„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Donnerstag, 3. Juli 2025

„Kann der Wille schuld sein, zu sein, was er ist?“

Michel Foucault: Sexualität und Wahrheit (4 Bde.):
Der Wille zur Wahrheit (1976/83; SuW 1)
Der Gebrauch der Lüste (1984/86; SuW 2)
Die Sorge um sich (1984/86; SuW 3)
Die Geständnisse des Fleisches (2018/19; SuW 4)

3. griechische Antike
‒ Diätetik (Kunst der Lebensführung)
‒ Männermoral
‒ Knabenliebe

In meinem Blog bin ich schon seit längerem, in den letzten Jahren allerdings häufiger, auf die Notwendigkeit und auf das Bedürfnis eingegangen, mein Leben zu führen, und zwar meist mit Verweis auf die rasant fortschreitende Digitalisierung aller Lebensverhältnisse, die uns genau darin, in der Lebensführung, zunehmend behindert. Das griechische Wort für Lebensführung ist ‚Diät‛, die nicht nur für die Ernährung zuständig ist, sondern nach antik-griechischem Verständnis auch für alle anderen Lebensbereiche, und die neben der Ernährungsweise auch die Sexualität betrifft.

Die heutigen Lebensbereiche, die dringend einer Diät bedürfen, was in der populistisch geprägten deutschen Politik abschätzig mit der unschönen Vokabel ‚Verzicht‛ versehen wird, sind beispielsweise neben der Ernährungsweise die Alltags- und Urlaubsmobilität, das Einkaufsverhalten und natürlich die schon angesprochene umfassende Digitalisierung mitsamt dem wuchernden Krebs, genannt Smartphone. Das ist nur eine kleine Auswahl, denn um unser Leben wieder führen zu können, bedarf es einer umfassenden Kehrtwende unserer gesamten Lebensverhältnisse.

Eigentlich ist es ja doch verwunderlich, daß Praktiken des Fastens und der Diät rund um den Bereich ,gesunde Ernährung‛, die nichts anderes sind als Formen der Askese, sich doch einer so allgemeinen Beliebtheit erfreuen, daß es in allen analogen und digitalen Medien eine Unzahl von entsprechenden Ratgeberformaten gibt. Die Bewirtschaftung dieses Themenbereichs scheint sich zu lohnen.

Wenn man die Diät als eine konkrete, spezifische Verhaltensweisen betreffende Praktik bezeichnen kann, so bezieht sich die Diätetik auf das individuelle Leben als Ganzes, also unsere Lebensführung als der Mensch, der wir sind. Die Diätetik ist, wie Foucault definiert, die „allgemeine Ordnung des seelischen und körperlichen Daseins“ (vgl. „Hermeneutik des Subjekts“ (2004, S.87) und steht damit dem Begriff der Ethik nahe. Fügt man dem noch hinzu, daß die Diätetik auch mit „Sorge um sich selbst“ übersetzt werden könnte und diese Sorge um sich selbst „Selbsterkenntnis zu sein (hat)“ (vgl. Foucault 2004, S.95), dann entspricht die Diätetik meinem Blogtitel: Erkenntnisethik.

In den letzten Jahren habe ich, so wie Foucault die Sorge um sich selbst, den Gefühlshaushalt mit dem Begriff der Selbsterkenntnis verbunden. Dabei bin ich insbesondere von der Sexualität ausgegangen, weil die damit verbundenen Befindlichkeiten und Begierden für mich schon immer mein zentrales Lebensthema gewesen sind. Ich versuchte mit diesen Befindlichkeiten und Begierden einen Umgang zu finden, der die anderen Motive nicht einfach nur platt an die Wand drückt, sondern ihnen einen eigenen Bewegungsspielraum ermöglicht.

