„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Montag, 3. November 2025

Geld und Freiheit

Georg Simmel, Philosophie des Geldes (2009/1900)

Wilhelm von Humboldt:

Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen (1792/1980)

Theorie der Bildung des Menschen (undatiert/1980)

Jürgen Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns (3/1985, 2 Bde.)


1. Freiheit und Begehren
2. „individuelle Freiheit“
3. Freiheit und Entfremdung

Der Begriff der Entfremdung, wie ich ihn aus der Bildungsphilosophie kenne, reicht mehr als hundert Jahre vor dem Erscheinen von Simmels „Philosophie des Geldes“ (1900) zurück ins 18. und 19. Jhdt. und ist mit Namen wie Jean-Jacques Rousseau, Wilhelm von Humboldt, Georg Wilhelm Friedrich Hegel und Karl Marx verknüpft. Wilhelm von Humboldt sah den Kern der Bildung in einem bestimmten Verhältnis von Mensch und Welt, und Entfremdung bestand für ihn in einer massiven Störung dieses Mensch-Welt-Verhältnisses. Die Menschenwelt drohte in Humboldts Augen schon damals, die Naturwelt so vollständig unter ihre Kontrolle zu bringen, daß von ihr keine bildende Wirkung mehr ausging. (Vgl. „Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen“ (1792/1980) und „Theorie der Bildung des Menschen“ (undatiert/1980))

Humboldt ging davon aus, daß sich die Menschen, ohne die Gelegenheit, Widerstände zu überwinden, wie sie ihnen die nichtmenschliche Natur entgegensetzte, nicht mehr als Handlungssubjekte erleben können. Wo alles in der Menschenwelt aufgeht, gibt es keine Welt mehr, an derem Widerstand sie sich zum Menschen formen können. Wo ihnen nichts mehr fremd ist, werden sie sich selbst entfremdet.

Auch Simmel hatte im ersten Kapitel von „Philosophie des Geldes“ den ,Wert‛ der Welt auf den Widerstand zurückgeführt, den die Objekte unserem Begehren leisten. Im vierten Kapitel nimmt er das überraschenderweise wieder zurück: an einer Stelle, in der es darum geht, daß kein Besitz von Dauer ist, weil alles in der Welt veränderlich ist. Um aus diesen ständigen Veränderungsprozessen einzelne Objekte herauszufiltern und ihrem quasi-flüssigen Zustand eine bestimmte Gestalt zuzuordnen, muß man sie identifizieren. Die „ewigen Naturgesetze“, von denen wir keineswegs wissen können, ob sie wirklich ewig sind, sollen uns dabei helfen. (Vgl. Simmel 2009, S.467f.)

Was die objektiven Gegenstände betrifft, führen Simmels Überlegungen zu einem überraschenden Geständnis: „Gewiß ist der objektive Gegenstand im gleichen Sinn (wie ein Erkenntnisgegenstand ‒ DZ) zu unterscheiden von den subjektiven Wahrnehmungen, in denen er sich darstellt; allein seine Bedeutung besteht doch nur darin, jede überhaupt mögliche Wahrnehmung seiner eindeutig zu bestimmen(.)“ (Vgl. Simmel 2009, S.468)

Simmel interessiert sich hier also nur noch für die Identifizierbarkeit von Objekten, und nicht mehr für ihre Widerständigkeit, und das so wenig, daß er sich einen anderen Zweck als den der Identifizierung gar nicht mehr vorstellen kann oder will. Das paßt zur Funktionsweise des Geldes, das alles quantifiziert. Quantifizieren bedeutet identifizieren. Um eine Menge zu bilden, müssen die ,Quanten‛ durch Zahlen repräsentiert werden können. Ein Etwas ist Eins, zwei Etwas sind zwei Eins, drei Etwas sind drei Eins usw. Wo ,etwas‛ zählbar wird, verliert es seine Widerständigkeit. Wo nur noch das Quantifizieren ‚zählt‛, und das ist in der Geldwirtschaft der Fall, verlieren wir die Welt. Es gibt kein Mensch-Weltverhältnis mehr.

Simmels Freiheitsbegriff beruht auf der Beschaffenheit der Objekte, die wir begehren. Anders als bei der Wertbestimmung dieser Objekte, ist der Mensch am freiesten dort, wo die Objekte ihm keinen Widerstand leisten. Das gilt auch für die Mitmenschen, an die wir uns gebunden (verpflichtet) fühlen. Am freiesten sind wir dort, wo wir ihnen gegenüber nicht verantwortlich (rechenschaftspflichtig) sind. Simmel schlägt vor, sich eine Skala vorzustellen, auf der wir die Objekte in unseren Besitz nach dem Grad ihrer Widerständigkeit bestimmen:

„Die Freiheit findet nun ihre Grenze an der Beschaffenheit des besessenen Objektes selbst. Das wird schon demjenigen Objekt gegenüber sehr fühlbar, das wir doch am unbeschränktesten zu besitzen glauben, unserem Körper. Auch er gibt den psychischen Impulsen nur innerhalb der eigenen Gesetze seiner Konstitution nach, und gewisse Bewegungen und Leistungen kann unser Wille nicht mit irgendwelchem Erfolge von ihm verlangen. ... Im Großen und Ganzen ist der Wille unseren Lebensbedingungen so angepaßt, daß er von den Dingen nicht verlangt, was sie nicht leisten können, daß die Beschränkung unserer Freiheit durch die eigenen Gesetze des Besitzes ihnen gegenüber nicht zu positiver Empfindung gelangt; dennoch ließe sich eine Skala der Objekte aufstellen, von der Frage aus, wie weit das Wollen sich im allgemeinen ihrer bemächtigen kann und von wo an sie diesem nicht mehr durchdringbar sind, wie weit sie also wirklich ,besessen‛ werden können.“ (Simmel 2009, S.501f.)

