werden.“ (SuW 4, S.307f.)

Teile des Kapitels zur Jungfräulichkeit sind für mich deshalb interessant, weil hier auf eine spezifische, sich zunächst von Cassian, dann aber eben auch von Plessner gravierend unterscheidende Weise vom Körperleib die Rede ist. ,Jungfräulichkeit‛ meint kein weibliches Zustandsmonopol, sondern transzendiert im Gegenteil die Zweigeschlechtlichkeit in Richtung auf einen Körper, wie er in einem Leben nach dem Tod sein wird. Schon in diesem Leben, also diesseits des Todes, können auch Männer ihr Leben der Jungfräulichkeit widmen. Schon diesseits des Todes ist der jungfräuliche Mensch also engelgleich, d.h. geschlechtslos. Dem Krieg, den der Mönch gegen das Andere führt und damit eben auch gegen sich selbst, wird durch die Jungfräulichkeit ein Ende gesetzt.

Bruch zwischen Innen und Außen ‒ Bei der Jungfräulichkeit, schreibt Foucault mit Bezug auf Clemens von Alexandrien, gehe es um den „Schnitt“ zwischen Schöpfung und Zeugung, „ab dem die sexuelle Betätigung in der Geschichte der Welt eine Rolle spielt“: „Sie (die ‚sexuelle Betätigung‛ ‒ DZ) muss verhindern, dass das Gesetz des Todes vollkommen siegt; sie muss die Erde bevölkern, bevor sie ihrerseits verschwindet, wenn mit der Inkarnation (der Geburt Christi ‒ DZ) die Zeit der Erlösung gekommen ist.“ (SuW 4, S.273)

Gab es zu Beginn der Schöpfung und nach der Vertreibung aus dem Paradies nur zwei Menschen auf der Erde, Adam und Eva, mußte alles darauf angelegt sein, die Erde zu bevölkern und den Fortbestand der Menschheit sicher zu stellen. Nach der Inkarnation aber, also nach Christi Geburt, gibt es so viele Menschen, daß die Jungfräulichkeit an die Stelle der Sexualität treten kann. Alles, was zwei Menschen verschiedenen Geschlechts miteinander verbindet, kann nun auf die Verbindung zwischen dem Menschen und Gott übertragen werden, und vor Gott gibt es keinen Unterschied zwischen Frau und Mann: „Schließlich leitet die Jungfräulichkeitsmystik () eine Zäsur ein, die in Form von geistigen Gestalten ein Zusammenspiel von Regungen, Vereinigungen, Fortpflanzungen entwirft, die ein wortwörtliches Doppel der sexuellen Begierden, Handlungen und Beziehungen sind.“ (SuW 4, S.274)

Als ,Jungfrauen‛ können Frauen und Männer gleichermaßen zu Bräuten Christi werden. In diesem Zusammenhang ist immer wieder bei Foucault von einem „Schnitt“, einer „Zäsur“, einem „Bruch“ die Rede, den die „Rolle der Jungfrau“ markiert. (Vgl. SuW 4, S.283) Immer wenn von einem „Bruch“ die Rede ist, werde ich hellhörig, weil ich dabei sofort an Plessner denke. Im Falle der Jungfrau geht es dabei um die Abtrennung der zweigeschlechtlichen „körperlichen Liebe“ von der „unkörperlichen Liebe zu Gott“. (Vgl. SuW 4, S.284)

Die unkörperliche Liebe zu Gott ist vor allem eine Sache der Seele, die bei allen, bei Frauen und Männern, ,gleich‛, d.h. ungeschlechtlich ist. Plessners Hiatus besteht im Bruch zwischen dem menschlichen Bewußtsein und der Welt, zwischen Innen und Außen.

Die Jungfräulichkeit hingegen ist ein innerer Bruch, ein Bruch zwischen Körper und Seele, und nur insofern auch ein Bruch zwischen Innen und Außen, als der Körper in Bezug auf die Seele etwas Äußerliches ist. Letztlich haben wir es mit zweierlei Brüchen zu tun, wie sich an der „Ökonomie des Blicks“ bei Basilius von Ankyra zeigt, der den Körper mit seinen Sinnesorganen gleichsetzt, die für die äußere Welt der Zugang zu unserer Innenwelt sind und durch die alles Schlechte und alles Übel zur Seele gelangt: „Diesem Bruch verleiht Basilius zwei Formen, die beide, wenn auch jede auf eine andere Weise, auf der Vorstellung einer gewissen Äquivalenz zwischen der Lust als Prinzip der Annäherung zwischen den Geschlechtern und der Lust als allgemeiner Form der Verfinsterung oder Belastung der Seele durch den Körper beruhen.“ (SuW 4, S.284)

Bei dem ,Bruch‛, an den ich zunächst denke, handelt es sich um das Auseinandertreten von Innen und Außen, wenn wir entdecken, daß unsere inneren Vorstellungen mit der realen Außenwelt nicht übereinstimmen. Basilius denkt an einen Bruch, der einerseits durch die körperliche Lust und andererseits durch die seelische Lust bewirkt wird, nämlich als Geschlechtslust und als seelische Verfinsterung. Was den Körper betrifft, weil uns vermittelt durch unsere (körperlichen) Sinnesorgane andere Menschen als begehrenswert erscheinen, und was die unsere Seele verfinsternde Lust betrifft, weil sie von inneren Vorstellungen beherrscht wird, die über unsere Sinnesorgane (insbesondere Auge und Tastsinn) in sie eingedrungen sind.

Also bedarf es einer zweifachen Trennung: als „selektives Verschließen des Körpers vor der Außenwelt“ (vgl. SuW 4, S.284) und als Trennung der Seele vom Körper (vgl. SuW 4, S.286). Der jungfräuliche Körperleib modifiziert die Grenze zwischen Innen und Außen, wie sie Plessner mit dem Körperleib zieht, auf spezifisch christliche Weise: nicht der Bruch zwischen Innen- und Außenwelt steht am Anfang einer Entdeckung unserer selbst als Selbstbewußtsein, wie bei Plessner, sondern die Trennung zwischen Innen- und Außenwelt qua Kontrolle der Sinnesorgane und Rückzug der Seele in sich selbst ist die Folge unseres sündhaften Begehrens.

Aber im Unterschied zu Taufe und Kloster, die einer, wie Foucault schreibt, christlichen „Gesetzesökonomie“ von Ge- und Verboten unterliegen, deren Ziel insbesondere in der Klostergemeinschaft die vollständige Vernichtung des menschlichen Willens ist, bildet die Jungfräulichkeit eine Option, zu der der gläubige Christ keineswegs verpflichtet ist. Der Mensch hat die Wahl, ob er den Weg der Jungfräulichkeit gehen will oder nicht. (Vgl. SuW 4, S.254 und S.272) Die Entscheidung für die Jungfräulichkeit ist eine freiwillige Entscheidung des Menschen. Das ist eine überraschende Alternative zur völligen Unterwerfung des menschlichen Willens unter Gottes Willen in der Taufe und in der Klostergemeinschaft. Die Jungfrau lebt zwar noch in dieser Welt, aber so, als wäre sie schon unsterblich und ohne Geschlecht.

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