Zurück zur griechischen Antike um das fünfte, vierte und dritte Jahrhundert herum. Die Griechen zählten die Geschlechtslust zu den „drei großen grundlegenden Strebungen, die die Nahrung, das Trinken und die Zeugung betreffen“ (vgl. SuW 2, S.67), räumten ihr aber in der „Hierarchie“ der sinnlichen Vergnügen nur einen niedrigen Rang ein. Ähnlich wie in meinem Gefühlshaushalt gab es bei den Griechen also eine Rangordnung von Neigungen und Trieben, die einerseits zwar individuell gestaltet war, weshalb es auch einer individuellen Selbstprüfung und Selbsterkenntnis bedurfte, denen, also den Bedürfnissen, aber letztlich eine vorgängige Natur zugrundelag. Wir haben es mit einer ontologisch begründeten Hierarchie zu tun. Ähnlich wie in meinem Gefühlshaushalt bestand bei den Griechen die Aufgabe des Mannes ‒ Frauen waren nur Lustobjekte (vgl. SuW 2, S.62) ‒ darin, die Geschlechtslust „zu meistern“ und gleichzeitig „in einer angemessenen Ökonomie gewähren (zu) lassen“. (Vgl. SuW 2, S.68)

Ein weiterer Aspekt, in dem sich die griechische Vorstellung von einem „Gleichgewicht in der Dynamik des Vergnügens und des Begehrens“ (vgl. SuW 2, S. 75) mit meinem Gefühlshaushalt deckt, ist, daß das Prinzip, das den Gebrauch der Lüste reguliert, im „Bedürfnis“ selbst bestand (vgl. SuW 2, S.74). Dieses Bedürfnis hat seine eigene Dynamik, an der sich seine Befriedigung bemißt und begrenzt. Wo wir über die primäre Befriedigung hinaus nach Lustbefriedigung streben, geht uns mit dem Bedürfnis auch die Lust verloren und an deren Stelle tritt die Begierde. (Vgl. SuW 2, S.75f.) Die Griechen nannten das ,Unmäßigkeit‛. Unmäßigkeit bedeutet, daß die angemessene Diät nicht eingehalten wird. Das Bedürfnis setzt ein Maß, nämlich daß es mit seiner Befriedigung endet. Wer mehr will als bloße Befriedigung, ist unmäßig.

Mit Rousseau läßt sich ergänzen, daß nicht nur das Unmaß der Überbefriedigung natürlicher Bedürfnisse zu einer problematischen Lebensführung beiträgt, sondern auch das Erlernen neuer Bedürfnisse durch Nachahmung, deren Befriedigung uns von äußeren Umständen abhängig macht. Bei diesen äußeren Umständen, so schon Rousseau, ist vor allem an eine kapitalistische Wirtschaftsform mit ihrem Konkurrenzprinzip zu denken.

Auch meinen Gedanken, daß wir unseren Bedürfnissen und Begehrungen eine individuelle Gestalt geben können und müssen, finde ich in Foucaults Darlegungen zur griechischen Moral wieder: „In dieser Moral konstituiert sich also das Individuum nicht dadurch als ethisches Subjekt, daß es die Regel seiner Handlung verallgemeinert; sondern im Gegenteil durch eine Haltung und eine Suche, die seine Handlung individualisieren und modularisieren und ihr sogar einen einzigartigen Glanz geben können, indem sie ihr eine rationale und reflektierte Struktur verleihen.“ (SuW 2, S.82f.)

Die Diätetik, also der Gefühlshaushalt, entspricht einer individuellen Rangordnung von Bedürfnissen mit den je besonderen Gelegenheiten, die uns ihre Befriedigung ermöglichen. Und unter diesen Bedürfnissen ist die Sexualität letztlich doch nur eine unter vielen.

Mittwoch, 2. Juli 2025

„Kann der Wille schuld sein, zu sein, was er ist?“

Michel Foucault: Sexualität und Wahrheit (4 Bde.):
Der Wille zur Wahrheit (1976/83; SuW 1)
Der Gebrauch der Lüste (1984/86; SuW 2)
Die Sorge um sich (1984/86; SuW 3)
Die Geständnisse des Fleisches (2018/19; SuW 4)


2. Der imaginäre Punkt

Ich möchte hier gerne ein Problem ansprechen, das meiner Ansicht nach mit dem feministischen Dekonstruktivismus zusammenhängt bzw. von dem Versuch herrührt, die Biologie aus der polymorphen Sexualität auszuklammern und die Sexualität als ein rein gesellschaftliches und gesellschaftspolitisches, letztlich machtpolitisches Konstrukt zu verstehen. Diese Positionierung des Themas als zwangsheterosexuelles Dispositiv kann man, glaube ich, auf Foucaults Diskursbegriff zurückführen, demzufolge es in Diskursen vor allem um Macht und Kontrolle geht. Jedenfalls ist es zur Zeit kaum möglich, über Sexualität zu reden ‒ und das Reden über Sex ist ja Foucault zufolge die biopolitische Grundlage für die Bevölkerungspolitik der letzten drei, vier Jahrhunderte ‒ ohne genaueste Kenntnisse der aktuell geltenden Details im Genderspeech.