Mit Simmel können wir eine Linie ziehen, die mit der Genese des Wertes beginnt, als einem Effekt des Widerstands der Objekte, die sich unserem Begehren nicht fügen, bis hin zum Geld als dem Wertobjekt, das sich am schmiegsamsten unserem Willen anpaßt, williger noch als unser eigener Körper. Paradoxerweise erweist sich die durchs Geld ermöglichte Omnipotenz schlußendlich als Ruin unserer Freiheit:

„(N)ur indem ein Objekt etwas für sich ist, kann es etwas für uns sein; nur also, indem es unserer Freiheit eine Grenze setzt, gibt es ihr Raum. Diese logische Entgegengesetztheit, in deren Spannung sich demnach die Einheit unseres Verhaltens zu den Dingen realisiert, erreicht am Gelde ihr Maximum: es ist mehr für uns, als irgendein Besitzstück, weil es uns ohne Reserve gehorcht ‒ und es ist weniger für uns, als irgendeines, weil ihm jeglicher Inhalt fehlt, der über die bloße Form des Besitzes hinaus aneigenbar wäre. Wir haben es mehr als alles andere, aber wir haben haben weniger an ihm, als an allem anderen.“ (Simmel 2009, S.503)

Simmel beschreibt hier den Zustand der vollkommenen Entfremdung, ohne diesen Begriff zu verwenden. Ohne es so deutlich auf den Punkt zu bringen, preist Simmel die neue individuelle Freiheit, die der Mensch dem Geld verdankt, als eine gleichermaßen weltlose wie selbstbezügliche Existenzform: „Indem das Geld gleichsam einen Keil zwischen die Person und die Sache treibt, zerreißt es zunächst wohltätige und stützende Verbindungen, leitet aber doch jene Verselbständigung beider gegeneinander ein, in der jedes von beiden seine volle, befriedigende, von dem andern ungestörte Entwicklung finden kann.“ (Simmel 2009, S.525)

Auffällig ist, daß Simmel hier die Weltseite, nämlich die glücklicherweise überwundenen Bindungen an Menschen und Sachen, mit ‚der‛ Sache gleichsetzt, denn mit dieser Sache ist nicht etwa ein objektiver Sachverhalt gemeint, der mit dem umfassenden Anspruch einer Welt einherginge, sondern sich den gleichermaßen reduzierten wie abstrakten Kriterien der Geldwirtschaft unterwirft. Indem also das Geld einen „Keil“ zwischen der Person und der Geldwirtschaft ‒ auf nichts anderes läuft diese ‚Sache‛ hinaus ‒ treibt, wird alles, was die Welt einmal sonst noch gewesen ist, der Person übertragen und ihr als Freiheit, nach dem Motto: nun verwirkliche dich mal schön, gutgeschrieben. Aber dieses subjektive Konto ist bloße Einbildung. Es gibt keine sich für sich verwirklichenden ,Personen‛, weil ihre Welt keine Welt mehr ist.

Einer der hauptsächlichen Effekte der Geldwirtschaft, die Arbeitsteilung, die bzw. der bis dahin, bis Simmel, als Entfremdung beklagt wurde und dem man einmal mit Bildung zu begegnen versucht hatte, soll nun plötzlich für Freiheit stehen und nicht mehr für Unfreiheit. Wenn Simmel damit argumentiert, daß bislang „das Äußerliche und bloß Zweckmäßige ... noch mit dem Persönlich-Subjektiven des Individuums allzu eng assoziiert“ gewesen sei (vgl. Simmel 2009, S.524f.), übersieht er geflissentlich, daß gerade die Individualität ihren Ausdruck in eben der Verbindung mit der Welt findet, die Simmel als ‚Bindung‛ mit Unfreiheit gleichsetzt, und nicht in der arbeitsteiligen Distanz zu ihr; eine Distanz, die diese Welt dem „rein technischen Betriebe“ überläßt, so daß jetzt „jedes“, nämlich der Mensch für sich und der Betrieb für sich, „seinen eigenen Gesetzen ganz anders folgen kann“ (vgl. Simmel 2009, S.517).

Die Frage, die sich hier stellt, ist eben nicht, wie der Umgang mit der Welt durch ihre wirtschaftliche Vernutzung noch mehr und noch gründlicher vom „Persönlich-Subjektiven des Individuums“ (Simmel 2009, S.525) getrennt werden kann, sondern die Frage, wenn denn eine Versöhnung als undenkbar erscheint, wie wenigsten die Folgen dieser Trennung gemildert und erträglicher gemacht werden können.

