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Donnerstag, 3. Juli 2025

„Kann der Wille schuld sein, zu sein, was er ist?“

Michel Foucault: Sexualität und Wahrheit (4 Bde.):
Der Wille zur Wahrheit (1976/83; SuW 1)
Der Gebrauch der Lüste (1984/86; SuW 2)
Die Sorge um sich (1984/86; SuW 3)
Die Geständnisse des Fleisches (2018/19; SuW 4)

3. griechische Antike
‒ Diätetik (Kunst der Lebensführung)
‒ Männermoral
‒ Knabenliebe

In meinem Blog bin ich schon seit längerem, in den letzten Jahren allerdings häufiger, auf die Notwendigkeit und auf das Bedürfnis eingegangen, mein Leben zu führen, und zwar meist mit Verweis auf die rasant fortschreitende Digitalisierung aller Lebensverhältnisse, die uns genau darin, in der Lebensführung, zunehmend behindert. Das griechische Wort für Lebensführung ist ‚Diät‛, die nicht nur für die Ernährung zuständig ist, sondern nach antik-griechischem Verständnis auch für alle anderen Lebensbereiche, und die neben der Ernährungsweise auch die Sexualität betrifft.

Die heutigen Lebensbereiche, die dringend einer Diät bedürfen, was in der populistisch geprägten deutschen Politik abschätzig mit der unschönen Vokabel ‚Verzicht‛ versehen wird, sind beispielsweise neben der Ernährungsweise die Alltags- und Urlaubsmobilität, das Einkaufsverhalten und natürlich die schon angesprochene umfassende Digitalisierung mitsamt dem wuchernden Krebs, genannt Smartphone. Das ist nur eine kleine Auswahl, denn um unser Leben wieder führen zu können, bedarf es einer umfassenden Kehrtwende unserer gesamten Lebensverhältnisse.

Eigentlich ist es ja doch verwunderlich, daß Praktiken des Fastens und der Diät rund um den Bereich ,gesunde Ernährung‛, die nichts anderes sind als Formen der Askese, sich doch einer so allgemeinen Beliebtheit erfreuen, daß es in allen analogen und digitalen Medien eine Unzahl von entsprechenden Ratgeberformaten gibt. Die Bewirtschaftung dieses Themenbereichs scheint sich zu lohnen.

Wenn man die Diät als eine konkrete, spezifische Verhaltensweisen betreffende Praktik bezeichnen kann, so bezieht sich die Diätetik auf das individuelle Leben als Ganzes, also unsere Lebensführung als der Mensch, der wir sind. Die Diätetik ist, wie Foucault definiert, die „allgemeine Ordnung des seelischen und körperlichen Daseins“ (vgl. „Hermeneutik des Subjekts“ (2004, S.87) und steht damit dem Begriff der Ethik nahe. Fügt man dem noch hinzu, daß die Diätetik auch mit „Sorge um sich selbst“ übersetzt werden könnte und diese Sorge um sich selbst „Selbsterkenntnis zu sein (hat)“ (vgl. Foucault 2004, S.95), dann entspricht die Diätetik meinem Blogtitel: Erkenntnisethik.

In den letzten Jahren habe ich, so wie Foucault die Sorge um sich selbst, den Gefühlshaushalt mit dem Begriff der Selbsterkenntnis verbunden. Dabei bin ich insbesondere von der Sexualität ausgegangen, weil die damit verbundenen Befindlichkeiten und Begierden für mich schon immer mein zentrales Lebensthema gewesen sind. Ich versuchte mit diesen Befindlichkeiten und Begierden einen Umgang zu finden, der die anderen Motive nicht einfach nur platt an die Wand drückt, sondern ihnen einen eigenen Bewegungsspielraum ermöglicht.

Zurück zur griechischen Antike um das fünfte, vierte und dritte Jahrhundert herum. Die Griechen zählten die Geschlechtslust zu den „drei großen grundlegenden Strebungen, die die Nahrung, das Trinken und die Zeugung betreffen“ (vgl. SuW 2, S.67), räumten ihr aber in der „Hierarchie“ der sinnlichen Vergnügen nur einen niedrigen Rang ein. Ähnlich wie in meinem Gefühlshaushalt gab es bei den Griechen also eine Rangordnung von Neigungen und Trieben, die einerseits zwar individuell gestaltet war, weshalb es auch einer individuellen Selbstprüfung und Selbsterkenntnis bedurfte, denen, also den Bedürfnissen, aber letztlich eine vorgängige Natur zugrundelag. Wir haben es mit einer ontologisch begründeten Hierarchie zu tun. Ähnlich wie in meinem Gefühlshaushalt bestand bei den Griechen die Aufgabe des Mannes ‒ Frauen waren nur Lustobjekte (vgl. SuW 2, S.62) ‒ darin, die Geschlechtslust „zu meistern“ und gleichzeitig „in einer angemessenen Ökonomie gewähren (zu) lassen“. (Vgl. SuW 2, S.68)

Ein weiterer Aspekt, in dem sich die griechische Vorstellung von einem „Gleichgewicht in der Dynamik des Vergnügens und des Begehrens“ (vgl. SuW 2, S. 75) mit meinem Gefühlshaushalt deckt, ist, daß das Prinzip, das den Gebrauch der Lüste reguliert, im „Bedürfnis“ selbst bestand (vgl. SuW 2, S.74). Dieses Bedürfnis hat seine eigene Dynamik, an der sich seine Befriedigung bemißt und begrenzt. Wo wir über die primäre Befriedigung hinaus nach Lustbefriedigung streben, geht uns mit dem Bedürfnis auch die Lust verloren und an deren Stelle tritt die Begierde. (Vgl. SuW 2, S.75f.) Die Griechen nannten das ,Unmäßigkeit‛. Unmäßigkeit bedeutet, daß die angemessene Diät nicht eingehalten wird. Das Bedürfnis setzt ein Maß, nämlich daß es mit seiner Befriedigung endet. Wer mehr will als bloße Befriedigung, ist unmäßig.

Mit Rousseau läßt sich ergänzen, daß nicht nur das Unmaß der Überbefriedigung natürlicher Bedürfnisse zu einer problematischen Lebensführung beiträgt, sondern auch das Erlernen neuer Bedürfnisse durch Nachahmung, deren Befriedigung uns von äußeren Umständen abhängig macht. Bei diesen äußeren Umständen, so schon Rousseau, ist vor allem an eine kapitalistische Wirtschaftsform mit ihrem Konkurrenzprinzip zu denken.

Auch meinen Gedanken, daß wir unseren Bedürfnissen und Begehrungen eine individuelle Gestalt geben können und müssen, finde ich in Foucaults Darlegungen zur griechischen Moral wieder: „In dieser Moral konstituiert sich also das Individuum nicht dadurch als ethisches Subjekt, daß es die Regel seiner Handlung verallgemeinert; sondern im Gegenteil durch eine Haltung und eine Suche, die seine Handlung individualisieren und modularisieren und ihr sogar einen einzigartigen Glanz geben können, indem sie ihr eine rationale und reflektierte Struktur verleihen.“ (SuW 2, S.82f.)