Den feministischen Dekonstruktivistinnen ist trotz dieser Orientierung an Foucault etwas abhanden gekommen, worum Foucault noch gewußt hatte, daß nämlich die „Sexualität als ,politisches Dispositiv‛“ nicht „notwendigerweise“ zu einer „Ausschaltung des Körpers, der Anatomie, des Biologischen“ führt (vgl. SuW 1, S.180): „Weit entfernt von jeder Ausradierung des Körpers geht es darum, ihn in einer Analyse sichtbar zu machen, in der das Biologische und das Historische nicht wie im Evolutionismus der alten Soziologen aufeinander folgen, sondern sich in einer Komplexität verschränken, die im gleichen Maße wächst, wie sich die modernen Lebens-Macht-Technologien entwickeln.“ (SuW 1, S.181)

Wenn man die individuelle Dimension hinzufügt, entspricht diese Komplexitätsverschränkung meinem Konzept vom Körperleib als einem Ganzen aus drei Entwicklungsdimensionen. Im folgenden Zitat geht Foucault auf diese dritte Dimension, die Individualität, ein: „Jeder Mensch“, also das Individuum, „soll nämlich durch den vom Sexualitätsdispositiv fixierten imaginären Punkt Zugang zu seiner Selbsterkennung haben (weil er zugleich das verborgene Element und das sinnproduzierende Prinzip ist), zur Totalität seines Körpers (weil er ein wirklicher und bedrohter Teil davon ist und überdies sein Ganzes symbolisch darstellt), zu seiner Identität (weil er an die Kraft eines Triebes die Einzigkeit einer Geschichte knüpft.“ (SuW 1, S.185)

Interessant ist hier Foucaults Verweis auf den Sex als einem imaginären Punkt. Dieser ,Sex‛, zu dem sich alle drei Entwicklungslinien auf welche problematische Weise auch immer zusammenfügen, funktioniert letztlich nicht anders als die Behauptung eines individuellen Ich, nämlich als ein sich als Ich behauptendes Ganzes aus Biologie, Gesellschaft und Individualität. Foucault zufolge bildet diese dreifache Komplexität eine „künstliche Einheit“, von der es in einer vorhergehenden Textstelle heißt: „Einmal hat es der ,Sex‛ möglich gemacht, anatomische Elemente, biologische Funktionen, Verhaltensweisen, Empfindungen und Lüste“ ‒ also die ganze Palette des Körperleibs ‒ „in einer künstlichen Einheit als ursächliches Prinzip, als allgegenwärtigen Sinn und allerorts zu entschlüsselndes Geheimnis funktionieren zu lassen: der Sex als einziger Signifikant und als universales Signifikat.“ (SuW 1, S.184)

Eben aus diesem Signifikant-Signifikat der Sexualität geht das Individuum mit seiner einzigartigen Geschichte hervor. Es ist die Wahrheit nicht für den Staat, sondern für den Begehrensmenschen, und zwar jenseits des Machtdispositivs. Denn zu den „Funktionsprinzipien“ des „Sexualitätsdispositivs“, so Foucault, gehört es, einen „Zugang“ zum Sex zu finden, der ihn nicht unterdrückt oder kontrolliert, sondern ihn befreit. (Vgl. SuW 1, S.186) „Man muß sich“, schreibt Foucault, „von der Instanz des Sexes frei machen“. (Vgl. SuW 1, S.187)

Man darf den Sex also nicht als eine Autorität, nicht als Teil eines Machtdispositivs verstehen, „will man die Mechanismen der Sexualität umkehren, um die Körper, die Lüste, die Wissen in ihrer Vielfältigkeit und Widerstandsfähigkeit gegen die Zugriffe der Macht auszuspielen. Gegen das Sexualitätsdispositiv kann der Stützpunkt des Gegenangriffs nicht das Sex-Begehren sein, sondern die Körper und die Lüste.“ (SuW 1, S.187)

Wie ist das gemeint? Wie können wir uns mit den Körpern und den Lüsten von dem Sex-Begehren als einem Dispositiv der Macht befreien? Will Foucault hier auf etwas hinaus, was Nietzsche und Plessner als zweite Naivität bezeichnen? Schließlich ist das „Element ,Sex‛“ so real wie imaginär und vielleicht auch real, weil imaginär, analog zur Gräfenberg-Zone, an die wir uns blind herantasten und, ob wir sie nun finden oder nicht, möglicherweise dennoch ankommen.