Die Konsequenz des Simmelschen Freiheitsbegriffs hat Jürgen Habermas mit dem Begriff der „Kolonialisierung der Lebenswelt“ (vgl. „Theorie des kommunikativen Handelns“ (3/1985, 2 Bde.)) auf den Punkt gebracht. Simmel selbst beschreibt diese Kolonialisierungsprozesse, ohne diesen Begriff zu seiner Zeit schon zur Verfügung zu haben: „Wenn unter mehreren Interessen, die die Vereinigung eines Kreises (Lebenskreises: Familie, Verein etc. ‒ DZ) ausmachen, das eine auf alle anderen zerstörend wirkt, so wird natürlich dieses selbst die anderen überleben und schließlich noch die einzige Verbindung zwischen den Ebenen darstellen, deren sonstige Zusammenhänge es zernagt hat. Nicht nur aufgrund seines immanenten Charakters, sondern gerade weil es auf so viele andere Verbindungsarten der Menschen destruktiv wirkt, sehen wir das Geld den Zusammenhang zwischen sonst ganz zusammenhanglosen Elementen herstellen. Und es gibt heute vielleicht keine Assoziation von Menschen mehr, die nicht, als Ganzes, irgendein Geldinteresse einschlösse, und sei es nur die Saalmiete einer religiösen Korporation. Durch den Charakter des Zweckverbandes aber, den das Einungsleben deshalb mehr und mehr annimmt, wird es mehr und mehr entseelt; die ganze Herzlosigkeit des Geldes spiegelt sich so in der sozialen Kultur, die von ihm bestimmt wird.“ (Simmel 2009, S.540; Hervorhebungen ‒ DZ)

Wir haben es hier mit einer geradezu klassischen Beschreibung der fortschreitenden Entfremdung, eben der ,Entseelung‛ der Lebenswelt (Einungsleben) zu tun, als deren Symptom Simmel den Sozialismus nennt, der zwischen der „Rationalisierung des Lebens“ und den „dumpfen kommunistischen Instinkten“ ‚primitiverer‛ Stufen der Kulturentwicklung zu vermitteln versucht. Simmel stellt den höheren Kulturstufen der Geldwirtschaft gerne ,primitive‛ Epochen gegenüber. (Vgl. Simmel 2009, S.93, 161, 125f., 178-183, 185,189, 418, 441, 453f., 464, 497f. u.ö.). Jedenfalls, so Simmel, tauchen diese uralten Instinkte in der gegenwärtigen Geldwirtschaft wieder auf, und zwar als Reaktion auf die entseelenden Rationalisierungsprozesse:

„In dieser Zweiheit von Motivierungen, deren psychische Standorte einander polar entgegengesetzt sind, und die ihn einerseits als das äußerste Entwicklungsprodukt der rationalistischen Geldwirtschaft, andererseits als die Verkörperung des undifferenziertesten Instinktes und Gefühlslebens zeigen, liegt wohl die Eigenart seiner (des Sozialismus ‒ DZ) Anziehungskraft: er ist Rationalismus und Reaktion auf den Rationalismus.“ (Simmel 2009, S.541)

Dieser sozialistischen Reaktion auf den Rationalismus steht Simmel offensichtlich sehr reserviert gegenüber, wenn er sie als „Verlängerung des undifferenziertesten Instinktes und Gefühlslebens“ disqualifiziert. Statt die Notwendigkeit einer humanen Antwort auf die von der Geldwirtschaft verursachten Entfremdungsprozesse anzuerkennen und zu diskutieren, verbreitert Simmel die Kluft zwischen entfremdender Rationalisierung und atavistischen Pathologien noch mit der nüchternen Feststellung, daß „das Geldwesen das Individuum auf sich rückwärts konzentriert und ihm als Objekte der persönlichen und Gemütshingabe einerseits nur die allerengsten individuellen Beziehungen, wie Familie und Freundschaft, andererseits nur den weitesten Kreis, etwa des Vaterlands oder der Menschheit überhaupt übrig gelassen hat“. (Simmel 2009, S.541)

Die Heilung der durch die Geldwirtschaft geschlagenen Wunden (Entseelung) sieht Simmel weder in gesellschaftlichen Reformen oder Revolutionen noch in individuellen Bildungsprozessen, sondern in der Geldwirtschaft selbst: „Indem das Geld als ein abstraktes Gebilde sich aus den wirtschaftlichen Wechselwirkungen eines relativ großen Kreises herstellt, indem es andererseits durch seinen bloßen Quantitätscharakter den genauesten mechanischen Ausdruck jedes Sonderanspruchs, jedes Wertes individueller Leistung, jeder personalen Tendenz gestattet, vollendet es im Wirtschaftlichen erst jene allgemeine soziologische Korrelation zwischen der Ausdehnung der Gruppe und der Ausbildung der Individualität.“ (Simmel 2009, S.549f.)

Bildung im humboldtschen Sinne, die nichts anderes zum Gegenstand hat als die ganze Welt, ist überflüssig. Die Geldwirtschaft wird schon alles richten.

* * *

Anfang Dezember poste ich die letzten drei Blogposts zu Simmels „Philosophie des Geldes“.

Sonntag, 2. November 2025

Geld und Freiheit

Georg Simmel, Philosophie des Geldes (2009/1900)


1. Freiheit und Begehren
2. „individuelle Freiheit“
3. Freiheit und Entfremdung

Gleich zu Beginn des vierten Kapitels setzt Simmel seinen Kontrapunkt zu Kants Moralphilosophie. Unfrei ist der Mensch nicht nur im Sinne einer Naturkausalität, in der jede Wirkung eine Ursache hat und im Sinne der dritten kosmologischen Idee eine unendliche Reihe in Richtung auf eine nie zu erreichende Erstursache eröffnet, sondern auch im Sinne einer moralischen Verpflichtung gegenüber seinen Mitmenschen: „Jeder Verpflichtung, die nicht einer bloßen Idee gegenüber steht, entspricht das Forderungsrecht eines Anderen, weshalb denn die Moralphilosophie allenthalben die sittliche Freiheit mit denjenigen Verpflichtungen identifiziert, die ein ideeller oder gesellschaftlicher Imperativ oder die das eigene Ich uns auferlegt.“ (Simmel 2009, S.429f.)

