„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Freitag, 22. September 2023

Dialektik und Ressentiment

In seinem Buch „Auch eine Geschichte der Philosophie“ (2019, 2 Bde.) macht Habermas ein überraschendes Eingeständnis. Er habe, so schreibt er, das „Thema der Unvernunft in der Geschichte“ bislang vernachlässigt. Im selben Buch, in dem er dieses Eingeständnis macht, zeichnet Habermas dennoch unverdrossen eine Vernunftsgeschichte nach, trotzig beteuernd, daß er auch weiterhin keine Geschichte der Unvernunft schreiben wolle.

Wenn Habermas von einer Unvernunft in der Geschichte schreibt, denkt man als Leserin oder Leser und vor allem er selbst als Vertreter der „Kritischen Theorie“ sogleich an die „Dialektik der Aufklärung“ (1944/69/88) von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno, die das Umschlagen von Vernunft und ihrer Geschichte in Unvernunft beschreiben. Als eine Freundin sah, wie ich in die „Dialektik der Aufklärung “ vertieft war, sprach sie ihren Respekt für dieses Buch aus, als einem Grundlagenwerk für kritisches Denken. Ich gestand, daß ich wegen einiger Textstellen, auf die ich gestoßen war, einige Zweifel hätte, die sie aber souverän beiseite wischte. Natürlich, meinte sie, sei das damals eine andere Zeit gewesen und deshalb auch kein Wunder, wenn da jetzt nicht alles politisch korrekt sei.

Deshalb möchte ich jetzt vor allem über die von mir inkriminierten Stellen berichten, ungeachtet des überwiegenden Großteils dieses Buches, das auch einem unverbesserlichen Fortschrittsoptimisten wie Habermas, sollte er es noch einmal lesen, ins Grübeln bringen könnte. Das erste, was mir auffiel, ist das Ressentiment, das Horkheimer/Adorno gegen den Jazz entwickelt haben. (Vgl. DA, S.135, 140, 144, 157, 162f. u.ö.) Der Jazz ist für sie eine Fortsetzung des Industriekapitalismusses, insofern er den Rhythmus von Fließband und Akkord auf die Freizeitaktivitäten der Ausgebeuteten überträgt und sie so fügsamer und brauchbarer macht für die Maximierung des Profits.

Von einem Ressentiment zu reden, scheint mir angemessen zu sein, denn die Ablehnung des Jazz durch die Faschisten war sicher auch den beiden Autoren nicht unbekannt. Und wohl auch nicht, daß damit unmittelbar ein gegen dunkelhäutige Menschen gerichteter Rassismus verbunden gewesen war.

Dazu paßt ein weiteres Ressentiment, das sich direkt gegen die „Neger in Harlem“ richtet, wobei es mir weniger um die Verwendung des N-Wortes geht, als vielmehr um die Unterstellung, es handele sich bei ihnen um „gierige Nachläufer“, ohne irgendein aufklärendes Wort zu den Umständen, die Horkheimer/Adorno dazu veranlaßten, so ein Urteil zu fällen. (Vgl. DA, S.179)

Insgesamt steht der Jazz für Kulturindustrie, wie übrigens auch das Kino und der Film, gegen die Horkheimer/Adorno ebenfalls ein Ressentiment entwickelt haben, gewissermaßen eine „Idiosynkrasie“, ein Wort, das die beiden insbesondere im Antisemitismus-Fragment immer wieder verwenden. Das Fragment zur Kulturindustrie (vgl. DA, S.128ff.) ist jedenfalls auch ressentimentgeladen. Die Kulturindustrie läßt den beiden Autoren zufolge als Totalität der individuellen Rezeption keine Chance.

Orson Welles werfen sie z.B. vor, daß alle seine „Verstöße gegen die Usancen des Metiers“ doch nur „als berechnete Unarten die Geltung des Systems um so eifriger bekräftigen“. (Vgl. DA, S.137) Dabei lassen sie beflissen unter den Tisch fallen, daß Orson Welles’ souveränes Spiel mit den Möglichkeiten des Films einen intellektuellen und ästhetischen Freiraum schafft, der der geistigen Beweglichkeit durchaus förderlich ist. Einmal in Bewegung gesetzt, kann sich diese Beweglichkeit auf alles richten: auch auf bzw. gegen die Kulturindustrie. Kein Wort auch zu Orson Welles‛ „Krieg der Welten“ (1938), mit dem er dem Radiopublikum seine unreflektierte Radiogläubigkeit vorhielt. Aufklärung im besten Sinne! Adorno und Horkheimer schweigen dazu.

Da ist es schon wieder amüsant, zu lesen, wie widerwillig Horkheimer/Adorno der künstlerischen Leistung in der Filmindustrie ihre Anerkennung zugestehen müssen. Wenn Horkheimer/Adorno einigen Produkten der Filmschaffenden „so feine Nuancen“ bescheinigen, „daß sie fast die Subtilität der Avantgarde erreichen“, dann ist dieses „fast“ vor allem ihrem Ressentiment geschuldet. Und wenn es ein Vorwurf sein soll, daß die Filmsprache sich an der „Alltagssprache“ orientiert, dann kann auch der Vorwurf der Nähe zum „logischen Positivismus“ nicht den Verdacht abwehren, daß hier jemand nicht begriffen hat, daß die Sprache immer und zuallererst Alltagssprache ist, und alle unsere ach so kulturell wertvollen geistigen Leistungen sich ihr verdanken. Letztlich müssen Horkheimer/Adorno den „Spezialisten“ ‒ gemeint sind die Experten der Filmproduktion vom Ton- und Bildtechnik über die Drehbuchautoren bis hin zur Requisite und Schnitt ‒ auch noch einen „letzte(n) Rest sachlicher Autonomie“ bescheinigen, wenn diese mit ihrem „Renommee“, gemeint ist wohl Kompetenz, der „Geschäftspolitik der Kirche oder des Konzerns“ Widerstand leisten. (Alle Zitate in DA, S.137)