Die Diätetik, also der Gefühlshaushalt, entspricht einer individuellen Rangordnung von Bedürfnissen mit den je besonderen Gelegenheiten, die uns ihre Befriedigung ermöglichen. Und unter diesen Bedürfnissen ist die Sexualität letztlich doch nur eine unter vielen.

Mittwoch, 2. Juli 2025

„Kann der Wille schuld sein, zu sein, was er ist?“

Michel Foucault: Sexualität und Wahrheit (4 Bde.):
Der Wille zur Wahrheit (1976/83; SuW 1)
Der Gebrauch der Lüste (1984/86; SuW 2)
Die Sorge um sich (1984/86; SuW 3)
Die Geständnisse des Fleisches (2018/19; SuW 4)


2. Der imaginäre Punkt

Ich möchte hier gerne ein Problem ansprechen, das meiner Ansicht nach mit dem feministischen Dekonstruktivismus zusammenhängt bzw. von dem Versuch herrührt, die Biologie aus der polymorphen Sexualität auszuklammern und die Sexualität als ein rein gesellschaftliches und gesellschaftspolitisches, letztlich machtpolitisches Konstrukt zu verstehen. Diese Positionierung des Themas als zwangsheterosexuelles Dispositiv kann man, glaube ich, auf Foucaults Diskursbegriff zurückführen, demzufolge es in Diskursen vor allem um Macht und Kontrolle geht. Jedenfalls ist es zur Zeit kaum möglich, über Sexualität zu reden ‒ und das Reden über Sex ist ja Foucault zufolge die biopolitische Grundlage für die Bevölkerungspolitik der letzten drei, vier Jahrhunderte ‒ ohne genaueste Kenntnisse der aktuell geltenden Details im Genderspeech.

Den feministischen Dekonstruktivistinnen ist trotz dieser Orientierung an Foucault etwas abhanden gekommen, worum Foucault noch gewußt hatte, daß nämlich die „Sexualität als ,politisches Dispositiv‛“ nicht „notwendigerweise“ zu einer „Ausschaltung des Körpers, der Anatomie, des Biologischen“ führt (vgl. SuW 1, S.180): „Weit entfernt von jeder Ausradierung des Körpers geht es darum, ihn in einer Analyse sichtbar zu machen, in der das Biologische und das Historische nicht wie im Evolutionismus der alten Soziologen aufeinander folgen, sondern sich in einer Komplexität verschränken, die im gleichen Maße wächst, wie sich die modernen Lebens-Macht-Technologien entwickeln.“ (SuW 1, S.181)

Wenn man die individuelle Dimension hinzufügt, entspricht diese Komplexitätsverschränkung meinem Konzept vom Körperleib als einem Ganzen aus drei Entwicklungsdimensionen. Im folgenden Zitat geht Foucault auf diese dritte Dimension, die Individualität, ein: „Jeder Mensch“, also das Individuum, „soll nämlich durch den vom Sexualitätsdispositiv fixierten imaginären Punkt Zugang zu seiner Selbsterkennung haben (weil er zugleich das verborgene Element und das sinnproduzierende Prinzip ist), zur Totalität seines Körpers (weil er ein wirklicher und bedrohter Teil davon ist und überdies sein Ganzes symbolisch darstellt), zu seiner Identität (weil er an die Kraft eines Triebes die Einzigkeit einer Geschichte knüpft.“ (SuW 1, S.185)

Interessant ist hier Foucaults Verweis auf den Sex als einem imaginären Punkt. Dieser ,Sex‛, zu dem sich alle drei Entwicklungslinien auf welche problematische Weise auch immer zusammenfügen, funktioniert letztlich nicht anders als die Behauptung eines individuellen Ich, nämlich als ein sich als Ich behauptendes Ganzes aus Biologie, Gesellschaft und Individualität. Foucault zufolge bildet diese dreifache Komplexität eine „künstliche Einheit“, von der es in einer vorhergehenden Textstelle heißt: „Einmal hat es der ,Sex‛ möglich gemacht, anatomische Elemente, biologische Funktionen, Verhaltensweisen, Empfindungen und Lüste“ ‒ also die ganze Palette des Körperleibs ‒ „in einer künstlichen Einheit als ursächliches Prinzip, als allgegenwärtigen Sinn und allerorts zu entschlüsselndes Geheimnis funktionieren zu lassen: der Sex als einziger Signifikant und als universales Signifikat.“ (SuW 1, S.184)

Eben aus diesem Signifikant-Signifikat der Sexualität geht das Individuum mit seiner einzigartigen Geschichte hervor. Es ist die Wahrheit nicht für den Staat, sondern für den Begehrensmenschen, und zwar jenseits des Machtdispositivs. Denn zu den „Funktionsprinzipien“ des „Sexualitätsdispositivs“, so Foucault, gehört es, einen „Zugang“ zum Sex zu finden, der ihn nicht unterdrückt oder kontrolliert, sondern ihn befreit. (Vgl. SuW 1, S.186) „Man muß sich“, schreibt Foucault, „von der Instanz des Sexes frei machen“. (Vgl. SuW 1, S.187)

Man darf den Sex also nicht als eine Autorität, nicht als Teil eines Machtdispositivs verstehen, „will man die Mechanismen der Sexualität umkehren, um die Körper, die Lüste, die Wissen in ihrer Vielfältigkeit und Widerstandsfähigkeit gegen die Zugriffe der Macht auszuspielen. Gegen das Sexualitätsdispositiv kann der Stützpunkt des Gegenangriffs nicht das Sex-Begehren sein, sondern die Körper und die Lüste.“ (SuW 1, S.187)

Wie ist das gemeint? Wie können wir uns mit den Körpern und den Lüsten von dem Sex-Begehren als einem Dispositiv der Macht befreien? Will Foucault hier auf etwas hinaus, was Nietzsche und Plessner als zweite Naivität bezeichnen? Schließlich ist das „Element ,Sex‛“ so real wie imaginär und vielleicht auch real, weil imaginär, analog zur Gräfenberg-Zone, an die wir uns blind herantasten und, ob wir sie nun finden oder nicht, möglicherweise dennoch ankommen.

Letztlich ist das Begehren nur ein Motiv unter anderen, wenn auch vielleicht das mächtigste. Aber es gibt sie, diese anderen Motive, die Körper und Lüste im Plural und nicht im Singular. Und es ist eine Aufgabe unserer Vorstellung, unserer Imagination, sie alle in einer jeweils individuellen ‚Ökonomie‛ zu ihrem Recht kommen zu lassen. Vielleicht ist es das, worauf Foucault hinauswill, wenn er davon spricht, uns vom Zugriff der Macht zu befreien.