Das ist von Simmel bewußt vorsichtig formuliert. Niemand kann ihm vorwerfen, er lehne Kants kategorischen Imperativ ab, denn hier haben wir es ja nur mit einer „bloßen Idee“ zu tun. Er spricht bloß von der Abhängigkeit von anderen Menschen und kann deshalb alle Angriffe auf sich damit abwehren, daß er sich selbstbewußt auf Kants Seite stellt: Gerade Kant lehne ja, so kann er argumentieren, jede Abhängigkeit von anderen Menschen ab, da der kategorische Imperativ mit dem guten Willen des Handlungssubjekts übereinstimmt und ihm nicht von anderen Menschen und schon gar nicht von kirchlichen und staatlichen Autoritäten aufgezwungen werden könne.

Aber das ist Wortklauberei. Wenn Simmel von der individuellen Freiheit spricht, argumentiert er nicht mit einer Freiheit jenseits der Naturkausalität und jenseits von gesellschaftlichen Autoritäten, sondern mit einer sich von jeder Verantwortung der menschlichen Gemeinschaft gegenüber lossagenden persönlichen Freiheit. Simmels Vorgehen ist einer „Philosophie des Geldes“ geschuldet, wie er sie in seinem Buch vor allem als wirtschaftliche Abhängigkeit entwickelt, diese aber gleichzeitig in eine individuelle Unabhängigkeit umdeutet.

Wir haben es hier, Abhängigkeit als Unabhängigkeit, mit einer Antinomie zu tun, die von Simmel dadurch aufgelöst wird, daß er eine neue gesellschaftliche Kausalität postuliert, die nicht mehr durch die unmittelbare Abhängigkeit zwischen Mensch und Mensch bestimmt ist, sondern durch ein unpersönliches, sachliches Drittes: durch das Geld. Wo alle gesellschaftlichen Aktivitäten mit Hilfe des Geldes entsubjektiviert bzw. mit Simmel „entseelt“ werden (vgl. Simmel 2009, S.540), sind, so behauptet zumindest Simmel, die Individuen freigestellt, sich ihre eigenen Zwecke zu setzen: „Indem das Geld als ein abstraktes Gebilde sich aus den wirtschaftlichen Wechselwirkungen eines relativ großen Kreises (z.B. einer Nation ‒ DZ) herstellt, indem es andererseits durch seinen bloßen Quantitätscharakter den genauesten mechanischen Ausdruck jedes Sonderanspruchs, jedes Wertes individueller Leistung, jeder personalen Tendenz gestattet, vollendet es im Wirtschaftlichen erst jene allgemeine soziologische Korrelation zwischen der Ausdehnung der Gruppe und der Ausbildung der Individualität.“ (Simmel 2009, S.549f.)

Die Formel, die Simmel hier aufstellt ist so schlicht, wie sie verblüffend ist: je mehr Menschen von der Geldwirtschaft erfaßt und von ihr abhängig gemacht werden, um so größer die individuelle Freiheit.

Die Evolution der individuellen Freiheit vollzieht sich in drei Stufen: auf der er­sten befinden sich Sklavenhaltergesellschaften, in denen sich die Abhängigkeit des Sklaven vom Sklavenhalter auf die ganze Person erstreckt. (Vgl. Simmel 2009, S.430f.) Diese Abhängigkeit reduziert sich auf der zweiten Stufe in der Abhängigkeit der Hörigen gegenüber einem Gutsbesitzer. Der Hörige liefert dem Gutsherrn die Fron in Form von Naturalien. Diese Naturalien, welche und wie viel, sind zwar festgelegt, aber darin, wie der Hörige sie erwirtschaftet, ist er frei. Der Gutsherr interessiert sich nur für das Produkt. Die persönliche Abhängigkeit vom Gutsherrn ist also im Vergleich zum Sklavenhalter gelockert. (Vgl. Simmel 2009, S.431f.)

Die dritte Stufe ist die Ablösung der Naturalien durch Geld: „Die dritte Stufe, bei der aus dem Produkt die Persönlichkeit wirklich ausgeschieden ist und der Anspruch sich gar nicht mehr in diese hineinerstreckt, wird mit der Ablösung der Naturabgabe durch die Geldabgabe erreicht.“ (Simmel 2009, S.433)

Auf dieser Stufe entsteht die Möglichkeit, dem Gutsherrn die Naturabgabenpflicht durch Geldzahlungen abzukaufen: „Höher kann die persönliche Freiheit vor dem Wegfall jedes bezüglichen Rechtes des Grundherrn nicht steigen, als wenn die Verpflichtung des Untertanen in eine Geldabgabe verwandelt ist, die der Grundherr annehmen muß.“ (Simmel 2009, S.438)

Nun wissen wir aber ‒ und Simmel weiß das ebenfalls ‒, daß auf die Abhängigkeit der Bauern und der Landbevölkerung von den Landbesitzern, eine weitere Stufe folgt: die Lohnarbeit; und diese führt zu ganz neuen Abhängigkeiten der Lohnarbeiter vom Unternehmer. Hier ist das Geld kein Mittel der Befreiung mehr, sondern ein Medium extremer Stratifizierungen. Die gesellschaftliche Kausalität, die hier die Form einer Naturgesetzlichkeit annimmt, wird also keineswegs durch die Verminderung von Abhängigkeiten durch die Gewährleistung neuer individueller Freiheiten außer Kraft gesetzt, sondern führt im Gegenteil zu Abhängigkeiten neuer Art, die diesmal gerade durch das Geld ermöglicht werden.

