„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Montag, 3. November 2025

Geld und Freiheit

Georg Simmel, Philosophie des Geldes (2009/1900)

Wilhelm von Humboldt:

Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen (1792/1980)

Theorie der Bildung des Menschen (undatiert/1980)

Jürgen Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns (3/1985, 2 Bde.)


1. Freiheit und Begehren
2. „individuelle Freiheit“
3. Freiheit und Entfremdung

Der Begriff der Entfremdung, wie ich ihn aus der Bildungsphilosophie kenne, reicht mehr als hundert Jahre vor dem Erscheinen von Simmels „Philosophie des Geldes“ (1900) zurück ins 18. und 19. Jhdt. und ist mit Namen wie Jean-Jacques Rousseau, Wilhelm von Humboldt, Georg Wilhelm Friedrich Hegel und Karl Marx verknüpft. Wilhelm von Humboldt sah den Kern der Bildung in einem bestimmten Verhältnis von Mensch und Welt, und Entfremdung bestand für ihn in einer massiven Störung dieses Mensch-Welt-Verhältnisses. Die Menschenwelt drohte in Humboldts Augen schon damals, die Naturwelt so vollständig unter ihre Kontrolle zu bringen, daß von ihr keine bildende Wirkung mehr ausging. (Vgl. „Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen“ (1792/1980) und „Theorie der Bildung des Menschen“ (undatiert/1980))

Humboldt ging davon aus, daß sich die Menschen, ohne die Gelegenheit, Widerstände zu überwinden, wie sie ihnen die nichtmenschliche Natur entgegensetzte, nicht mehr als Handlungssubjekte erleben können. Wo alles in der Menschenwelt aufgeht, gibt es keine Welt mehr, an derem Widerstand sie sich zum Menschen formen können. Wo ihnen nichts mehr fremd ist, werden sie sich selbst entfremdet.

Auch Simmel hatte im ersten Kapitel von „Philosophie des Geldes“ den ,Wert‛ der Welt auf den Widerstand zurückgeführt, den die Objekte unserem Begehren leisten. Im vierten Kapitel nimmt er das überraschenderweise wieder zurück: an einer Stelle, in der es darum geht, daß kein Besitz von Dauer ist, weil alles in der Welt veränderlich ist. Um aus diesen ständigen Veränderungsprozessen einzelne Objekte herauszufiltern und ihrem quasi-flüssigen Zustand eine bestimmte Gestalt zuzuordnen, muß man sie identifizieren. Die „ewigen Naturgesetze“, von denen wir keineswegs wissen können, ob sie wirklich ewig sind, sollen uns dabei helfen. (Vgl. Simmel 2009, S.467f.)

Was die objektiven Gegenstände betrifft, führen Simmels Überlegungen zu einem überraschenden Geständnis: „Gewiß ist der objektive Gegenstand im gleichen Sinn (wie ein Erkenntnisgegenstand ‒ DZ) zu unterscheiden von den subjektiven Wahrnehmungen, in denen er sich darstellt; allein seine Bedeutung besteht doch nur darin, jede überhaupt mögliche Wahrnehmung seiner eindeutig zu bestimmen(.)“ (Vgl. Simmel 2009, S.468)

Simmel interessiert sich hier also nur noch für die Identifizierbarkeit von Objekten, und nicht mehr für ihre Widerständigkeit, und das so wenig, daß er sich einen anderen Zweck als den der Identifizierung gar nicht mehr vorstellen kann oder will. Das paßt zur Funktionsweise des Geldes, das alles quantifiziert. Quantifizieren bedeutet identifizieren. Um eine Menge zu bilden, müssen die ,Quanten‛ durch Zahlen repräsentiert werden können. Ein Etwas ist Eins, zwei Etwas sind zwei Eins, drei Etwas sind drei Eins usw. Wo ,etwas‛ zählbar wird, verliert es seine Widerständigkeit. Wo nur noch das Quantifizieren ‚zählt‛, und das ist in der Geldwirtschaft der Fall, verlieren wir die Welt. Es gibt kein Mensch-Weltverhältnis mehr.