Das Befreiende für uns alle ist doch letztlich, daß es noch andere Motive gibt als die „Geschlechtslust“, um die es in den vier Bänden von „Sexualität und Wahrheit“ hauptsächlich geht. Das macht eine „Ökonomie der Lustströme“ (vgl. SuW 4, S.284) ja gerade so dringend. Ich selbst spreche in meinem Blog immer vom „Gefühlshaushalt“, der uns eine individuell ausgestaltete Rangordnung von Motiven und Gelegenheiten ermöglicht und eines gewiß nicht beinhaltet: die Dämonisierung irgendeines körperlichen Bedürfnisses oder leiblichen Begehrens.

Ich frage mich, ob die heutige Zersplitterung des Gleichheitsprinzips in verschiedenartige Sprachformeln und Umgangspraktiken, wie sie der LGBTQ+-Etikette entprechen, nicht eine Form der Unterwerfung unter das Machtdispositiv bildet, vor der Foucault schon in den 1970er Jahren gewarnt hatte, als er von der „Ausstreuung und Verstärkung sexueller Disparität“ als Teil einer „Diskursivierung des Sexes“ sprach. (Vgl. SuW 1, S.79)

Dienstag, 1. Juli 2025

„Kann der Wille schuld sein, zu sein, was er ist?“

Michel Foucault: Sexualität und Wahrheit (4 Bde.):
Der Wille zur Wahrheit (1976/83; SuW 1)
Der Gebrauch der Lüste (1984/86; SuW 2)
Die Sorge um sich (1984/86; SuW 3)
Die Geständnisse des Fleisches (2018/19; SuW 4)

1. Der aktuelle Stand
2. Der imaginäre Punkt
3. griechische Antike
‒ Diätetik (Kunst der Lebensführung)
‒ Männermoral
‒ Knabenliebe
4. Kaiserzeit
‒ Diätetik
‒ Ehe und Zweiheit
‒ Mißbrauch der Zweiheit
5. frühes Christentum
‒ Diätetik
‒ Unwillkürlichkeit und Willkür
‒ Ehe und Zweiheit
‒ Erkenntnis
‒ Jungfräulichkeit

Die unter dem zumindest für mich etwas ungewöhnlich klingenden Titel erschienenen insgesamt vier Bände von Michel Foucault, „Sexualität und Wahrheit“, umfassen den Zeitraum der griechischen Antike vom fünften vorchristlichen Jahrhundert bis zum fünften nachchristlichen Jahrhundert, also etwa tausend Jahre. Ungewöhnlich ist für mich die Verknüpfung des Wahrheitsbegriffs mit der Sexualität, denn beides hatte, jedenfalls nach meiner Erfahrung, eigentlich immer reichlich wenig miteinander zu tun gehabt.

Darüber, wie er zu dieser Verknüpfung gekommen ist, gibt Foucault in den vier Bänden keinerlei Auskunft. Erst als ich mir nach der Lektüre der vier Bände seine Vorlesungen zur „Hermeneutik des Subjekts“ (2004) vornahm, stieß ich auf eine Textstelle, in der Foucault selbst, zumindest implizit, auf die Ungewöhnlichkeit dieser Themenstellung eingeht. Er verweist darauf, daß seit Descartes‛ Verengung der Philosophie auf die rationale Erkenntnis das Verständnis für die spezifisch griechische und griechisch-römische „Sorge um sich“, um die es auch dem „Erkenne dich selbst“ des Orakels von Delphi gegangen war, nämlich als Hinwendung zum persönlichen, individuellen Wohlergehen des Menschen, völlig verloren gegangen ist. An die Stelle des individuellen Glücks trat die Erkenntnisgewiß als oberster Zweck des philosophischen Denkens. (Vgl. Foucault 2004, S.28ff.)

Die Wahrheit, um die es in „Sexualität und Wahrheit“ geht, ist deshalb keine Erkenntniswahrheit, die wir der objektiven Beobachtung und der logisch-mathematischen Reflexion verdanken, sondern eine Wahrheit, die das Subjekt „erleuchtet“: „(D)ie Wahrheit schenkt dem Subjekt Glückseligkeit, die Wahrheit verschafft dem Subjekt Seelenruhe. Kurz, in der Wahrheit und im Zugang zur Wahrheit liegt etwas, das die Vollendung des Subjekts vollbringt(.)“ (Vgl. Foucault 2004, S.34)

Die Sexualität wiederum hat die Philosophen der griechischen Antike immer beunruhigt; aus zweierlei Gründen: zum einen läuft der Geschlechtsakt auf einen konvulsivischen, unkontrollierbaren Höhepunkt hinaus und zum zweiten bedrohen gewisse sexuelle Praktiken die Position des Mannes in der patriarchalen Struktur der griechischen Polis. Um es deutlich zu sagen: der Mann liegt oben, die Frau liegt unten. In diesem Fall ist das kein Problem. Zum Problem wird es erst, wenn Männer miteinander Sex haben. Diskutiert wird das Problem aber vor allem bei Sex zwischen erwachsenen Männern und Knaben, und dann geht es vor allem um die künftige Position des Knaben als freier Mann in der Polisgesellschaft, die nicht durch seine Unterwerfung beim Geschlechtsakt gefährdet werden darf.

Unter anderem um solche heiklen Fragen geht es bei dem Titel „Sexualität und Wahrheit“. Der erste Band, „Der Wille zur Wahrheit“ (SuW 1), ist gewissermaßen die Einleitung zu den folgenden drei Bänden. In ihm skizziert Foucault den aktuellen Stand der Dinge hinsichtlich seines Themas: „Die Sexualität wird sorgfältig eingeschlossen. Sie richtet sich neu ein, wird von der Kleinfamilie konfisziert und geht ganz im Ernst der Fortpflanzung auf. Um den Sex breitet sich Schweigen. Das legitime, sich fortpflanzende Paar macht das Gesetz.“ (SuW 1, S.11)

Das ist gewissermaßen die ,Wahrheit‛ der Kleinfamilie. Verständlicherweise interessiert sich Foucault nicht für diese Art von Wahrheit. Wer jetzt allerdings an die 1950er Jahre denkt, wie auch ich es zunächst tat, ist auf dem Holzweg. Damals gab es den Kinsey-Report (1948/55 und 1953/54) und der wurde bis in die 1960er und 1970er Jahre hinein diskutiert. Man kann also nicht sagen, daß sich um den Sex Schweigen ausbreitete. Foucault meint die Viktorianische Epoche des 19. Jhdts., und in der wurde tatsächlich nicht über Sex geredet.

In den folgenden drei Bänden geht es eben darum: wie von der griechischen Antike bis zu den Anfängen des Christentums über den Sex geredet wurde. Dabei geht es zwar um verschiedene Ansätze zur ‚Wahrheit‛ des Sexes, aber immer liegt ihnen die gleiche ontologische Frage nach dem ‚Sein‛ vor allem der männlichen Sexualität bzw. Subjektivität zugrunde. Wir haben es mit einer ontologischen Deutung der sexuellen Praktiken in verschiedenen Phasen des Patriarchats in dem oben genannten, tausend Jahre umfassenden Zeitraum zu tun.