Die mit der Lohnarbeit einhergehende gesellschaftliche Kausalität wird in der institutionellen Form des unpersönlichen Dritten auf Dauer gestellt. Zu ,dritten‛ Personen werden Menschen überall dort, wo ihr persönlicher Umgang mit einander zunehmend dadurch bestimmt wird, daß sie aufgrund der fortgeschrittenen Arbeitsteilung für den Warentausch keine Verantwortung mehr übernehmen müssen. Simmel sieht darin eine die individuelle Freiheit ermöglichende Errungenschaft. (Vgl. Simmel 2009, S.447) Also: Freiheit = Verantwortungslosigkeit. Das ist genau das Gegenteil dessen, was Kant unter Freiheit versteht: „So ist also auf dem Gipfel der Geldwirtschaft ein Handelsmodus möglich geworden, der, durch die Überführung des subjektiven Fundaments des Geschäfts in ein objektives, beiden Parteien ihre Verantwortlichkeiten erleichtert und dem Vorteil der einen keinerlei Nachteil der anderen gegenüberstellt.“ (Simmel 2009, S.448)

Wenn das Geld den Besitzer gewechselt hat und die Ware verkauft ist, gehen beide, Käufer und Verkäufer, auseinander, ohne daß sich der Verkäufer weiter für die Ware interessiert und der Käufer noch irgendwelche Reklamationsansprüche geltend machen könnte. Er hat die Ware gesehen und geprüft und durch die Bezahlung deren Güte bestätigt: er hat bezahlt, was er bekommen hat. Das Geld macht persönliche Verantwortung überflüssig. Es befreit uns von dieser lästigen Verpflichtung. Bei Simmel geht also mit der Freiheit Verantwortungslosigkeit einher, während es bei Kant eine Freiheit ohne Verantwortung gar nicht geben kann.

Eben dies führt zu einer neuen, dem Geld geschuldeten Beziehungsform: die Beziehungsform der dritten Person: „Seit in den Boden, um ihm das erforderliche Früchtequantum abzugewinnen, ein erhebliches Betriebskapital versenkt werden muß, das meistens nur durch hypothekarische Beleihung aufkommt; seit die Geräte nicht mehr unmittelbar aus den Rohstoffen, sondern auf dem Wege über so und so viele Vorbearbeitungen hergestellt werden; seit der Arbeiter im wesentlichen mit Produktionsmitteln arbeitet, die ihm selbst nicht gehören ‒ hat die Abhängigkeit von dritten Personen ganz neue Gebiete ergriffen.“ (Simmel 2009, S.449f.)

Im zweiten Kapitel deutet sich diese neue Beziehungsform in folgender Textstelle an, in der Simmel den Sinn des Gleichheitszeichens in Ich = Du in sein Gegenteil verkehrt. Ohne es zu wissen, deutet Simmel hier das vielleicht unvermeidbare Ende jeder freien und gleichen Wechselbeziehung zwischen Ich und Du an: „(S)o unvergleichbar zwei Personen in ihren angebbaren Eigenschaften sein mögen, so stiften Beziehungen zu einem je dritten Menschen doch eine Gleichheit zwischen ihnen; sobald die erste die gleiche Liebe oder Haß, Herrschaft oder Unterworfenheit einer dritten gegenüber zeigt, wie die zweite einer vierten gegenüber, so haben diese Relationen hier der Fremdheit des Fürsichseins jener eine tiefe und wesentliche Gleichheit untergebaut.“ (Simmel 2009, S.184)

Nicht daß zwei Menschen verschiedene Eigenschaften haben können, ist hier für mich das Problem, da diese Verschiedenheit die Gleichheit und Freiheit zwischen ihnen nicht außer Kraft setzt; auch ist es kein Problem, daß zwei Menschen unabhängig von ihrer eigenen Wechselbeziehung gleichermaßen freie und gleiche Wechselbeziehungen auch zu anderen (dritten und vierten) Menschen haben können; sondern das Problem ist, daß Simmel die Gleichheit zwischen zwei Menschen erst mittels der Relativierung ihrer persönlichen Eigenschaften durch Ausweitung ihrer mitmenschlichen Kontakte auf dritte, vierte und mehr Personen gewährleistet sieht; eben im Sinne jenes weiter oben schon zitierten „großen Kreises“ (vgl. Simmel 2009, S.549f.). Wenn Simmel in diesem Zusammenhang von „substantieller Unmittelbarkeit“ spricht (vgl. Simmel 2009, S.184), bedeutet das, daß es ihm hier nicht um irgendwelche beliebigen Manifestationen wie „Liebe oder Haß“ geht, sondern um die Einzigartigkeit des Ich, die er gleichwohl ausgerechnet durch ihre Relativierung qua Ausweitung auf einen großen Kreis gewährleistet sieht.

Aber anstatt daß die individuelle Freiheit durch Verantwortungslosigkeit vergrößert wird, entstehen, wie schon erörtert, jetzt neue Abhängigkeiten gegenüber Dritten. Dabei soll es Simmel zufolge ein Vorteil sein, daß diese Abhängigkeit nur noch eine unpersönliche ist: „Während der Mensch der früheren Stufe die geringere Anzahl seiner Abhängigkeiten mit der Enge persönlicher Beziehung, oft persönlicher Unersetzbarkeit derselben bezahlen mußte, werden wir für die Vielheit unserer Abhängigkeiten durch die Gleichgültigkeit gegen die dahinter stehenden Personen und durch die Freiheit des Wechsels mit ihnen entschädigt. ... Dies ist nun die günstigste Lage, um innere Unabhängigkeit, das Gefühl individuellen Fürsichseins, zustande zu bringen.“ (Simmel 2009, S.454f.)