Simmels Freiheitsbegriff beruht auf der Beschaffenheit der Objekte, die wir begehren. Anders als bei der Wertbestimmung dieser Objekte, ist der Mensch am freiesten dort, wo die Objekte ihm keinen Widerstand leisten. Das gilt auch für die Mitmenschen, an die wir uns gebunden (verpflichtet) fühlen. Am freiesten sind wir dort, wo wir ihnen gegenüber nicht verantwortlich (rechenschaftspflichtig) sind. Simmel schlägt vor, sich eine Skala vorzustellen, auf der wir die Objekte in unseren Besitz nach dem Grad ihrer Widerständigkeit bestimmen:

„Die Freiheit findet nun ihre Grenze an der Beschaffenheit des besessenen Objektes selbst. Das wird schon demjenigen Objekt gegenüber sehr fühlbar, das wir doch am unbeschränktesten zu besitzen glauben, unserem Körper. Auch er gibt den psychischen Impulsen nur innerhalb der eigenen Gesetze seiner Konstitution nach, und gewisse Bewegungen und Leistungen kann unser Wille nicht mit irgendwelchem Erfolge von ihm verlangen. ... Im Großen und Ganzen ist der Wille unseren Lebensbedingungen so angepaßt, daß er von den Dingen nicht verlangt, was sie nicht leisten können, daß die Beschränkung unserer Freiheit durch die eigenen Gesetze des Besitzes ihnen gegenüber nicht zu positiver Empfindung gelangt; dennoch ließe sich eine Skala der Objekte aufstellen, von der Frage aus, wie weit das Wollen sich im allgemeinen ihrer bemächtigen kann und von wo an sie diesem nicht mehr durchdringbar sind, wie weit sie also wirklich ,besessen‛ werden können.“ (Simmel 2009, S.501f.)

Mit Simmel können wir eine Linie ziehen, die mit der Genese des Wertes beginnt, als einem Effekt des Widerstands der Objekte, die sich unserem Begehren nicht fügen, bis hin zum Geld als dem Wertobjekt, das sich am schmiegsamsten unserem Willen anpaßt, williger noch als unser eigener Körper. Paradoxerweise erweist sich die durchs Geld ermöglichte Omnipotenz schlußendlich als Ruin unserer Freiheit:

„(N)ur indem ein Objekt etwas für sich ist, kann es etwas für uns sein; nur also, indem es unserer Freiheit eine Grenze setzt, gibt es ihr Raum. Diese logische Entgegengesetztheit, in deren Spannung sich demnach die Einheit unseres Verhaltens zu den Dingen realisiert, erreicht am Gelde ihr Maximum: es ist mehr für uns, als irgendein Besitzstück, weil es uns ohne Reserve gehorcht ‒ und es ist weniger für uns, als irgendeines, weil ihm jeglicher Inhalt fehlt, der über die bloße Form des Besitzes hinaus aneigenbar wäre. Wir haben es mehr als alles andere, aber wir haben haben weniger an ihm, als an allem anderen.“ (Simmel 2009, S.503)

Simmel beschreibt hier den Zustand der vollkommenen Entfremdung, ohne diesen Begriff zu verwenden. Ohne es so deutlich auf den Punkt zu bringen, preist Simmel die neue individuelle Freiheit, die der Mensch dem Geld verdankt, als eine gleichermaßen weltlose wie selbstbezügliche Existenzform: „Indem das Geld gleichsam einen Keil zwischen die Person und die Sache treibt, zerreißt es zunächst wohltätige und stützende Verbindungen, leitet aber doch jene Verselbständigung beider gegeneinander ein, in der jedes von beiden seine volle, befriedigende, von dem andern ungestörte Entwicklung finden kann.“ (Simmel 2009, S.525)

