Der Wille zur Wahrheit (1976/83; SuW 1)
Der Gebrauch der Lüste (1984/86; SuW 2)
Die Sorge um sich (1984/86; SuW 3)
Die Geständnisse des Fleisches (2018/19; SuW 4)
Der Gebrauch der Lüste (1984/86; SuW 2)
Die Sorge um sich (1984/86; SuW 3)
Die Geständnisse des Fleisches (2018/19; SuW 4)
5. frühes Christentum
‒ Diätetik
‒ Unwillkürlichkeit und Willkür
‒ Ehe und Zweiheit
‒ Erkenntnis
‒ Jungfräulichkeit
‒ Ehe und Zweiheit
‒ Erkenntnis
‒ Jungfräulichkeit
Chrysostomos (349-407), Bischof von Konstantinopel, schreibt über die Macht der Zweisamkeit: „Ohne dass jemand sie einander näher bringt, sie dazu anhält, sie in ihre Pflichten einweist, müssen sich so Gatte und Gattin nur sehen, um verbunden zu sein.“ (Zitiert nach SuW 4, S.344)
Chrysostomos unterstreicht diese Macht, indem er sie noch höher einschätzt als die Macht der Elternliebe, die „eine so langwährende Gewohnheit“ gewesen ist, aber „von nun an weniger Macht hat als diese zufällige Entscheidung“. (Zitiert nach SuW 4, S.344)
Foucault ergänzt, daß es sich Chrysostomos zufolge bei der Bindungskraft zwischen „Knabe“ und „Mädchen“ „um eine Kraft (handelt), die stärker ist als alle anderen Kräfte in der Natur: gebieterischer, tyrannischer als jene, die uns an andere Menschen binden oder Dinge begehren lassen(.)“ (Vgl. SuW 4, S.343 und S.344)
Hier deutet sich einerseits die Möglichkeit einer Zweiheit außerhalb der Gruppe an. Foucault spricht von „zwei Einzelwesen“, wenn auch durch Ehepflichten zur „wechselseitigen Aneignung der Körper“ gezwungen (vgl. SuW 4, S.370), aber eben doch Einzelwesen, die der Zufall zusammengeführt hat. Ein Zufall, den der fromme Chrysostomos zu einem Wunder und zu einem „Zeichen für den Willen Gottes“ umdeutet. (Vgl. SuW 4, S.345)
Andererseits aber wird die Einzigkeit der beiden als eine „Verschmelzung“ bzw. wechselseitige „Verschlingung“ gedacht: „... ,symphoke‛, Verschlingung, Verschränkung, die zwei Substanzen und zwei Körper miteinander verschmelzt und eine neue Einheit zu bilden versucht.“ (SuW 4, S.345)
Dabei wird der Substanzbegriff großzügig bis hin zur Beliebigkeit verallgemeinert. Nicht nur die Ehe wird als Verschmelzung zweier Substanzen, sondern auch gleich die ganze Menschheit als eine alle umfassende Substanz gedacht: „Beide (Adam und Eva ‒ DZ) sind aus derselben Substanz hervorgegangen, Adam und Eva waren substantiell vereinbar. Und ihre Nachkommen haben noch immer dieselbe Substanz. ... Über die Generationen hinweg bleibt die Menschheit mit sich selbst verbunden und auf ihre eigene Substanz beschränkt.“ (SuW 4, S.345)
Dieser Substanzbegriff ist eine Absage an die Geschichtlichkeit des Menschen als zukunftsoffenen Prozeß. Die Ehe bezeugt nicht die freie und gleiche Wechselseitigkeit zweier, für sich und füreinander einzigartiger Menschen, sondern die menschheitliche, übergeschichtliche Substanz, da hier zwei einander fremde Menschen miteinander zu eben dieser Substanz ‚verschmolzen‛ werden. (Vgl. SuW 4, S.346) Es mag sein, daß dieser Substanzbegriff auch dafür verantwortlich ist, daß Augustinus (354-430), Bischof von Hippo, die Ursünde im Paradies als Erbsünde bezeichnen konnte, die unverändert von Generation zu Generation weitergegeben wird.