Letztlich ist das Begehren nur ein Motiv unter anderen, wenn auch vielleicht das mächtigste. Aber es gibt sie, diese anderen Motive, die Körper und Lüste im Plural und nicht im Singular. Und es ist eine Aufgabe unserer Vorstellung, unserer Imagination, sie alle in einer jeweils individuellen ‚Ökonomie‛ zu ihrem Recht kommen zu lassen. Vielleicht ist es das, worauf Foucault hinauswill, wenn er davon spricht, uns vom Zugriff der Macht zu befreien.

Das Befreiende für uns alle ist doch letztlich, daß es noch andere Motive gibt als die „Geschlechtslust“, um die es in den vier Bänden von „Sexualität und Wahrheit“ hauptsächlich geht. Das macht eine „Ökonomie der Lustströme“ (vgl. SuW 4, S.284) ja gerade so dringend. Ich selbst spreche in meinem Blog immer vom „Gefühlshaushalt“, der uns eine individuell ausgestaltete Rangordnung von Motiven und Gelegenheiten ermöglicht und eines gewiß nicht beinhaltet: die Dämonisierung irgendeines körperlichen Bedürfnisses oder leiblichen Begehrens.

Ich frage mich, ob die heutige Zersplitterung des Gleichheitsprinzips in verschiedenartige Sprachformeln und Umgangspraktiken, wie sie der LGBTQ+-Etikette entprechen, nicht eine Form der Unterwerfung unter das Machtdispositiv bildet, vor der Foucault schon in den 1970er Jahren gewarnt hatte, als er von der „Ausstreuung und Verstärkung sexueller Disparität“ als Teil einer „Diskursivierung des Sexes“ sprach. (Vgl. SuW 1, S.79)

Dienstag, 1. Juli 2025

„Kann der Wille schuld sein, zu sein, was er ist?“

Michel Foucault: Sexualität und Wahrheit (4 Bde.):
Der Wille zur Wahrheit (1976/83; SuW 1)
Der Gebrauch der Lüste (1984/86; SuW 2)
Die Sorge um sich (1984/86; SuW 3)
Die Geständnisse des Fleisches (2018/19; SuW 4)

1. Der aktuelle Stand
2. Der imaginäre Punkt
3. griechische Antike
‒ Diätetik (Kunst der Lebensführung)
‒ Männermoral
‒ Knabenliebe
4. Kaiserzeit
‒ Diätetik
‒ Ehe und Zweiheit
‒ Mißbrauch der Zweiheit
5. frühes Christentum
‒ Diätetik
‒ Unwillkürlichkeit und Willkür
‒ Ehe und Zweiheit
‒ Erkenntnis
‒ Jungfräulichkeit

Die unter dem zumindest für mich etwas ungewöhnlich klingenden Titel erschienenen insgesamt vier Bände von Michel Foucault, „Sexualität und Wahrheit“, umfassen den Zeitraum der griechischen Antike vom fünften vorchristlichen Jahrhundert bis zum fünften nachchristlichen Jahrhundert, also etwa tausend Jahre. Ungewöhnlich ist für mich die Verknüpfung des Wahrheitsbegriffs mit der Sexualität, denn beides hatte, jedenfalls nach meiner Erfahrung, eigentlich immer reichlich wenig miteinander zu tun gehabt.

Darüber, wie er zu dieser Verknüpfung gekommen ist, gibt Foucault in den vier Bänden keinerlei Auskunft. Erst als ich mir nach der Lektüre der vier Bände seine Vorlesungen zur „Hermeneutik des Subjekts“ (2004) vornahm, stieß ich auf eine Textstelle, in der Foucault selbst, zumindest implizit, auf die Ungewöhnlichkeit dieser Themenstellung eingeht. Er verweist darauf, daß seit Descartes‛ Verengung der Philosophie auf die rationale Erkenntnis das Verständnis für die spezifisch griechische und griechisch-römische „Sorge um sich“, um die es auch dem „Erkenne dich selbst“ des Orakels von Delphi gegangen war, nämlich als Hinwendung zum persönlichen, individuellen Wohlergehen des Menschen, völlig verloren gegangen ist. An die Stelle des individuellen Glücks trat die Erkenntnisgewiß als oberster Zweck des philosophischen Denkens. (Vgl. Foucault 2004, S.28ff.)