Auffällig ist, daß Simmel hier die Weltseite, nämlich die glücklicherweise überwundenen Bindungen an Menschen und Sachen, mit ‚der‛ Sache gleichsetzt, denn mit dieser Sache ist nicht etwa ein objektiver Sachverhalt gemeint, der mit dem umfassenden Anspruch einer Welt einherginge, sondern sich den gleichermaßen reduzierten wie abstrakten Kriterien der Geldwirtschaft unterwirft. Indem also das Geld einen „Keil“ zwischen der Person und der Geldwirtschaft ‒ auf nichts anderes läuft diese ‚Sache‛ hinaus ‒ treibt, wird alles, was die Welt einmal sonst noch gewesen ist, der Person übertragen und ihr als Freiheit, nach dem Motto: nun verwirkliche dich mal schön, gutgeschrieben. Aber dieses subjektive Konto ist bloße Einbildung. Es gibt keine sich für sich verwirklichenden ,Personen‛, weil ihre Welt keine Welt mehr ist.

Einer der hauptsächlichen Effekte der Geldwirtschaft, die Arbeitsteilung, die bzw. der bis dahin, bis Simmel, als Entfremdung beklagt wurde und dem man einmal mit Bildung zu begegnen versucht hatte, soll nun plötzlich für Freiheit stehen und nicht mehr für Unfreiheit. Wenn Simmel damit argumentiert, daß bislang „das Äußerliche und bloß Zweckmäßige ... noch mit dem Persönlich-Subjektiven des Individuums allzu eng assoziiert“ gewesen sei (vgl. Simmel 2009, S.524f.), übersieht er geflissentlich, daß gerade die Individualität ihren Ausdruck in eben der Verbindung mit der Welt findet, die Simmel als ‚Bindung‛ mit Unfreiheit gleichsetzt, und nicht in der arbeitsteiligen Distanz zu ihr; eine Distanz, die diese Welt dem „rein technischen Betriebe“ überläßt, so daß jetzt „jedes“, nämlich der Mensch für sich und der Betrieb für sich, „seinen eigenen Gesetzen ganz anders folgen kann“ (vgl. Simmel 2009, S.517).

Die Frage, die sich hier stellt, ist eben nicht, wie der Umgang mit der Welt durch ihre wirtschaftliche Vernutzung noch mehr und noch gründlicher vom „Persönlich-Subjektiven des Individuums“ (Simmel 2009, S.525) getrennt werden kann, sondern die Frage, wenn denn eine Versöhnung als undenkbar erscheint, wie wenigsten die Folgen dieser Trennung gemildert und erträglicher gemacht werden können.

Die Konsequenz des Simmelschen Freiheitsbegriffs hat Jürgen Habermas mit dem Begriff der „Kolonialisierung der Lebenswelt“ (vgl. „Theorie des kommunikativen Handelns“ (3/1985, 2 Bde.)) auf den Punkt gebracht. Simmel selbst beschreibt diese Kolonialisierungsprozesse, ohne diesen Begriff zu seiner Zeit schon zur Verfügung zu haben: „Wenn unter mehreren Interessen, die die Vereinigung eines Kreises (Lebenskreises: Familie, Verein etc. ‒ DZ) ausmachen, das eine auf alle anderen zerstörend wirkt, so wird natürlich dieses selbst die anderen überleben und schließlich noch die einzige Verbindung zwischen den Ebenen darstellen, deren sonstige Zusammenhänge es zernagt hat. Nicht nur aufgrund seines immanenten Charakters, sondern gerade weil es auf so viele andere Verbindungsarten der Menschen destruktiv wirkt, sehen wir das Geld den Zusammenhang zwischen sonst ganz zusammenhanglosen Elementen herstellen. Und es gibt heute vielleicht keine Assoziation von Menschen mehr, die nicht, als Ganzes, irgendein Geldinteresse einschlösse, und sei es nur die Saalmiete einer religiösen Korporation. Durch den Charakter des Zweckverbandes aber, den das Einungsleben deshalb mehr und mehr annimmt, wird es mehr und mehr entseelt; die ganze Herzlosigkeit des Geldes spiegelt sich so in der sozialen Kultur, die von ihm bestimmt wird.“ (Simmel 2009, S.540; Hervorhebungen ‒ DZ)