Selbst eine der großen Kritiken, deren sich die „Kritische Theorie“ mit Recht rühmen darf, ihre Kritik am Patriarchat und an der damit verbundenen Unterdrückung der Frauen (vgl. DA, S.10, 17, 23, 29f., 37, 39, 57, 65, 72f., 79ff., 82f. 114, 117ff., 120, 184, 195, 223, 264ff., 269), ist bei Horkheimer/Adorno mit Ressentiments gegen die Frauen durchsetzt. So halten sie es für unwahrscheinlich, daß ein Mann seine Ehe zerstören würde. Die Schuld läge doch eher „bei der Frau“. (Vgl. DA, S.256)

An anderer Stelle, wo es um die Deformationen der Frauen geht, die sie durch das Patriarchat erleiden, heißt es: „Der Blutdurst des Weibes im Pogrom überstrahlt selbst den männlichen.“ (DA, S.267) ‒ Wie kommen Horkheimer/Adorno darauf? Welche Statistik liegt ihrer Aussage zugrunde? Soll man aus dem Blutdurst der Frauen vielleicht schließen, daß das Patriarchat die Männer friedliebender und konfliktscheuer gemacht hat?

Eine weitere durch das Patriarchat verursachte Deformation machen die beiden Autoren tatsächlich an dem Umstand fest, daß die Frauen neuerdings sozial und politisch aktiver werden: „Als soziale Hyäne verfolgt sie kulturelle Ziele. ... sie (die weibliche Opposition ‒ DZ) wird zur pervertierten Aggression des social work und des theosophischen Klatsches, zur Betätigung der kleinen Ranküne in Werktätigkeit und Christian Science.“ (DA, S.267)

Das Patriarchat hat aber noch weitere, insbesondere sexuelle Deformationen zur Folge. Dazu gehört die Homosexualität, gegen die Horkheimer/Adorno anscheinend ebenfalls ein Ressentiment haben. Um ihr negatives Urteil zu begründen, greifen Horkheimer/Adorno auf die Psychoanalyse zurück, was gerade aufgrund der dialektischen Methodik des Buchs keine gute Idee ist. Wenn die Dialektik psychoanalytisch zu argumentieren beginnt, verwandelt sie sich von einem Organ des Denkens in ein Organ des Verdachts. Und Denken, dessen Aufmerksamkeit durch einen Verdacht belastet ist, verwandelt sich leicht in Paranoia. Jedenfalls ist es wohl nach Ansicht der beiden Autoren psychoanalytisch gerechtfertigt zu behaupten, daß das „in Aggression umgesetzte Verpönte“ angeblich „meist homosexueller Art (ist)“. (Vgl. DA, S.201)

Natürlich ist auch die Psychoanalyse eine Form des Denkens. Aber Denken wiederum ist auch noch etwas anderes als Psychoanalyse. Wenn es anfängt, die Phänomene, die sich ihm geben, nicht mehr als solche ernstzunehmen, sondern sie grundsätzlich unter den Verdacht stellt, etwas anderes zu sein, hört es auf, Denken zu sein. Das „Verpönte“, also Ressentiment, ist das eine. Aber Homosexualität ist etwas ganz anderes. Eins hat mit dem anderen nichts zu tun.

Ganz zum Schluß heißt es dann nochmal: „Im faschistischen Kollektiv mit seinen Teams und Arbeitslagern ist von der zarten Jugend an ein jeder ein Gefangener in Einzelhaft, es züchtet Homosexualität.“ (DA, S.269)

Ich finde es schade, daß die wirklich lesenswerte Kritik an Kollektiven aller Art, die ich ebenfalls zu den großartigen Kritiken in dem Buch zähle, die uns auch heute, in Zeiten der Wiederkehr des Faschismusses, wieder viel zu sagen hat, durch solches Ressentiment desavouiert wird.

Aber Horkheimer/Adorno haben eine Entschuldigung. Die „Wahrheit“, so schreiben sie zu der 1969 erschienenen Neuausgabe ihres Buchs, also 22 Jahre nach seiner Ersterscheinung, habe einen „Zeitkern“, so daß manches von dem, was sie geschrieben haben, inzwischen als veraltet gelten müsse. (Vgl. DA, S.IX) Sie wollen das Buch deshalb als Dokument verstanden wissen. Außerdem, so heißt es an anderer Stelle: „... unfertig zu sein und es zu wissen, ist der Zug auch jenes Denkens noch und gerade jenes Denkens, mit dem es sich zu sterben lohnt.“ (DA, S.261)

Der Satz vom unfertigen Denken ist auf jene Intellektuellen gemünzt, die bereit sind, den Tod eines zum Strang Verurteilten mit der Begründung hinzunehmen, daß sein Denken fehlerhaft gewesen sei. (Vgl. DA, S.261) Unfertiges Denken ist fehlerhaft. Und da Denken immer unfertig ist, ist es auch immer fehlerhaft.

Insofern hat also meine Freundin recht. Die „Dialektik der Aufklärung“ ist ein Buch aus einer anderen Zeit und als solches kein Gegenstand der Bewertung im Rahmen einer ebenfalls zeitgebundenen political correctness. Es bleibt aber weiterhin die Aufgabe einer kritischen Auswertung, den bleibenden Einsichten in ihm auf die Spur zu kommen. Und zwar, gerade auch gegen Habermas, als eine nicht nur das Buch selbst betreffende Analyse einer Geschichte der Unvernunft.

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