Mit der „Freiheit des Wechsels“ ist gemeint, daß wir ,dritte Personen‛ jederzeit durch andere austauschen können, z.B. wenn ein Handwerker schlechte Arbeitsergebnisse liefert, suchen wir uns einen anderen. Oder wenn uns ein Arbeitgeber schlecht behandelt, suchen wir uns einen anderen. Das Problem besteht darin, daß wir die Befreiung aus persönlichen Abhängigkeiten mit neuen unpersönlichen Abhängigkeiten bezahlen müssen, z.B. daß wir durch die Arbeitsteilung auf die Dienste von fremden Menschen angewiesen sind, wo wir früher entweder das meiste selbst tun oder es kundigeren Angehörigen der eigenen kleinen Gemeinschaft überlassen konnten. Daß diese ihre Dienste sorgfältig erledigten, gewährte das beidseitige, in langen Jahren gewachsene Vertrauensverhältnis.

Simmel preist hingegen die dem fehlenden Vertrauensverhältnis entsprechende „Indifferenz“ (Gleichgültigkeit) der anderen Person gegenüber als Voraussetzung individueller Freiheit: „Die Indifferenz spaltet sich erst allmählich zum Gegensatz, aus der Produktion, dem Produkte, dem Umsatz tritt das personale Element mehr und mehr zurück. Dieser Prozeß aber entbindet die individuelle Freiheit.“ (Simmel 2009, S.463)

Gleichermaßen materieller wie ideeller Garant dieser individuellen Freiheit ist das Geld: „Das Geld ist der absolut geeignete Träger eines eigenartigen Verhältnisses; denn es schafft zwar Beziehungen zwischen Menschen, aber es läßt die Menschen außerhalb derselben, es ist genau das Äquivalent für sachliche Leistungen, aber ein sehr inadäquates für das Individuelle und Personale an ihnen: die Enge der sachlichen Abhängigkeiten, die es stiftet, ist für das unterschiedsempfindliche Bewußtsein der Hintergrund, von dem sich die aus ihnen herausdifferenzierte Persönlichkeit und ihre Freiheit erst deutlich abhebt.“ (Simmel 2009, S.464)

Was Simmel hier beschreibt, nannte man früher mal Entfremdung. Dazu mehr im nächsten Blogpost.

Samstag, 1. November 2025

Geld und Freiheit

Georg Simmel, Philosophie des Geldes (2009/1900)
Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, Bd.2, Darmstadt 1983, S.478ff.


1. Freiheit und Begehren
2. „individuelle Freiheit“
3. Freiheit und Entfremdung

In den folgenden Blogposts befasse ich mich mit dem vierten Kapitel aus Simmels „Philosophie des Geldes“, in dem es um die individuelle Freiheit geht, die nach Simmels Auffassung erst durch das Geld möglich und in der heutigen Form der Geldwirtschaft, dem Kapitalismus, zur Vollendung gebracht wird. Freiheit ist ein zentraler Begriff der Moralphilosophie von Immanuel Kant, und Simmels Freiheitsbegriff setzt sich ganz spezifisch von ihr ab. Mit Geld hat Kants Moralbegriff nicht das geringste zu tun, und die Freiheit der Moralsubjekte besteht in der Befolgung von Pflichten. Grundlage des Kantischen Moralbegriffs ist der subjektive Wille des einzelnen Menschen, und dieser wiederum ist im moralischen Sinne nur dann gut bzw. ‚frei‛, wenn er der obersten Pflicht genügt, wie sie Kant im kategorischen Imperativ ausformuliert hat.

In der dritten von insgesamt vier kosmologischen Ideen setzt Kant die Freiheit der Naturkausalität entgegen. Simmel diskutiert zwar erst im vierten Kapitel das Problem der Freiheit, aber trotzdem haben seine Überlegungen im ersten Kapitel zur Wertbestimmung von einerseits begehrten Objekten und andererseits menschlichem Handeln moralphilosophische Implikationen. Hinzu kommt, daß Simmel diese Wertbestimmungen, aus denen er die heutige Geldwirtschaft als ihre höchste Entwicklungsstufe ableitet, am Muster der kosmologischen Ideen orientiert, wie sie Kant in seiner „Kritik der reinen Vernunft“ ausformuliert. (Vgl. Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, Bd.2, Darmstadt 1983, S.478ff.) Die dritte kosmologische Idee enthält schon den Kern der Moralphilosophie, die Kant in seiner „Grundlegung der Metaphysik der Sitten“ und in seiner „Kritik der praktischen Vernunft“ entwickelt. (In: Immanuel Kant, Werke in sechs Bänden, Bd.4, Darmstadt 1983, S.11ff. und S.107ff.)

Die moralphilosophischen Implikationen betreffen neben dem interindividuellen Verhältnis zwischen den Menschen, aber auch zwischen den Menschen und den Objekten, vor allem das intraindividuelle Verhältnis des Menschen zu sich selbst, also zwischen verschiedenen inneren Zuständen im einzelnen Menschen: „(A)lles sittliche Verdienst bedeutet, daß um der sittlich wünschenswerten Tat willen erst entgegengerichtete Triebe und Wünsche niedergekämpft und geopfert werden müßten. Wenn sie ohne jede Überwindung geschieht, als der selbstverständliche Erfolg ungehemmter Impulse, so wird ihr, so objektiv erwünscht ihr Inhalt sei, dennoch nicht in demselben Sinn ein subjektiv sittlicher Wert zugesprochen.“ (Simmel 2009, S.75)

Das entspricht dem Ansatz von Immanuel Kant, der stets betonte, wie sehr die Qualität des moralischen Handelns im Maß der Selbstüberwindung begründet ist, mit der wir uns selbst zur Einhaltung des kategorischen Imperativs nötigen müssen. Kant überhöht diese Nötigung zu einem moralischen Prinzip. Wenn wir nur aus Neigung so handeln, wie es dem kategorischen Imperativ entspricht, dann handeln wir nicht aus freiem Willen, sondern bleiben abhängig von unseren Launen und zufälligen Impulsen.

