„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Sonntag, 2. Juni 2024

„Leben bis man stirbt“

Als Salman Rushdie am 12. August 2022 doch noch einem späten Attentat zum Opfer fiel, es aber glücklicherweise überlebte, und dann in seinem Buch „KNIFE“ (2024) den Weg zurück ins Leben beschrieb, habe ich nicht nur dieses Buch gelesen, sondern auch „Joseph Anton“ (2012) wieder aus dem Bücherregal herausgeholt, um es noch einmal zu lesen. Wieder fühlte ich mich in die Zeit zurückversetzt, als ich, damals noch Student der Germanistik und Theologie, 1988 von der Fatwa erfuhr, und ich voller Empörung über die feigen Ayatollahs im Iran und fassungslos angesichts der zahlreichen Intellektuellen, die die Fatwa verteidigten und Rushdie verurteilten ‒ die Islamwissenschaftlerin, Annemarie Schimmel, sprach mitfühlend von weinenden Männern!, und äußerte so ihr Verständnis für die Fatwa, da Rushdie mit „Die satanischen Verse“ deren religiösen Gefühlen verletzt habe ‒, zum Leser seiner Bücher wurde.

Ich habe viele Jahre mit ihm um sein Leben gefürchtet und ihn zugleich für seine Standhaftigkeit bewundert, mit der er keinen Zentimeter von seinen säkularen Überzeugungen und literarischen Ambitionen abwich, und ich hatte mich für ihn gefreut, als er um die Jahrtausendwende dem bedrängten und beengten Leben unter Polizeischutz in England entkommen und in den USA, schließlich in New York ein neues Leben beginnen konnte. Um so entsetzter war ich, als es dann doch noch zu diesem so späten Messerangriff kam, mit dem niemand mehr gerechnet hatte.

Ich möchte in diesem Blogpost noch einmal auf „Des Mauren letzter Seufzer“ (1995/1996) eingehen, das zentral für diese Zeit ist, in der Rushdie in ständiger Fluchtbereitschaft im Verborgenen lebte. Die Bedeutung dieses Buchs für Rushdies verzweifelte Versuche, sich seine Menschlichkeit zu bewahren, wird an zwei Textstellen deutlich, die als ein zusammenhängender Text gelesen werden müssen: „Müssen wir auch sterben, damit unsere Seelen, die so lange unterdrückten, Ausdruck finden können ‒ damit unser geheimes Wesen bekannt werden kann?“ (Rushdie 1996, S.185) ‒ Und: „Leben, bis man stirbt, lautet mein Motto.“ (Rushdie 1996, S.209; vgl. auch S.210)

Die erste Textstelle stammt von Moraes Zogoiby, als er über seine Mutter, Aurora, nachdenkt, die ihm und seinen Geschwistern und auch allen anderen, die sie ,gekannt‛ hatten, ein Leben lang ein Rätsel geblieben ist. Erst nach ihrem Tod kommt Moraes nach und nach ihren tatsächlichen, unter all ihrem Glamour verborgenen Ängsten und Abgründen auf die Spur.

Die zweite Textstelle ist auf Vasco Miranda gemünzt, auf den ich gleich noch weiter eingehen werde. Für jetzt will ich nur anmerken, daß das hier angesprochene Motto auch zu Rushdies Motto geworden war, nachdem er am Valentinstag 1988 von dem Todesurteil in Ruhollah Chomeinis Fatwa erfuhr. Rushdie mußte am eigenen Leib erleben, was es bedeutet, lebend für tot erklärt zu werden und von da an ein Leben führen zu müssen, das einem nicht mehr gehört. Das Motto stammt von Joseph Conrad, dessen Vorname Teil des Decknamens wurde, den sich Rushdie zugelegt hatte, um seine Existenz als öffentlicher Mensch zu beenden: Joseph Anton. (Vgl. „Joseph Anton“ (2012), S.191)

Rushdie verknüpft in diesen beiden Textstellen das Palimpsest-Thema mit dem zentralen Mantra seines Post-Fatwa-Lebens. Leben und Tod werden von ihm so eng miteinander verflochten, daß die im Leben ,unterdrückte‛ Seele, die unter den zahllosen Überschreibungen des Lebenslaufs begraben liegt, erst durch den großen ,Abkratzer‛, erst durch den Tod (nicht umsonst lautet eine Umschreibung für das Sterben ,abkratzen‛) wieder freigesetzt wird. Also zynischerweise dann, wenn es zu spät ist.