Wir haben es hier mit einer geradezu klassischen Beschreibung der fortschreitenden Entfremdung, eben der ,Entseelung‛ der Lebenswelt (Einungsleben) zu tun, als deren Symptom Simmel den Sozialismus nennt, der zwischen der „Rationalisierung des Lebens“ und den „dumpfen kommunistischen Instinkten“ ‚primitiverer‛ Stufen der Kulturentwicklung zu vermitteln versucht. Simmel stellt den höheren Kulturstufen der Geldwirtschaft gerne ,primitive‛ Epochen gegenüber. (Vgl. Simmel 2009, S.93, 161, 125f., 178-183, 185,189, 418, 441, 453f., 464, 497f. u.ö.). Jedenfalls, so Simmel, tauchen diese uralten Instinkte in der gegenwärtigen Geldwirtschaft wieder auf, und zwar als Reaktion auf die entseelenden Rationalisierungsprozesse:

„In dieser Zweiheit von Motivierungen, deren psychische Standorte einander polar entgegengesetzt sind, und die ihn einerseits als das äußerste Entwicklungsprodukt der rationalistischen Geldwirtschaft, andererseits als die Verkörperung des undifferenziertesten Instinktes und Gefühlslebens zeigen, liegt wohl die Eigenart seiner (des Sozialismus ‒ DZ) Anziehungskraft: er ist Rationalismus und Reaktion auf den Rationalismus.“ (Simmel 2009, S.541)

Dieser sozialistischen Reaktion auf den Rationalismus steht Simmel offensichtlich sehr reserviert gegenüber, wenn er sie als „Verlängerung des undifferenziertesten Instinktes und Gefühlslebens“ disqualifiziert. Statt die Notwendigkeit einer humanen Antwort auf die von der Geldwirtschaft verursachten Entfremdungsprozesse anzuerkennen und zu diskutieren, verbreitert Simmel die Kluft zwischen entfremdender Rationalisierung und atavistischen Pathologien noch mit der nüchternen Feststellung, daß „das Geldwesen das Individuum auf sich rückwärts konzentriert und ihm als Objekte der persönlichen und Gemütshingabe einerseits nur die allerengsten individuellen Beziehungen, wie Familie und Freundschaft, andererseits nur den weitesten Kreis, etwa des Vaterlands oder der Menschheit überhaupt übrig gelassen hat“. (Simmel 2009, S.541)

Die Heilung der durch die Geldwirtschaft geschlagenen Wunden (Entseelung) sieht Simmel weder in gesellschaftlichen Reformen oder Revolutionen noch in individuellen Bildungsprozessen, sondern in der Geldwirtschaft selbst: „Indem das Geld als ein abstraktes Gebilde sich aus den wirtschaftlichen Wechselwirkungen eines relativ großen Kreises herstellt, indem es andererseits durch seinen bloßen Quantitätscharakter den genauesten mechanischen Ausdruck jedes Sonderanspruchs, jedes Wertes individueller Leistung, jeder personalen Tendenz gestattet, vollendet es im Wirtschaftlichen erst jene allgemeine soziologische Korrelation zwischen der Ausdehnung der Gruppe und der Ausbildung der Individualität.“ (Simmel 2009, S.549f.)

Bildung im humboldtschen Sinne, die nichts anderes zum Gegenstand hat als die ganze Welt, ist überflüssig. Die Geldwirtschaft wird schon alles richten.

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Anfang Dezember poste ich die letzten drei Blogposts zu Simmels „Philosophie des Geldes“.

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