Simmel übernimmt scheinbar diese Position, denn sie paßt an dieser Stelle in sein Konzept. Er vermengt eine seiner zentralen Wertbestimmungen, nämlich die Widerständigkeit der äußeren Welt, die allererst den begehrten Objekten ihren Wert verleiht, mit der Widerständigkeit der inneren Bewußtseinswelt, in der sich unsere Gefühle in Form von ,Trieben‛ und ,Wünschen‛ den moralischen Anforderungen an unser Handeln widersetzen. Indem wir also unseren inneren Widerstand überwinden müssen, verleihen wir unserem moralischen Handeln einen ‚Wert‛. Ein Handeln, das auf keine inneren Widerstände stößt, hat also auch keinen moralischen Wert. Das Ergebnis ist wiedereinmal, daß der Wille sich gegen sich selbst richten muß, um einen Wert zu haben. Und damit befindet sich Simmel nicht nur in schlechter christlicher, sondern auch in ebenso schlechter Kantischer Tradition.

Für Kant wäre es widersinnig gewesen, dem einzelnen Menschen für den „selbstverständlichen Erfolg“ seiner „ungehemmten“, aber als solchen schon gutartigen „Impulse“ zu gratulieren. Seine Moralphilosophie führt die christliche Tradition fort, in der nur ein Wille zählt: der Wille Gottes. Denn auch bei ihm zählt nur ein Wille, dem wir unsere Neigungen und Gefühle unterwerfen, als hätten wir es bei ihnen nicht ebenfalls mit einem Willen zu tun, aber eben mit einem, dessen Charakter keineswegs mit moralischer Zwangsläufigkeit auf gut oder böse hin bestimmt werden muß.

Eine gute Tat, die eigene Begehrungen überwindet, hat durchaus ihren sittlichen Wert. Aber hat deshalb die gute Tat, die den eigenen Neigungen entspricht, keinen Wert? Ist es nicht vielmehr so, daß das Gute, das wir geben, erst dann als ‚Gabe‛ bezeichnet werden kann, wenn wir sie gerne geben und nicht widerwillig? Ist es nicht so, daß unser Widerwille, den wir mühsam überwinden, den Wert der Gabe, zu der wir uns zwingen müssen, mindert und sogar vernichtet?

Unser moralisches Handeln ist immer auch eine Gabe. Unsere Mitmenschen, als Einzelne schon gar nicht und je nach Kontext nicht mal immer als Gesellschaft, stehen in keinem ab­strakten Werteverhältnis zu unserem Handeln. Das bringt der Begriff der Gabe zum Ausdruck. Die Gabe konstituiert eine Beziehung, die in ihrer Unmittelbarkeit keines regulierenden Dritten bedarf. Deshalb hat der Tausch auch nicht die Form von Ich = Du. Es hat seinen guten Grund, wenn Simmel den Tausch als ein Drittes bezeichnet, um ein Gleichgewicht zu gewährleisten: „Der Tausch ist nicht die Addition zweier Prozesse des Gebens und Empfangens, sondern ein neues Drittes, das entsteht, indem jeder von beiden Prozessen im absoluten Zugleich Ursache und Wirkung des anderen ist.“ (Simmel 2009, S.80)

So funktioniert die freie und gleiche Wechselbeziehung zwischen Ich und Du nicht. Beide sind nicht Ursache und Wirkung des jeweils anderen, sondern beide sind Ich. Ein Drittes bildet sich zwischen ihnen, wenn sie sich gemeinsam darauf beziehen, als Referenz und nicht als Regulativ metaphysischer oder moralischer Art. Diese Dimension fehlt bei Simmel wie auch bei Kant.

Was ich der Zweiheit von Ich = Du zuordne: sich in der Begegnung einem anderen Menschen zu öffnen, beschreibt Simmel als eine Eigenschaft „primitiver Kulturen“. (Vgl. Simmel 2009, S.93) Sich auf einen Tausch einzulassen, so Simmel, bedeute für diese Menschen, sich eines Teils ihrer Persönlichkeit zu entäußern, was durchaus ein Aspekt der Zuwendung zum anderen Menschen sein kann: „Das Versenken also in die Subjektivität des Verhaltens zum Gegenstand läßt ihm (dem primitiven Menschen ‒ DZ) den Tausch ‒ naturaler wie interindividueller Art ‒, der mit Objektivierung der Seele und ihres Wertes zusammengeht, als untunlich erscheinen.“ (Simmel 2009, S.93)

Wenn sich also Menschen in sogenannten primitiven Kulturen weigern, sich auf einen Tauschhandel einzulassen, aber dennoch bereit sind, Gaben zu ‚tauschen‛, dann möglicherweise deshalb, weil sie zwischen auf Gewinn und Verlust basierendem Handel und zwischenmenschlicher Kommunikation zu unterscheiden wissen. In der Gabe, wie ich sie verstehe, wird das ,losgerissene Stück des Ich‛ (vgl. Simmel 2009, S.94) zur unsere Menschlichkeit rettenden Antwort auf den Hiatus. Das von mir abgespaltene Objekt wird nicht ,getauscht‛, sondern ,gegeben‛. Und das gilt eben auch für den „interindividuellen Umgang“, wo ich nicht irgendein Objekt ,gebe‛, sondern mich selbst.