Die Wahrheit, um die es in „Sexualität und Wahrheit“ geht, ist deshalb keine Erkenntniswahrheit, die wir der objektiven Beobachtung und der logisch-mathematischen Reflexion verdanken, sondern eine Wahrheit, die das Subjekt „erleuchtet“: „(D)ie Wahrheit schenkt dem Subjekt Glückseligkeit, die Wahrheit verschafft dem Subjekt Seelenruhe. Kurz, in der Wahrheit und im Zugang zur Wahrheit liegt etwas, das die Vollendung des Subjekts vollbringt(.)“ (Vgl. Foucault 2004, S.34)

Die Sexualität wiederum hat die Philosophen der griechischen Antike immer beunruhigt; aus zweierlei Gründen: zum einen läuft der Geschlechtsakt auf einen konvulsivischen, unkontrollierbaren Höhepunkt hinaus und zum zweiten bedrohen gewisse sexuelle Praktiken die Position des Mannes in der patriarchalen Struktur der griechischen Polis. Um es deutlich zu sagen: der Mann liegt oben, die Frau liegt unten. In diesem Fall ist das kein Problem. Zum Problem wird es erst, wenn Männer miteinander Sex haben. Diskutiert wird das Problem aber vor allem bei Sex zwischen erwachsenen Männern und Knaben, und dann geht es vor allem um die künftige Position des Knaben als freier Mann in der Polisgesellschaft, die nicht durch seine Unterwerfung beim Geschlechtsakt gefährdet werden darf.

Unter anderem um solche heiklen Fragen geht es bei dem Titel „Sexualität und Wahrheit“. Der erste Band, „Der Wille zur Wahrheit“ (SuW 1), ist gewissermaßen die Einleitung zu den folgenden drei Bänden. In ihm skizziert Foucault den aktuellen Stand der Dinge hinsichtlich seines Themas: „Die Sexualität wird sorgfältig eingeschlossen. Sie richtet sich neu ein, wird von der Kleinfamilie konfisziert und geht ganz im Ernst der Fortpflanzung auf. Um den Sex breitet sich Schweigen. Das legitime, sich fortpflanzende Paar macht das Gesetz.“ (SuW 1, S.11)

Das ist gewissermaßen die ,Wahrheit‛ der Kleinfamilie. Verständlicherweise interessiert sich Foucault nicht für diese Art von Wahrheit. Wer jetzt allerdings an die 1950er Jahre denkt, wie auch ich es zunächst tat, ist auf dem Holzweg. Damals gab es den Kinsey-Report (1948/55 und 1953/54) und der wurde bis in die 1960er und 1970er Jahre hinein diskutiert. Man kann also nicht sagen, daß sich um den Sex Schweigen ausbreitete. Foucault meint die Viktorianische Epoche des 19. Jhdts., und in der wurde tatsächlich nicht über Sex geredet.

In den folgenden drei Bänden geht es eben darum: wie von der griechischen Antike bis zu den Anfängen des Christentums über den Sex geredet wurde. Dabei geht es zwar um verschiedene Ansätze zur ‚Wahrheit‛ des Sexes, aber immer liegt ihnen die gleiche ontologische Frage nach dem ‚Sein‛ vor allem der männlichen Sexualität bzw. Subjektivität zugrunde. Wir haben es mit einer ontologischen Deutung der sexuellen Praktiken in verschiedenen Phasen des Patriarchats in dem oben genannten, tausend Jahre umfassenden Zeitraum zu tun.