Foucault behauptet, daß die gesellschaftliche Bedeutung der Sexualität weniger in einer Jahrhunderte oder gar Jahrtausende langen Unterdrückung sexueller Praktiken besteht (das aber auch!), auch nicht in der Neuzeit ab dem 16./17. Jhdt., sondern vielmehr im exzessiven Reden über Sexualität; einem Reden, das wiederum Teil einer peniblen Kontrolle des Menschen war und immer noch ist. Gegenstand dieser Kontrolle war und ist die ‚Ökonomie’ der menschlichen Triebe und Affekte, wie wir sie schon aus der griechischen Antike kennen und für die die Sexualität das Paradigma bildete. Anstatt über den Sex zu schweigen, hat man eher „einen Apparat zur Produktion von Diskursen über den Sex installiert, zur Produktion von immer mehr Diskursen, denen es gelang, zu funktionierenden und wirksamen Momenten seiner Ökonomie zu werden.“ (SuW 1, S.35)

Das Possessivpronomen ,seiner‛ (Ökonomie) im Zitat bezieht sich auf den zuvor genannten Sex. Die Diskurse über diesen Sex bilden also die Art und Weise, wie wir den Sex kontrollieren bzw. mit ihm ,haushalten‛. Wir haben es mit einer „Ökonomie der individuellen Lüste“ zu tun (vgl. SuW 1, S.35): „(M)an muß vom Sex sprechen wie von einer Sache, die man nicht einfach zu verurteilen oder zu tolerieren, sondern vielmehr zu verwalten und in Nützlichkeitssysteme einzufügen hat, einer Sache, die man zum größtmöglichen Nutzen aller regeln und optimal funktionieren lassen muß.“ (SuW 1, S.36)

In dem gut tausend Jahre umfassenden Zeitrum der griechischen Antike bis zum frühen Christentum steht das Individuum in ei­nem Spannungsverhältnis zur gesellschaftlichen Ökonomie, die über die Individuen verfügt. In der patriarchal verfaßten Gesellschaftsordnung der Antike waren es überhaupt nur die freien Männer, also die wohlhabenden Grundbesitzer, die für sich individuelle Rechte in Anspruch nehmen, sich um ihre individuelle Bildung kümmern und am politischen Leben teilhaben konnten.

In der Neuzeit, also seit dem 16. Jhdt., schließen die modernen Staaten für ihre Bevölkerungspolitik wieder an den antiken Diskurs zur Ökonomie der Lüste an: „Die Regierungen entdecken, daß sie es nicht nur mit Untertanen, auch nicht bloß mit einem ,Volk‛, sondern mit einer ,Bevölkerung‛ mit spezifischen Problemen und eigenen Variablen zu tun haben wie Geburtenrate, Sterblichkeit, Lebensdauer, Fruchtbarkeit, Gesundheitszustand, Krankheitshäufigkeit, Ernährungsweise und Wohnverhältnis­sen. ... Im Zentrum des ökonomischen und politischen Problems der Bevölkerung steht der Sex ...“ (SuW 1, S.37f.)

Die modernen Regierungen verstanden die sexuelle Ökonomie im wörtlichen Sinne als Teil einer Wirtschaftsordnung, die nur auf der Basis einer wachsenden Bevölkerung funktionieren konnte.

Regina Becker-Schmidt weist mit Bezug auf Hannelore Bublitz darauf hin, daß die Individuen für Foucault nur als „Machteffekte von Rhetoriken“, also von Diskursen von Interesse sind, „die in bestimmten historisch-gesellschaftlichen Praxen wirksam werden“. (In: Feministische Theorien (2000), S.126-146: 133) ‒ Sie hat insofern Recht, als Foucault zwischen Individuen und Subjekten dahingehend unterscheidet, daß die Wahrheitsfrage sich auf die Subjekte bezieht und nicht auf die Individuen. (Vgl. Foucaul 2004, S.34 und S.36) Insofern interessiert er sich tatsächlich vor allem für die Frage nach dem Subjekt.

Ich glaube allerdings, daß Foucault sich vor allem deshalb so intensiv mit diesem Thema auseinandersetzt, weil er aufgrund seiner individuellen Disposition als Homosexueller ein besonderes Interesse an dem Umgang mit Sexualität in der abendländischen Geschichte hat. Es geht ihm, um es mit Plessner zu sagen, in einem existenziellen Sinne um den Körperleib.

Mein Interesse ist dasselbe wie bei Foucault, wenngleich sich meine Motive einerseits als Heterosexueller, andererseits als ehemaliger Katholik von seinen Motiven unterscheiden mögen.

PS: Der Titel, den ich für die aktuelle Reihe von Blogposts gewählt habe, ist ein Zitat aus dem vierten Band von „Sexualität und Wahrheit“. (Vgl. SuW 4, S. 461)

Mittwoch, 4. Juni 2025

Beauvoirs Essays zur Moral des Existenzialismusses

„Soll man de Sade verbrennen? Drei Essays zur Moral des Existentialismus“ (1955/64/83)
Soll man de Sade verbrennen? (S.7-76; 1955)
Für eine Moral der Doppelsinnigkeit (S.77-192; 1947)
Pyrrhus und Cineas (S.193-264; 1944)

1. Entwurf und Transzendenz
2. Wille und Entwurf
3. Wille und Naivität
4. Individuen und Kollektive

Beauvoir behauptet, daß es im Existenzialismus um den einzelnen Menschen in seiner konkreten Individualität geht: „Für den Existentialismus hingegen gehen die Werte nicht vom unpersönlichen, universellen Menschen aus, sondern von der Vielzahl konkreter, einzelner Menschen, die sich aus der Situation heraus, deren Besonderheit eben­so vollkommen, ebenso unaufhebbar ist wie die Subjektivität, auf die von ihnen gesetzten Ziele hin entwerfen.“ (Beauvoir 1983/47, S.86)

Das Zwitterdasein als Einzelmensch und als Kollektivatom macht die Doppelsinnigkeit des Menschen aus. Plessner spricht hier von der Doppelaspektivität von Innen und Außen. Unsere Menschlichkeit umfaßt beide Aspekte, aber bezogen auf das Verhältnis des Menschen zur Menschenwelt ist hier eine Entscheidung impliziert, die ihn entweder zu einem moralischen Wesen macht oder zu einem bloßen Mitläufer, der mit seinem Verstand nichts anzufangen weiß und das Urteilen der Gruppe überläßt, der er sich zugehörig fühlt.