So wird in dem Zitat auch deutlich, wie Simmel immer wieder zwei grundverschiedene Ebenen der Objektbeziehung miteinander vermengt. Wenn er vom Tausch „naturaler wie interindividueller Art“ spricht, meint er damit das Tauschen von Objekten der nicht-menschlichen Welt und den Austausch zwischen Menschen gleichermaßen, ohne einen Unterschied zwischen beidem zu machen. Auch aus diesem Grund bekommt Simmel auch dort, wo er von der Liebe spricht, die Besonderheit der freien und gleichen Wechselbeziehung zwischen zwei Menschen nicht in den Blick.

Simmel scheint also Kants moralphilosophischen Ansatz einfach zu übernehmen. Seltsam ist nur, daß er in diesem Zusammenhang überhaupt nicht auf Kants Freiheitsbegriff eingeht. Ich vermute, daß das daran liegt, daß Kant im Rahmen seiner Erörterungen zur dritten kosmologischen Idee einen Freiheitsbegriff diskutiert, der sich spezifisch von der Naturkausalität absetzt. Indem Kant zwischen einer Kausalität durch die Natur und einer Kausalität aus Freiheit unterscheidet, stellt er das Problem des guten Willens ins Zentrum seiner Moralphilosophie. Diesen guten Willen kennzeichnen Prädikate wie Pflicht und Verantwortung. Im vierten Kapitel zur individuellen Freiheit macht Simmel genau das Gegenteil: nicht der gute Wille, sondern der begehrende Wille steht bei ihm im Zentrum seines Freiheitsbegriffs und dessen Prädikate sind Verantwortungslosigkeit und die Unabhängigkeit von Verpflichtungen. (Vgl. Simmel 2009, S.461f.) Dieser Freiheitsbegriff, ungeachtet dessen, daß Simmel hier von einer individuellen Freiheit spricht, adressiert nicht die Person mit ihrem Willen, sondern unpersönliche, durch Geldinteressen zusammengehaltene Kollektive. (Vgl. Simmel 2009, S.537, 540f., 546f.)

Im Rahmen eines durch Konsuminteressen zusammengehaltenen Kollektivs sind die widerständigen Objekte, die sich unserem Begehren nicht fügen wollen, plötzlich von Übel. Konsum ist nur die andere Seite einer Geldwirtschaft, die, nach der Marxschen Formel G-W-G', von der Warenproduktion auf Geldproduktion umgestellt hat. Aber noch schlimmer als die Abhängigkeit von Objekten (vom Konsum) ist Simmel zufolge die Abhängigkeit von Menschen, denn von ihnen abhängig zu sein, impliziert eine persönliche, die eigene Person betreffende Abhängigkeit, wie wir sie nichtmenschlichen Objekten gegenüber nicht empfinden. Die größte Abhängigkeit ist also die des Menschen vom Menschen, weshalb die größte individuelle Freiheit dort zu suchen ist, wo diese Abhängigkeit auf ein Minimum reduziert ist. Und das ist beim Geld der Fall.

Im folgenden längeren Zitat wird die, im Vergleich zu Kant, Umkehrung der Prioritäten besonders deutlich: „Wenn die Moralphilosophie die sittliche Freiheit als die Unabhängigkeit der Vernunft von den sinnlich-egoistischen Impulsen zu definieren pflegt, so ist dies doch nur ein einseitiger Fall des ganz allgemeinen Ideals der Freiheit, das in der gesonderten Entfaltung, dem unabhängigen Sich-Ausleben einer Seelen-Energie allen anderen gegenüber besteht; auch die Sinnlichkeit ist ,frei‛, wenn sie mit den Normen der Vernunft nicht mehr verbunden, also nicht mehr durch sie gebunden ist, das Denken ist frei, wenn es nur seinen eigenen, ihm innerlichen Motiven folgt und sich von den Verknüpfungen mit Gefühlen und Wollungen gelöst hat, die es auf einen Weg, der nicht sein eigener ist, mitziehen wollen. So kann man Freiheit in diesem Sinne als innere Arbeitsteilung definieren, als eine gegenseitige Lösung und Differenzierung der Triebe, Interessen, Fähigkeiten. Der Mensch ist als ganzer frei, innerhalb dessen jede einzelne Energie ausschließlich ihren eigenen Zwecken und Normen gemäß sich entwickelt und auslebt.“ (Simmel 2009, S.480; Hervorhebung ‒ GS)

Jetzt geht es also nicht mehr darum, die inneren Neigungen zu überwinden, um so den moralischen Wert unseres Handelns zu erhöhen, sondern um der individuellen Freiheit willen geht es vielmehr darum, sie in ihrer ganzen Vielfalt auszuleben. Die Betonung liegt dabei auf der ganzen Vielfalt, denn wenn wir es zulassen, daß sich auch nur eine Neigung gegenüber allen anderen durchsetzt, und sei es auch die Neigung, moralisch zu handeln, dann würden wir uns als individuelle Person von dieser einzelnen Neigung abhängig machen. Das erinnert an meinen Begriff des Gefühlshaushalts, läuft aber, wie wir noch sehen werden, auf die Entfremdung und Isolierung des Menschen von der Welt und in der Gesellschaft hinaus.

Simmel löst also den Freiheitsbegriff vom Moralbegriff ab und stellt ihn anschließend noch über die Moral. Das aber affirmiert lediglich das, was, wie wir in den folgenden Blogposts sehen werden, in der Geldwirtschaft sowieso schon geschieht.