Dieser Argumentationszusammenhang, der auch die Komplementarität zwischen Frauen und Männern begründet (vgl. SuW 4, S.350), in der die Frauen für das Haus und die Männer für die Welt zuständig sind ‒ gedacht als substanzielle Arbeitsteilung ‒, ist der Grund dafür, daß meine Formel von Ich = Du auf einer Differenz basiert und nicht auf einer Verschmelzung. Wir haben es hier mit einer Differenz zu tun, die die Gleichheit zwischen Zweien allererst begründet, weil sie deren Eingliederung in eine vorgegebene, eben ,substanzielle‛ Arbeitsteilung verhindert. Jedes Substanzdenken, jede Wesentlichkeit ist zur Beschreibung der Wechselseitigkeit zwischen Zweien unangebracht.
Gleichwohl ist es gerade die enorme Bindungskraft, die mit den intimen sexuellen Praktiken zwischen Zweien einhergeht, die für mich das Modell auch für andere Zweierkonstellationen bildet.
Foucault verweist auf den Dimorphismus, der zwischen dem Kloster- und dem Eheleben besteht und mit der Differenz zwischen dem „kompletten Weltverzicht“ der Klostergemeinschaft und der weltlichen Zweisamkeit des Ehelebens, die auch die Geschlechtslust mit einbezieht, zusammenhängt: „Sein Ursprung liegt in dem Bestreben, bei der Ausübung der Pastoralmacht eine ‚techne‛ (Lebensführung ‒ DZ) des Ehelebens ‒ die unter der des Mönchslebens steht, zu dieser aber nicht heterogen ist ‒ auszubilden, die sowohl dazu geführt hat, aus der Wollust eines jeden der beiden Ehepartner (und nicht aus der gemeinsamen Nachkommenschaft) die entscheidende Form der ehelichen Beziehung zu machen, als auch dazu, zwischen diesen beiden Einzelwesen eine Verschränkung der Verantwortlichkeiten und Verkettung zu bewerkstelligen. Selbst in der Zweierform der Ehe ist das Hauptproblem die Frage, was man mit seiner eigenen Wollust machen soll, mithin die Beziehung zu sich selbst. Und das Recht auf innerehelichen Sex wurde in erster Linie als eine Form eingerichtet, die dazu dient, die grundlegende Beziehung zu sich selbst vermittels des anderen zu gestalten.“ (SuW 4, S.379)
Mit „Pastoralmacht“ ist die weltliche Seelsorge gemeint. Chrysostomos steht für eine vergleichsweise liberale Position. Er hat den Begriff der „Pflicht-Schuld“ geprägt (vgl. SuW 4, S.376f.), derzufolge die Ehepartner gegenseitig zur Befriedigung ihrer Wollust verpflichtet sind und es einander schuldig sind, sich vor der Unzucht zu bewahren. Auch der frühe Augustinus neigte noch zu dieser Auffassung vom Eheleben, bevor er zu dem Standpunkt wechselte, daß die Wollust ein grundsätzliches Übel sei.
Sloterdijk bezeichnet Augustinus als den „Hysteriker von Hippo“. Aber verglichen mit dem Abt und Schriftsteller Cassian (360-435), von dem in den vorangegangenen Blogposts mehrfach die Rede gewesen ist, ist Augustinus geradezu ein Ausbund an Toleranz und Menschenfreundlichkeit, der den Geschlechtsunterschied nicht als Übel, sondern als von Gott gewolltes Gut versteht und der ein Bestandteil des göttlichen Schöpfungsaktes ist.