Was den Existenzialismus betrifft, dürfte eigentlich klar sein, welche Entscheidung hier ansteht. Dennoch stellt Beauvoir das Individuum immer wieder auf eine Stufe mit dem Kollektiv. Das liegt am politischen Engagement der existenzialistisch empfindenden Generation nach 1945: sie waren fast alle Marxisten und einige sogar Kommunisten, so daß das kollektive Element nicht grundsätzlich von Übel sein durfte. Das zeigt sich auch in den Essays von Simone de Beauvoir. Beide Existenzformen, Individualität und Kollektivität, werden von Beauvoir im umfassenden Sinne als menschlich geadelt, so als wäre das Kollektiv nur eine Weise der Menschen, „sich der Freiheit der anderen und ihrer eigenen Freiheit bewußt (zu sein)“: „Alles vollzieht sich also sowohl im Einzelmenschen wie im kollektiven Geschehen, als ob der Mensch frei wäre.“ (Beauvoir 1983/47, S.89)

So heißt es z.B. vom Proletariat: „... es kann sich ködern lassen, wie das deutsche Proletariat, oder in der ihm vom Kapitalismus zugestandenen langweiligen Bequem­lichkeit einschlafen, wie es dem amerikanischen Proletariat ergangen ist. In allen diesen Fällen wird man sagen, daß das Proletariat Verrat übt: immerhin muß es also frei sein, Verrat üben zu können.“ (Beauvoir 1983/47, S.88) ‒ Wenn Beauvoir hier dem Proletariat die Freiheit zuspricht, Verrat üben zu können, begabt sie es mit einer Kompetenz, die allein dem Individuum zueigen ist.

Beauvoir spricht vom Proletariat, als handelte es sich um ein Individuum. Sie spricht sogar vom „leibhaftig vorhandenen Proletariat“ (vgl. Beauvoir 1983/47, S.88f.), als hätte es einen individuellen Körper, und unterscheidet es so von der „Idee des Proletariats“ (vgl. Beauvoir 1983/47, S.89), als wäre das Proletariat nicht schon immer nichts anderes als bloß eine körperlose Idee gewesen und als wären ihre einzigen historisch-konkreten Ausformungen nicht die einzelnen Proletarierinnen und Proletarier.

Beauvoir entgeht, daß es sich bei dem angeblich bequemen us-amerikanischen oder verräterischen deutschen ‚Proletariat‛ immer bloß um freischwebende kollektive Befindlichkeiten handelt, also um Abstraktionen, die der demagogischen Verführungskraft des organisierten Kapitalismusses nichts entgegenzusetzen haben. Kollektive haben weder ein körperleiblich situiertes, individuelles Bewußtsein noch eine Moral. Das gilt prinzipiell für alle Arten von Kollektiven, kommunistisch, faschistisch, religiös oder woke. Kollektive sind keine Individuen.

Kollektive sind auch nicht der einzige oder auch nur der bevorzugte Ort, wo Menschen zueinanderfinden. Das Problem, wie „vereinzelte() Menschen zueinander finden können“, wird nicht durch eine „Moral der Doppelsinnigkeit“ gelöst. (Vgl. Beauvoir 1983/47, S.86f.) Vielmehr haben wir es mit einem Scheinproblem zu tun, denn nicht die angebliche ‚Vereinzelung‛ ist das Problem. Tatsächlich können nur Individuen zueinanderfinden, denn die wesentliche Voraussetzung dafür ist, daß sich zwei Menschen gegenseitig als ein Ich erkennen. Dazu aber müssen diese Menschen Individuen sein. Sobald sie also Du zueinander sagen, haben sie einander gefunden. In Kollektiven sehen die Menschen in anderen Menschen immer nur ihr Kollektiv. Wenn sie ‚Du‛ sagen, meinen sie ‚Wir‛.

Daß Kollektivität und Individualität nicht verträglich koexistieren können, kommt auch in der Inkonsequenz zum Ausdruck, mit der Beauvoir mehr um den heißen Brei herumredet, als dieses Thema analytisch zu entwickeln. Hatte sie zunächst „Heldentum“ und „sportliche Leistungen“, also kollektivistische Befindlichkeiten erzeugende Höchstleistungen im Bereich moralischer und physischer Standards, als Realisierungsformen der menschlichen Transzendenz gewürdigt (vgl. Beauvoir 1983, S.191), ergießt sie acht Seiten später ihren Spott über den spießbürgerlichen Stolz „harmloser Bürger“, die sich an Berichten über eine „Ersteigung des Himalaja“ ergötzen: „Dadurch, daß sich ein Mensch mit seinem Geschlecht, seinem Land, seiner Gesellschaftsschicht, mit der ganzen Menschheit gleichsetzt, kann er seinen Garten vergrößern, aber er vergrößert ihn nur durch Worte. Eine solche Gleichsetzung ist nichts als leere Anmaßung.“ (Beauvoir 1983/44, S.199)

So etwas läßt sich nicht einfach so behaupten, ohne daß es auch den transzendentalen Status von Kollektiven in Zweifel zieht. Auch Kollektive sind nichts anderes als eine leere Anmaßung. Dem Satz: „Mein ist vor allem die Verwirklichung meines Entwurfs: ein Sieg ist mein, wenn ich für ihn gekämpft habe.“ ‒ der das Individuum wieder ins Recht zu setzen scheint, widerspricht Beauvoir dann aber gleich wieder in ihrer direkt nachfolgenden Erläuterung: „Der müde Eroberer kann sich der Siege seines Sohnes deshalb erfreuen, weil er einen Sohn nur darum gewollt hat, damit dieser sein Werk fortführt ...“: „Weil meine Subjektivität nicht Reglosigkeit ist, Zurückgeworfensein auf sich selbst, Getrenntheit, sondern im Gegenteil Bewegung auf anderes hin, wird der Unterschied zwischen diesem und mir aufgehoben, und so kann ich anderes mein nennen!“ (Beauvoir 1983/44, S.199f.; Hervorhebungen DZ)

Für Beauvoir ist also die Kollektivierung von individuellen Höchstleistungen Teil der menschlichen Transzendenz. So wird aus der Dyade Vater/Sohn ein Minikollektiv. Dann aber darf sich auch der genannte ‚harmlose‛ Bürger über die Ersteigung des Himalaya freuen, ohne sich in Beauvoirs Augen lächerlich zu machen.

Gerade was das Kernanliegen des Existenzialismusses betrifft, der freie Entwurf oder pathetischer ausgedrückt: die Freiheit, geht es, was das Kollektiv betrifft, um eine grundlegende Entscheidung. Wenn wir geboren werden, dann nicht einfach nur in eine physische Welt, sondern vor allem in eine Lebenswelt. Die Lebenswelt ist die ursprüngliche, kollektive Seinsform des Menschen und zugleich ein Schicksal, aus dem der Mensch wie aus Platons Höhle den Ausgang finden muß. Zwar sind wir immer beides, Kollektivwesen und Einzelmenschen, aber zugleich gilt, daß es den Menschen nicht sowohl als Kollektivwesen wie auch als Individuum gibt. Es gibt hier kein Sowohl-Als auch, sondern nur ein Entweder-Oder.