Dazu paßt auch die folgende Textstelle zu Vasco Miranda, in der von einer Nadel, die nach einer Operation in Mirandas Körper vergessen worden war, die Rede ist: „Vielleicht war die Nadel, falls sie tatsächlich dort, im Heuhaufen seines Körpers verloren gegangen war, in Wirklichkeit der Ursprung seines gesamten Ichs ‒ vielleicht war sie seine Seele. Sie zu verlieren hieße, sofort das Leben zu verlieren, oder wenigstens dessen Sinn. Er zog es vor, zu arbeiten und zu warten.“ (Rushdie 1996, S.210)

Auch Vascos Seele ist also im Heuhaufen der Überschreibungen verlorengegangen, und er findet sie erst im Moment seines Todes wieder. Und auch hier geht es darum, „zu arbeiten und zu warten“ ‒ also zu leben ‒, bis man stirbt. Wo aber in der ersten Textstelle der Tod zunächst nur als Abkratzer auftritt, also die unterste Beschriftung des Palimpsests freilegt, wird hier der Tod zu einer Tat der Seele selbst: zu ihrem ,Ausdruck‛; denn als die vergessene Nadel ist sie es, die, als sie bei ihrer Wanderung durch den Körper sein Herz erreicht, den Tod herbeiführt. (Vgl. Rushdie 1996, S.209 und S.577f.)

Eine weitere, noch radikalere Variante dieses Themas finden wir in folgender Textstelle zum Tod von Uma Sarasvati, der Geliebten von Moraes: „Im Sterben schien ihr Gesicht tausend Veränderungen durchzumachen, als blättere man durch die Seiten eines Buchs, als gebe sie, eins nach dem anderen, all ihre zahllosen Ichs auf. Dann kam eine leere Seite, und sie war überhaupt niemand mehr.“ (Rushdie, S.378f.)

Hier werden durch Uma Sarasvatis Tod alle die falschen Identitäten ihrer multiplen Persönlichkeit als fiktive Überschreibungen in einem Buch enttarnt, als wäre das Leben ein Roman. Aber die letzte Seite ist leer. Das ist so, als kratzte man von einem Palimpsest alle Überschreibungen ab, nur um dann festzustellen, daß es eine ursprüngliche Beschriftung gar nicht gibt. Im Grunde haben wir es hier weniger mit einem Palimpsest als mit einer Zwiebel zu tun, von der wir Schale um Schale ablösen können, ohne bis zu ihrem Kern vorzustoßen. Tabula rasa.

„Des Mauren letzter Seufzer“ (1995/1996) war Rushdies erstes Buch, das er nach der Fatwa geschrieben hatte. Abgesehen von „Harun und das Meer der Geschichten“ (1991). Aber dieses Buch hatte Rushdie vor allem geschrieben, um ein Versprechen einzulösen, das er seinem Sohn gegeben hatte: er wollte ihm ein Buch schreiben, das auch ein zehn-, elfjähriges Kind lesen kann. „Des Mauren letzter Seufzer“ aber hatte er als Schriftsteller geschrieben, und mit diesem Buch löste er sich aus dem Bann der Fatwa, die es ihm so viele Jahre unmöglich gemacht hatte, seinen Beruf auszuüben. Rushdie hatte zu zweifeln begonnen, ob er überhaupt noch fähig war, seinem eigenen literarischen Anspruch zu genügen.

Deshalb ist das Palimpsest-Thema so zentral im „Mauren“. Es ist der Autor selbst, der sich aus den Überschreibungsschichten der Fatwa-Welt, mit denen ihn Politik und Medien in einen anderen Menschen zu verwandeln versuchten, letztlich in einen Menschen, dem nicht zu Unrecht Unrecht getan worden sei, ja, der letztlich zu Recht zu Tode verurteilt worden war, herausschreiben wollte. „Des Mauren letzter Seufzer“ sollte beweisen, daß er, Rushdie, noch immer Rushdie war und weiterhin Bücher schrieb und an seinem allen Menschen verliehenen Geburtsrecht festhielt, zu leben bis zum Tod.

