Der Wille zur Wahrheit (1976/83; SuW 1)
Der Gebrauch der Lüste (1984/86; SuW 2)
Die Sorge um sich (1984/86; SuW 3)
Die Geständnisse des Fleisches (2018/19; SuW 4)
Der Gebrauch der Lüste (1984/86; SuW 2)
Die Sorge um sich (1984/86; SuW 3)
Die Geständnisse des Fleisches (2018/19; SuW 4)
1. Der aktuelle Stand
2. Der imaginäre Punkt
3. griechische Antike
‒ Diätetik (Kunst der Lebensführung)
‒ Männermoral
‒ Knabenliebe
4. Kaiserzeit‒ Männermoral
‒ Knabenliebe
‒ Diätetik
‒ Ehe und Zweiheit
‒ Mißbrauch der Zweiheit
5. frühes Christentum‒ Ehe und Zweiheit
‒ Mißbrauch der Zweiheit
‒ Diätetik
‒ Unwillkürlichkeit und Willkür
‒ Ehe und Zweiheit
‒ Erkenntnis
‒ Jungfräulichkeit
‒ Unwillkürlichkeit und Willkür
‒ Ehe und Zweiheit
‒ Erkenntnis
‒ Jungfräulichkeit
Die unter dem zumindest für mich etwas ungewöhnlich klingenden Titel erschienenen insgesamt vier Bände von Michel Foucault, „Sexualität und Wahrheit“, umfassen den Zeitraum der griechischen Antike vom fünften vorchristlichen Jahrhundert bis zum fünften nachchristlichen Jahrhundert, also etwa tausend Jahre. Ungewöhnlich ist für mich die Verknüpfung des Wahrheitsbegriffs mit der Sexualität, denn beides hatte, jedenfalls nach meiner Erfahrung, eigentlich immer reichlich wenig miteinander zu tun gehabt.
Darüber, wie er zu dieser Verknüpfung gekommen ist, gibt Foucault in den vier Bänden keinerlei Auskunft. Erst als ich mir nach der Lektüre der vier Bände seine Vorlesungen zur „Hermeneutik des Subjekts“ (2004) vornahm, stieß ich auf eine Textstelle, in der Foucault selbst, zumindest implizit, auf die Ungewöhnlichkeit dieser Themenstellung eingeht. Er verweist darauf, daß seit Descartes‛ Verengung der Philosophie auf die rationale Erkenntnis das Verständnis für die spezifisch griechische und griechisch-römische „Sorge um sich“, um die es auch dem „Erkenne dich selbst“ des Orakels von Delphi gegangen war, nämlich als Hinwendung zum persönlichen, individuellen Wohlergehen des Menschen, völlig verloren gegangen ist. An die Stelle des individuellen Glücks trat die Erkenntnisgewiß als oberster Zweck des philosophischen Denkens. (Vgl. Foucault 2004, S.28ff.)
Die Wahrheit, um die es in „Sexualität und Wahrheit“ geht, ist deshalb keine Erkenntniswahrheit, die wir der objektiven Beobachtung und der logisch-mathematischen Reflexion verdanken, sondern eine Wahrheit, die das Subjekt „erleuchtet“: „(D)ie Wahrheit schenkt dem Subjekt Glückseligkeit, die Wahrheit verschafft dem Subjekt Seelenruhe. Kurz, in der Wahrheit und im Zugang zur Wahrheit liegt etwas, das die Vollendung des Subjekts vollbringt(.)“ (Vgl. Foucault 2004, S.34)
Die Sexualität wiederum hat die Philosophen der griechischen Antike immer beunruhigt; aus zweierlei Gründen: zum einen läuft der Geschlechtsakt auf einen konvulsivischen, unkontrollierbaren Höhepunkt hinaus und zum zweiten bedrohen gewisse sexuelle Praktiken die Position des Mannes in der patriarchalen Struktur der griechischen Polis. Um es deutlich zu sagen: der Mann liegt oben, die Frau liegt unten. In diesem Fall ist das kein Problem. Zum Problem wird es erst, wenn Männer miteinander Sex haben. Diskutiert wird das Problem aber vor allem bei Sex zwischen erwachsenen Männern und Knaben, und dann geht es vor allem um die künftige Position des Knaben als freier Mann in der Polisgesellschaft, die nicht durch seine Unterwerfung beim Geschlechtsakt gefährdet werden darf.
Unter anderem um solche heiklen Fragen geht es bei dem Titel „Sexualität und Wahrheit“. Der erste Band, „Der Wille zur Wahrheit“ (SuW 1), ist gewissermaßen die Einleitung zu den folgenden drei Bänden. In ihm skizziert Foucault den aktuellen Stand der Dinge hinsichtlich seines Themas: „Die Sexualität wird sorgfältig eingeschlossen. Sie richtet sich neu ein, wird von der Kleinfamilie konfisziert und geht ganz im Ernst der Fortpflanzung auf. Um den Sex breitet sich Schweigen. Das legitime, sich fortpflanzende Paar macht das Gesetz.“ (SuW 1, S.11)
Das ist gewissermaßen die ,Wahrheit‛ der Kleinfamilie. Verständlicherweise interessiert sich Foucault nicht für diese Art von Wahrheit. Wer jetzt allerdings an die 1950er Jahre denkt, wie auch ich es zunächst tat, ist auf dem Holzweg. Damals gab es den Kinsey-Report (1948/55 und 1953/54) und der wurde bis in die 1960er und 1970er Jahre hinein diskutiert. Man kann also nicht sagen, daß sich um den Sex Schweigen ausbreitete. Foucault meint die Viktorianische Epoche des 19. Jhdts., und in der wurde tatsächlich nicht über Sex geredet.