Der Mensch ist eben nicht immer und unter allen Umständen grundsätzlich frei; gerade auch dann nicht, wo er, wie Sartre meint, „aus freien Stücken“ unfrei ist, und auch dann nicht, wenn er, wie Kant meint, „selbstverschuldet“ unmündig ist. Es ist nur ein dialektischer Trick, ihm in solcher Unfreiheit eine Freiheit zuzusprechen. Der Mensch mag frei sein, wenn er die Chance hat, sich im Moment einer wie auch immer prekären Freiheit für die Unfreiheit zu entscheiden. Dann aber ist er nicht mehr frei und alles weitere geschieht mit ihm so, als wäre er nie frei gewesen.

Die Menschen haben also immer beides in sich, die Freiheit und die Unfreiheit, die Individualität und die Kollektivität. Wenn sie sich Kollektiven unterwerfen, dann weil sie Menschen sind. Wenn sie sich als Individuen zu behaupten versuchen, dann weil sie Menschen sind. Als Angehörige von Kollektiven verlieren sie nicht ihre Menschlichkeit. Wir leben immer in einer Lebenswelt, selbst dann, wenn wir aus der Höhle heraustreten. Das ist es, was Marx mit dem Menschen als „Ensemble“ gesellschaftlicher Verhältnisse gemeint hat.

Unserer Verantwortung als Mensch stellen wir uns erst in dem Moment, wo wir vor der Entscheidung stehen, uns als Individuen zu behaupten. Das ist der Moment unserer „zweiten Geburt“ als Mensch, wie Rousseau es im „Émile“ (1760) nennt. Wenn wir also den Moment des Erwachens ungenutzt lassen und in den kollektiven Schlaf zurücksinken, sind wir im Kantischen Sinne selbstverschuldet unmündig geworden. Dann aber sind wir eben nicht mehr frei. Denn unfrei ist unfrei, auch wenn es selbstverschuldet ist. Offen bleibt nur, welche Chancen sich uns in unserem weiteren Leben noch bieten, diese Entscheidung zu revidieren.

Beauvoir bestätigt das, wenn sie schreibt: „In Wirklichkeit aber läßt sie (die Freiheit ‒ DZ) sich nicht von der Bewegung jener ambivalenten Realität trennen, die man das Dasein nennt, und die nur ist, indem sie sich sein macht; die Freiheit ist nur insofern gegeben, als sie errungen werden muß.“ (Beauvoir 1983/47, S.92; Hervorhebungen DZ)

Mit anderen Worten: wo wir unsere Freiheit nicht zu erringen versuchen, sind wir auch nicht frei! Wir sind nicht gleichzeitig frei und unfrei, als könnte beides nebeneinander koexistieren. Wer in der relativen Freiheit einer rechtsstaatlich verfaßten Demokratie lebt, sich aber nach autoritären Machthabern sehnt, ist unfrei. Und wer in diesem Sinne unfrei ist, ist es nicht einmal mehr „aus freien Stücken“.

Das ist vielleicht das Grundproblem liberaler Demokratien: sie bieten den Menschen kaum Gelegenheit, ihre Freiheit zu erkämpfen, weshalb ihr Bestand immer gefährdet bleiben wird.

Dienstag, 3. Juni 2025

Beauvoirs Essays zur Moral des Existenzialismusses

„Soll man de Sade verbrennen? Drei Essays zur Moral des Existentialismus“ (1955/64/83)
Soll man de Sade verbrennen? (S.7-76; 1955)
Für eine Moral der Doppelsinnigkeit (S.77-192; 1947)
Pyrrhus und Cineas (S.193-264; 1944)

1. Entwurf und Transzendenz
2. Wille und Entwurf
3. Wille und Naivität
4. Individuen und Kollektive

Nachdem Beauvoir in ihrem Essay zur Doppelsinnigkeit der Moral die Existenz des Menschen als ein immerwährendes sich-Entwerfen auf Ziele hin dargestellt hat, das selbst dort, wo er seine Ziele erreicht, zugleich ein Scheitern ist ‒ „... man kann sich eine Aufhebung des Scheiterns nicht vorstellen, ohne gleichzeitig an den Tod zu denken“ ‒, stellt Beauvoir die sehr berechtigte Frage: „Aber ist dieser Kampf ohne Sieg nicht eine bloße Selbsttäuschung? Manche Menschen werden behaupten, daß es sich hier nur um einen Trug der Transzendenz handle, die sich ein Ziel vorsetzt, das unaufhaltsam in die Ferne rückt, die also gleichsam in einem endlosen Auf-der-Stelle-Treten sich selbst nachläuft.“ (Beauvoir 1983/47, S.190f.)

Die einzige angemessene Antwort auf diese Frage wäre das Als-ob einer zweiten Naivität, in der wir den gegenwärtigen Sinn unserer Existenz ergreifen, ohne uns Illusionen über die Endlichkeit alles Sinnstrebens zu machen. Stattdessen flüchtet sich Beauvoir in ein pathetisches Heldentum, das an Camus’ absurden Menschen erinnert: „Wenn die Menschen den Worten, den Formen, den Farben, den mathematischen Lehrsätzen, den physikalischen Gesetzen, den sportlichen Leistungen, dem Heldentum Wert beimessen, wenn sie sich gegenseitig in der Liebe, der Freundschaft Wert beilegen, dann haben die Dinge, die Geschehnisse, die Menschen diesen Wert, und sie haben ihn absolut.“ (Beauvoir 1983/47, S.191; Hervorhebung SB)

Beauvoir verabsolutiert also das Als-ob einer zweiten Naivität und verwandelt diese damit in genau die „Ernsthaftigkeit“, gegen die sie sonst in ihrem Essay so hartnäckig zu Felde zieht. Das liegt nicht zuletzt daran, daß Beauvoir so leicht vom Lob des Sports und des Heldentums hinübergleitet zum Lob der Freundschaft und der Liebe, als handelte es sich bei der Kollektivität und bei der Individualität um dieselbe Menschlichkeit. Dazu im nächsten Blogpost dieser Reihe mehr.

Beauvoir hat eine sehr angestrengte, ungnädige Einstellung zu den Annehmlichkeiten des Lebens. Jedes naive Sich-gehen-lassen konfrontiert sie mit der Notwendigkeit, weitere Risiken auf sich zu nehmen und sich neuen Kämpfen zu stellen. Eine zweite Naivität, die eine Neutralität zum Wechsel von Muße und Engagement ermöglicht, zieht sie nicht in Betracht. Das zeigt sich deutlich an ihrer Einstellung zum Genuß. So heißt es beispielsweise, „im Augenblick des Genießens“ sammele „sich eine ganze Vergangenheit“. (Vgl. Beauvoir 1983/44, S.204)

Ein friedliches Bild von einem erfüllten Feierabend tut sich hier auf, am Ende eines anstrengenden Tages oder auch als Gewinn eines von Erfahrungen erfüllten Lebens. Aber schon im nächsten Satz zerstört Beauvoir den Moment der inneren Sammlung und beharrt darauf, daß es im „Augenblick des Genießens“ darum gehe, „sich mit ihm auf die Zukunft hin zu entwerfen“. (Vgl. Beauvoir 1983/44, S.204) ‒ Kein Verweilen ohne Ausblick auf ein Mehr, nicht einmal in einem auch noch so schönen ‚Augenblick‛. Der Existenzialismus als faustischer Pakt mit dem Teufel.