Für einen Phänomenologen und Gestaltwahrnehmer ist das Palimpsest ein interessanter begrifflicher Zwitter, weil es zwischen Ontologie und Phänomenologie changiert. Ontologisch ist die verborgene Tiefe, der man nur durch Abkratzen der beschrifteten Oberfläche, also durch ,Ausgrabung‛ (Archäologie) auf die Spur kommen kann. Dabei ist aber die phänomenologisch motivierte Nachfrage unvermeidlich, inwiefern denn die verborgene Schrift der aktuell sichtbaren Schrift gegenüber bedeutsamer sein sollte?

Phänomenologisch haben wir es immer nur mit Vorder- und Hintergründen (Panoramen, Gemälde, Texte) und mit Vorder- und Rückseiten (physische Dinge) zu tun. Das Palimpsest fügt diesen Modi von Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit einen dritten Modus hinzu: die unter einer anderen Gestalt verborgene Gestalt bzw. der unter einem anderen Text verborgene Text. Aus phänomenologischer Sicht liegt die Betonung auf der prinzipiell herstellbaren Sichtbarkeit des verborgenen Objekts, und aus ontologischer Sicht liegt die Betonung auf der Mühe des Abtragens einer oder mehrerer oberer Schichten. In beiden Fällen aber gibt sich das Phänomen nicht von selbst.

Hatte es aber mal!, beharrt der Phänomenologe auf seinem Standpunkt; nämlich bevor es übermalt bzw. überschrieben wurde. Seine Verborgenheit ist nichts Ursprüngliches. Sie ist etwas Gemachtes. Deshalb ist das Palimpsest ein Gegenstand der Phänomenologie.

Der Ontologe hingegen hält daran fest, daß die tiefste Schicht nicht nur die ursprünglichste, sondern auch die eigentliche sinnstiftende Schicht ist. In diesem Sinne bedient sich der gescheiterte Künstler Vasco Miranda des Palimpsests, um seine eigenen Werke aufzuwerten. Er signiert seine eigenen Gemälde mit einem winzigen Porträt von Aurora Zogoiby, die ihm als Künstlerin weit überlegen ist, und übermalt es anschließend. Auf diese Weise verleiht er seinen Bildern eine (verborgene) Bedeutung, die sie von sich aus nicht haben. (Vgl. Rushdie 1996, S.216)

Im weiteren Verlauf des Romans wird deutlich, daß die ontologische Dimension des Palimpsests zugleich eine faschistische Dimension beinhaltet. Raman Fieldings ‒ alias „der Frosch“ (der nicht von ungefähr dem derzeitigen indischen Premierminister Modi nachempfunden ist) ‒ beliebtestes Mittel, die Massen für seine Machtinteressen einzuspannen, besteht darin, überall in Indien ,heilige‛ Orte zu ,entdecken‛, auf denen ungehöriger Weise muslimische Moscheen stehen. Die gehören natürlich ,abgetragen‛, um die jeweilige unverfälschte, echte Hindugottheit wieder sichtbar zu machen.

Was aber lehrt uns im Unterschied dazu die Phänomenologie? Als Moraes Zogoiby seiner Mitgefangenen und Schicksalsgenossin Aoi Uë von seinen Zweifeln erzählt, ob seine Geliebte Uma Sarasvati ‒ die multiple Person mit den vielen ,Seiten‛ ‒ ihn wirklich geliebt habe, eröffnet Aoi ihm das Geheimnis der zweiten Naivität: „Immerhin haben Sie sie geliebt. Sie haben keine Rolle gespielt.“ (Vgl. Rushdie 1996, S.569) ‒ Und als Aoi sieht, daß Moraes das nicht so recht überzeugt, sagt sie energisch: „Und selbst wenn! Selbst wenn ‒ verstehen Sie?“ (Vgl. Rushdie 1996, S.570)

Selbst wenn Moraes seine Liebe auch nur gespielt hätte, als handelte es sich um eine Rolle in einem Theaterstück, wäre das Spiel doch echt gewesen und damit auch die Liebe.

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