Foucault zufolge beinhaltet die christliche Auffassung von der Ehe zwei „ungleiche Güter“ (vgl. SuW 4, S.381), nämlich die Güter selbst, im engeren Sinne, und die Zweckbestimmung der Ehe: „Die Güter der Ehe, die ihren Wert ausmachen, sind neben der Enthaltsamkeit, doch dieser untergeordnet: die Nachkommenschaft, der Glaube, der die Ehegatten vereint, das Sakrament, das sie unauslöschlich prägt. Die Zwecke der Ehe, die Richtlinien für den ‚Gebrauch‛ der Ehe darstellen und zu bestimmen erlauben, welche sexuellen Beziehungen verboten und welche erlaubt sind, sind: die Zeugung und die Abhilfe gegen die Wollust.“ (SuW 4, S.408)
Mit dem Gut der Enthaltsamkeit sind zum einen die Monopolisierung der Ehe als rechtmäßigem Ort für den Geschlechtsverkehr, zum anderen die Regulierung des Gebrauchs, den man davon macht, gemeint. Was die Zwecke betrifft, die zu den Gütern niederrangig sind, nennt Foucault später noch einen dritten Zweck, der anders als die anderen beiden Zwecke die Ehe nicht zu einem Mittel für etwas macht, sondern einen Selbstzweck darstellt: die Freundschaft. (Vgl. SuW 4, S.410) Diese Zweckbestimmung würde dann sogar in Richtung meiner Formel von Ich = Du gehen, wäre da nicht die Rollenverteilung, die den Mann zum Besitzer der Frau macht. (Vgl. SuW 4, S.406)
Deshalb war ich zunächst überrascht, als ich auf eine Textstelle stieß, in der Augustinus auf die Notwendigkeit eines „consensus“ zu sprechen kommt. Foucault übersetzt ‚consensus‛ mit ,Zustimmung‛. (Vgl. SuW 4, S.470ff.) An einer früheren Stelle im dritten Band von „Sexualität und Wahrheit“ war ich schon auf dem Begriff der „Einwilligung“ gestoßen, ein Begriff, mit dem es um die freie und gleiche Wechselseitigkeit zwischen Frauen und Männern geht (vgl. SuW 3, S.265; vgl. meinen Blogpost vom 07.07.2025), und ich erwartete mir jetzt an dieser Stelle im vierten Band etwas ähnliches. Dann wurde aber meine Erwartung, daß es hier um die Möglichkeit des Partners, nein zu sagen, geht, enttäuscht. Es geht Augustinus vielmehr um die Sündlosigkeit ehelichen Geschlechtsverkehrs, insofern beide, Frau und Mann, jeweils für sich entscheiden (zustimmen), die eigene mit dem Geschlechtsverkehr verbundene Wollust ,freizugeben‛. Es geht also darum, sich selbst zu erlauben, Wollust zu erleben.
Diese innerliche Zustimmung erlaubt die Umsetzung eines sexuellen Motivs (Begierde) in Handlung; zu wollen, „was die Begierde will“ (vgl. SuW 4, S.470): „(Augustinus) zufolge besteht die Zustimmung nicht in der Akzeptanz eines fremden Elements mittels des Willens; vielmehr ist sie für den Willen eine Weise, als freier Akt zu wollen, was er als Begierde will. Bei der Zustimmung ‒ und das Gleiche könnte man für das Gegenteil der Ablehnung sagen ‒ ist der Wille selbst das Objekt.“ (SuW 4, S.471)
Es geht aber noch weiter. Die „Nicht-Zustimmung“, die Ablehnung, besteht Augustinus zufolge nicht etwa darin, das Motiv als solches abzulehnen: „(Die) Nicht-Zustimmung (besteht) nicht darin, das Begehren zu besiegen, indem man der Seele die Vorstellung des begehrten Objekts verwehrt, sondern darin, es nicht zu wollen, wie es die Begierde will.“ (Vgl. SuW, S.472)
Augustinus will also an dieser Stelle nicht, und das finde ich jetzt tatsächlich bemerkenswert, die Begierde, die Wollust als solche dämonisieren, sondern nur auf die Art und Weise, sie zu praktizieren, aufmerksam machen. Inwiefern er damit wieder von der Ansicht abrückt, daß die Wollust grundsätzlich von Übel sei, wird von Foucault nicht weiter erläutert. Wahrscheinlich haben wir es hier mit dem Zugeständnis zu tun, daß die Wollust zwar grundsätzlich von Übel, aber für das Gut der Erzeugung einer Nachkommenschaft unverzichtbar ist. In diesem Zusammenhang erfüllt die Wollust ihren notwendigen Zweck.
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