Oder Beauvoir schreibt: „Die Sonne, den Schatten genießen heißt, das Dasein als eine langsame Bereicherung erfahren“, was einen wieder an Muße denken läßt. Das Leben als Reifung und als Bildung. Dann konterkariert sie diese stille Einkehr wieder damit, daß es beim Rasten darum gehe, „wieder aufzubrechen“: „Gleichzeitig mit dem zurückgelegten Weg betrachte ich die Täler, zu denen ich hinabsteigen werde, betrachte ich meine Zukunft.“ (Beauvoir 1983/44, S.204) ‒ Im Hier und Jetzt gibt es für Beauvoir keinen Genuß. Jedenfalls keinen, der nicht sofort in den Drang übergeht, wieder aufzubrechen.

Wenn Beauvoir einerseits André Gide zitiert: „Eine Tasse Schokolade mit Zimt trinken, bedeutet Spanien trinken ...“ (Vgl. Beauvoir 1983/44, S. 204), schreibt sie andererseits dem bezaubernden Duft und der Landschaft die schnöde Funktion zu, „uns über sich selbst hinaus“ zu werfen (vgl. Beauvoir 1983/44, S.204). Auch hier also: kein sich-Verlieren in Duft und Landschaft; nur wieder angestrengtes über sich hinaus.

Bei der Frage, ob der Wille in erster Linie eine Kognition ist oder eine Emotion, hat sich Beauvoir für die Kognition entschieden. Nach ihrer Auffassung ist der Wille nur Wille als Entwurf, und die Gefühle dienen ihm.

Montag, 2. Juni 2025

Beauvoirs Essays zur Moral des Existenzialismusses

„Soll man de Sade verbrennen? Drei Essays zur Moral des Existentialismus“ (1955/64/83)
Soll man de Sade verbrennen? (S.7-76; 1955)
Für eine Moral der Doppelsinnigkeit (S.77-192; 1947)
Pyrrhus und Cineas (S.193-264; 1944)

1. Entwurf und Transzendenz
2. Wille und Entwurf
3. Wille und Naivität
4. Individuen und Kollektive

Das existenzialistische, von Heidegger abgeschaute Gerede vom ‚Geworfen sein‛, vom ‚Werfen‛ und vom ‚Entwurf‛, vom Entwurfscharakter des menschlichen Daseins, verdeckt nur den anthropologischen Umstand, daß es die Gefühle sind, die den Menschen nicht ruhen lassen, und daß es die Gefühle sind, die den Menschen in Bewegung setzen. Sie sind auch der Grund, warum das menschliche Bewußtsein als Intentionalität oder mit Schopenhauer als „Wille und Vorstellung“ beschrieben werden muß. Unsere Transzendenz ist es, denken zu können. Nur im Denken hat der Mensch die Freiheit und die Wahl. Aber seine Wahl, sein ‚Entwurf‛ beschränkt sich darauf, welchem seiner Willensstrebungen er Priorität einräumen will, im Bezug auf eine Situation und im Bezug auf sein Leben. Mit ‚Willensstrebungen‛ meine ich alle unsere Gefühle. Ich mache keinen Unterschied zwischen unserem Willen und unseren Neigungen, wie Kant es macht.

Auch Beauvoir grenzt sich vom Kantischen Willensbegriff ab: „Im Unterschied zu Kant halten wir jedoch den Menschen nicht für einen wesensmäßig positiven Willen; im Gegenteil, zunächst bestimmt er sich selbst als Negativität: er nimmt zunächst sich selbst gegenüber Abstand ein, er kann nur dann mit sich übereinstimmen, wenn er bereit ist, sich nie wieder mit sich selbst zu vereinigen.“ (Beauvoir 1983/47, S.98; Hervorhebung DZ)

Beauvoir bezieht sich hier auf Kants Betonung des guten Willens, der sich von unseren Neigungen dadurch unterscheidet, daß er sich dem moralischen Gesetz unterordnet. Weil die Menschen dazu ‚neigen‛, sich Ausnahmen von der moralischen Norm zu gestatten, sind sie ‚böse‛. Wenn Beauvoir entsprechend diesem Gegensatz gut/böse nun zwischen positivem Willen und Negativität unterscheidet, erweckt sie den Eindruck, es könne so etwas wie einen negativen Willen geben. Aber der Wille ist immer positiv. Einen negativen Willen kann es gar nicht geben, weil er nämlich entweder nicht oder nichts wollen würde. Er höbe sich also selbst auf. Außerdem bezieht sie den Willen nur auf das Verhältnis des Menschen zu sich selbst und klammert so sein Verhältnis zur Welt aus..

Plessner hingegen beschreibt den Willen allererst als ein Weltverhältnis, der dann, weil er an der Welt scheitert, reflektiert wird. Jetzt erst, als gebrochener Wille, wird er negativ: wir werden uns unserer selbst bewußt. Bevor wir an uns selbst scheitern, scheitern wir an der Welt. Das, was der Existenzialismus den „Entwurf“ nennt, basiert primär auf einem Selbstverhältnis, das von vornherein das Scheitern in seine Entwürfe einbezieht. Aber die Möglichkeit des Scheiterns wird uns erst durch die Erfahrung des Scheiterns bewußt. Diese Erfahrung ist nicht Teil des Willensakts, sondern dessen Resultat in einer Welt, die nicht für uns da ist. Wo Willensakte nicht in erster Linie an der Welt scheitern, bedarf es keiner Entwürfe.

Beauvoir redet von ‚Entwürfen‛, wie ich vom ‚Gefühlshaushalt‛ rede. Ich setze eine Vielzahl von Gefühlen voraus, die ich allesamt als Willensregungen verstehe. Beauvoir spricht aber von einer Vielzahl von Entwürfen, denen ein Wille, in der Einzahl, zugrundeliegt. Um jetzt angemessene Entwürfe für unser Handeln zu finden, müssen wir allererst diesen Willen kennen.

In einem Kontext, in dem es darum geht, wie wir uns einander in einer Liebesbeziehung ,hingeben‛, schreibt Beauvoir: „Aber in diesem Fall müßte man zuerst den Willen des anderen kennen, und das ist nicht so einfach. Jeder Entwurf hat eine zeitliche Dauer und umfaßt eine Vielzahl von Einzelentwürfen. Man muß also zu unterscheiden wissen zwischen jenen Entwürfen, die mit dem Hauptentwurf in Einklang stehen, jenen, die ihm widersprechen, und jenen, die nur zufällig mit ihm verbunden sind ...“ (Beauvoir 1983/44, S.234f.)