Foucault behauptet, daß die gesellschaftliche Bedeutung der Sexualität weniger in einer Jahrhunderte oder gar Jahrtausende langen Unterdrückung sexueller Praktiken besteht (das aber auch!), auch nicht in der Neuzeit ab dem 16./17. Jhdt., sondern vielmehr im exzessiven Reden über Sexualität; einem Reden, das wiederum Teil einer peniblen Kontrolle des Menschen war und immer noch ist. Gegenstand dieser Kontrolle war und ist die ‚Ökonomie’ der menschlichen Triebe und Affekte, wie wir sie schon aus der griechischen Antike kennen und für die die Sexualität das Paradigma bildete. Anstatt über den Sex zu schweigen, hat man eher „einen Apparat zur Produktion von Diskursen über den Sex installiert, zur Produktion von immer mehr Diskursen, denen es gelang, zu funktionierenden und wirksamen Momenten seiner Ökonomie zu werden.“ (SuW 1, S.35)

Das Possessivpronomen ,seiner‛ (Ökonomie) im Zitat bezieht sich auf den zuvor genannten Sex. Die Diskurse über diesen Sex bilden also die Art und Weise, wie wir den Sex kontrollieren bzw. mit ihm ,haushalten‛. Wir haben es mit einer „Ökonomie der individuellen Lüste“ zu tun (vgl. SuW 1, S.35): „(M)an muß vom Sex sprechen wie von einer Sache, die man nicht einfach zu verurteilen oder zu tolerieren, sondern vielmehr zu verwalten und in Nützlichkeitssysteme einzufügen hat, einer Sache, die man zum größtmöglichen Nutzen aller regeln und optimal funktionieren lassen muß.“ (SuW 1, S.36)

In dem gut tausend Jahre umfassenden Zeitrum der griechischen Antike bis zum frühen Christentum steht das Individuum in ei­nem Spannungsverhältnis zur gesellschaftlichen Ökonomie, die über die Individuen verfügt. In der patriarchal verfaßten Gesellschaftsordnung der Antike waren es überhaupt nur die freien Männer, also die wohlhabenden Grundbesitzer, die für sich individuelle Rechte in Anspruch nehmen, sich um ihre individuelle Bildung kümmern und am politischen Leben teilhaben konnten.

In der Neuzeit, also seit dem 16. Jhdt., schließen die modernen Staaten für ihre Bevölkerungspolitik wieder an den antiken Diskurs zur Ökonomie der Lüste an: „Die Regierungen entdecken, daß sie es nicht nur mit Untertanen, auch nicht bloß mit einem ,Volk‛, sondern mit einer ,Bevölkerung‛ mit spezifischen Problemen und eigenen Variablen zu tun haben wie Geburtenrate, Sterblichkeit, Lebensdauer, Fruchtbarkeit, Gesundheitszustand, Krankheitshäufigkeit, Ernährungsweise und Wohnverhältnis­sen. ... Im Zentrum des ökonomischen und politischen Problems der Bevölkerung steht der Sex ...“ (SuW 1, S.37f.)

Die modernen Regierungen verstanden die sexuelle Ökonomie im wörtlichen Sinne als Teil einer Wirtschaftsordnung, die nur auf der Basis einer wachsenden Bevölkerung funktionieren konnte.

Regina Becker-Schmidt weist mit Bezug auf Hannelore Bublitz darauf hin, daß die Individuen für Foucault nur als „Machteffekte von Rhetoriken“, also von Diskursen von Interesse sind, „die in bestimmten historisch-gesellschaftlichen Praxen wirksam werden“. (In: Feministische Theorien (2000), S.126-146: 133) ‒ Sie hat insofern Recht, als Foucault zwischen Individuen und Subjekten dahingehend unterscheidet, daß die Wahrheitsfrage sich auf die Subjekte bezieht und nicht auf die Individuen. (Vgl. Foucaul 2004, S.34 und S.36) Insofern interessiert er sich tatsächlich vor allem für die Frage nach dem Subjekt.

Ich glaube allerdings, daß Foucault sich vor allem deshalb so intensiv mit diesem Thema auseinandersetzt, weil er aufgrund seiner individuellen Disposition als Homosexueller ein besonderes Interesse an dem Umgang mit Sexualität in der abendländischen Geschichte hat. Es geht ihm, um es mit Plessner zu sagen, in einem existenziellen Sinne um den Körperleib.

Mein Interesse ist dasselbe wie bei Foucault, wenngleich sich meine Motive einerseits als Heterosexueller, andererseits als ehemaliger Katholik von seinen Motiven unterscheiden mögen.

PS: Der Titel, den ich für die aktuelle Reihe von Blogposts gewählt habe, ist ein Zitat aus dem vierten Band von „Sexualität und Wahrheit“. (Vgl. SuW 4, S. 461)