In den folgenden drei Bänden geht es eben darum: wie von der griechischen Antike bis zu den Anfängen des Christentums über den Sex geredet wurde. Dabei geht es zwar um verschiedene Ansätze zur ‚Wahrheit‛ des Sexes, aber immer liegt ihnen die gleiche ontologische Frage nach dem ‚Sein‛ vor allem der männlichen Sexualität bzw. Subjektivität zugrunde. Wir haben es mit einer ontologischen Deutung der sexuellen Praktiken in verschiedenen Phasen des Patriarchats in dem oben genannten, tausend Jahre umfassenden Zeitraum zu tun.
Foucault behauptet, daß die gesellschaftliche Bedeutung der Sexualität weniger in einer Jahrhunderte oder gar Jahrtausende langen Unterdrückung sexueller Praktiken besteht (das aber auch!), auch nicht in der Neuzeit ab dem 16./17. Jhdt., sondern vielmehr im exzessiven Reden über Sexualität; einem Reden, das wiederum Teil einer peniblen Kontrolle des Menschen war und immer noch ist. Gegenstand dieser Kontrolle war und ist die ‚Ökonomie’ der menschlichen Triebe und Affekte, wie wir sie schon aus der griechischen Antike kennen und für die die Sexualität das Paradigma bildete. Anstatt über den Sex zu schweigen, hat man eher „einen Apparat zur Produktion von Diskursen über den Sex installiert, zur Produktion von immer mehr Diskursen, denen es gelang, zu funktionierenden und wirksamen Momenten seiner Ökonomie zu werden.“ (SuW 1, S.35)
Das Possessivpronomen ,seiner‛ (Ökonomie) im Zitat bezieht sich auf den zuvor genannten Sex. Die Diskurse über diesen Sex bilden also die Art und Weise, wie wir den Sex kontrollieren bzw. mit ihm ,haushalten‛. Wir haben es mit einer „Ökonomie der individuellen Lüste“ zu tun (vgl. SuW 1, S.35): „(M)an muß vom Sex sprechen wie von einer Sache, die man nicht einfach zu verurteilen oder zu tolerieren, sondern vielmehr zu verwalten und in Nützlichkeitssysteme einzufügen hat, einer Sache, die man zum größtmöglichen Nutzen aller regeln und optimal funktionieren lassen muß.“ (SuW 1, S.36)
In dem gut tausend Jahre umfassenden Zeitrum der griechischen Antike bis zum frühen Christentum steht das Individuum in einem Spannungsverhältnis zur gesellschaftlichen Ökonomie, die über die Individuen verfügt. In der patriarchal verfaßten Gesellschaftsordnung der Antike waren es überhaupt nur die freien Männer, also die wohlhabenden Grundbesitzer, die für sich individuelle Rechte in Anspruch nehmen, sich um ihre individuelle Bildung kümmern und am politischen Leben teilhaben konnten.
In der Neuzeit, also seit dem 16. Jhdt., schließen die modernen Staaten für ihre Bevölkerungspolitik wieder an den antiken Diskurs zur Ökonomie der Lüste an: „Die Regierungen entdecken, daß sie es nicht nur mit Untertanen, auch nicht bloß mit einem ,Volk‛, sondern mit einer ,Bevölkerung‛ mit spezifischen Problemen und eigenen Variablen zu tun haben wie Geburtenrate, Sterblichkeit, Lebensdauer, Fruchtbarkeit, Gesundheitszustand, Krankheitshäufigkeit, Ernährungsweise und Wohnverhältnissen. ... Im Zentrum des ökonomischen und politischen Problems der Bevölkerung steht der Sex ...“ (SuW 1, S.37f.)
Die modernen Regierungen verstanden die sexuelle Ökonomie im wörtlichen Sinne als Teil einer Wirtschaftsordnung, die nur auf der Basis einer wachsenden Bevölkerung funktionieren konnte.
Regina Becker-Schmidt weist mit Bezug auf Hannelore Bublitz darauf hin, daß die Individuen für Foucault nur als „Machteffekte von Rhetoriken“, also von Diskursen von Interesse sind, „die in bestimmten historisch-gesellschaftlichen Praxen wirksam werden“. (In: Feministische Theorien (2000), S.126-146: 133) ‒ Sie hat insofern Recht, als Foucault zwischen Individuen und Subjekten dahingehend unterscheidet, daß die Wahrheitsfrage sich auf die Subjekte bezieht und nicht auf die Individuen. (Vgl. Foucaul 2004, S.34 und S.36) Insofern interessiert er sich tatsächlich vor allem für die Frage nach dem Subjekt.
Ich glaube allerdings, daß Foucault sich vor allem deshalb so intensiv mit diesem Thema auseinandersetzt, weil er aufgrund seiner individuellen Disposition als Homosexueller ein besonderes Interesse an dem Umgang mit Sexualität in der abendländischen Geschichte hat. Es geht ihm, um es mit Plessner zu sagen, in einem existenziellen Sinne um den Körperleib.
Mein Interesse ist dasselbe wie bei Foucault, wenngleich sich meine Motive einerseits als Heterosexueller, andererseits als ehemaliger Katholik von seinen Motiven unterscheiden mögen.
PS: Der Titel, den ich für die aktuelle Reihe von Blogposts gewählt habe, ist ein Zitat aus dem vierten Band von „Sexualität und Wahrheit“. (Vgl. SuW 4, S. 461)
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