Das gilt nicht nur für unseren Umgang miteinander, sondern auch für uns selbst. Alle Menschen müssen sich mit einer Vielzahl von Einzelentwürfen auseinandersetzen, mit denen sie ihr Leben zu organisieren versuchen. Das entspricht dem, was ich den ‚Gefühlshaushalt‛ nenne: wir müssen lernen, zwischen wichtigen Willensregungen und bloßen Launen zu unterscheiden, weil unser Leben zu kurz ist, um uns alle unsere Wünsche zu erfüllen. Beauvoir macht aber den Fehler, bei der Vielzahl von Entwürfen nur von einem einzigen Willen, der den vielen Entwürfen zugrundeliegt, auszugehen. Die Vielfalt der Entwürfe ist nicht der Vielfalt der Möglichkeiten in einer endlichen Welt, sondern allererst der Vielfalt unseres Wollens geschuldet.

Wir müssen also nicht nur verstehen, was unsere Mitmenschen wollen, sondern auch, was wir selbst wollen. In ihrem Essay zu de Sade beschreibt Beauvoir ein Konzept von Intentionalität, das meinem ‚Gefühlshaushalt‛ entspricht: innerhalb einer Vielzahl von Begehrungen, Bedürfnissen und Launen ist die den ganzen Menschen umfassende Grundleidenschaft die Sexualität. Beauvoir zitiert de Sade: „Der sexuelle Genuß ist eine Errungenschaft, die meines Erachtens alle anderen Leidenschaften in sich vereint.“ (Zitiert nach: Beauvoir 1983/55, S.47f.)

Beauvoir fährt fort: „Wie der erste Teil dieses Satzes beweist, ahnt Sade nicht nur bereits das voraus, was Freud später als ‚Pansexualität‛ bezeichnet, sondern er hält auch den Geschlechtstrieb für die eigentliche Triebfeder allen menschlichen Verhaltens; zudem behauptet er im zweiten Teil des Satzes, daß die Sexualität Bedeutungen hat, die über sie hinausgehen; die Libido ist allgegenwärtig, und sie ist stets viel mehr, als sie ist: diese große Wahrheit hat Sade zweifellos zumindest geahnt. Er weiß, daß hinter den ‚Perversionen‛, die der Durchschnittsmensch als moralische Abirrung oder als physiologischen Makel betrachtet, das steht, was man heute als ‚Intentionalität‛ bezeichnet.“ (Beauvoir 1983/55, S.48)

Das Zitat fügt sich nahtlos in mein Konzept vom Gefühlshaushalt ein. Allerdings ist die Libido, die eigentlich nur die Sexualität meint, so dominant sie auch sein mag, ein zu kleines Wort, das nicht alle unsere Motive zu erfassen vermag. Ich spreche hier lieber vom Willen bzw. wie Beauvoir am Schluß des Zitats von ‚Intentionalität‛.

Diese Intentionalität ist ein Sammelbegriff für alle unsere Willensregungen, die wiederum nichts anderes sind als das Gesamt unserer Befindlichkeiten bzw. Gefühle. Um im Rahmen dieses vielfältigen Ensembles dominante und notwendige Empfindungen wie das Begehren und die physiologischen Bedürfnisse (Hunger, Durst etc.) von bloßen Affekten und Launen zu unterscheiden, bedarf es einer Disziplin der Selbstbeobachtung, die es uns ermöglicht, nach und nach herauszufinden, was wir für ein Leben führen wollen. Das Ergebnis einer solchen Selbstbeobachtung ist ein Gefühlshaushalt. Darunter verstehe ich eine Rangordnung und eine Zeitökonomie. Unser Leben ist zu kurz, um es an Launen zu verschwenden, die wir uns oft genug bloß von anderen abgeschaut und übernommen haben.

Sonntag, 1. Juni 2025

Beauvoirs Essays zur Moral des Existenzialismusses

„Soll man de Sade verbrennen? Drei Essays zur Moral des Existentialismus“ (1955/64/83)
Soll man de Sade verbrennen? (S.7-76; 1955)
Für eine Moral der Doppelsinnigkeit (S.77-192; 1947)
Pyrrhus und Cineas (S.193-264; 1944)

1. Entwurf und Transzendenz
2. Wille und Entwurf
3. Wille und Naivität
4. Individuen und Kollektive

Ich schreibe in diesem und in den folgenden Blogposts zu Simone de Beauvoirs Essayband „Soll man de Sade verbrennen?“ keine Rezension, sondern nur Kommentare. Das hat nicht nur etwas damit zu tun, daß ich in den letzten Jahren nicht mehr den Anspruch auf die Wissenschaftlichkeit von Rezensionen erhebe, sondern in diesem Fall vor allem damit, daß es mir mit Beauvoirs Essays vor allem um das anthropologische Grundkonzept des Existenzialismusses geht: um den Entwurfscharakter der menschlichen Existenz. Ich gehe deshalb summarisch auf die diesbezüglichen Aussagen der drei Essays ein. Ich diskutiere diese Essays nicht einzeln und nacheinander, sondern suche mir raus, was ich brauche, um meine Position zu schärfen.

Mit ,Entwurf‛ meint Beauvoir eine ambivalente anthropologische Grundbefindlichkeit, wie überhaupt der Begriff der Doppelsinnigkeit ihre drei Essays wie ein roter Faden durchzieht. Ambivalent ist der Wurf als ‚geworfen Sein‛, in diese Welt hinein, die nicht darauf gewartet hat, daß wir in ihr erscheinen, und die auch nicht für uns gemacht worden ist, weil es uns nämlich zuvor gar nicht gegeben hat. Es hat uns auch niemand geworfen. Dieser Wurf ist uns geschehen. Ein Zufallswurf, wie im Würfelspiel, und jetzt sind wir da.

Zugleich aber haben wir die Möglichkeit, selbst zu werfen, uns in Werfende zu verwandeln. Das ist der Entwurf. Daß wir uns auf ein Ziel hin entwerfen können, ist unsere Freiheit bzw. unsere Transzendenz. Wir können den Zufall, das Gegebene, überschreiten. Denn das bedeutet ‚transzendieren‛: überschreiten. Im Entwurf überschreiten wir die Grenzen des Zufälligen und Gegebenen. Existieren heißt transzendieren. Für die Existenzialistin bilden diese Wörter eine Tautologie.

Das ist also das Ambivalente am ‚Entwurf‛: der Mensch ist ein Geworfener und zugleich ein Werfender. An Pyrrhus ‒ ein griechischer Kriegsherr, auf den das Wort vom Pyrrhussieg geprägt wurde, einem Sieg, der zugleich eine Niederlage ist ‒ macht Beauvoir diese Ambivalenz deutlich. Der auf neue Eroberungen ausgehende Pyrrhus wird von seinem treuen Weggefährten Cineas gefragt, ob er nicht lieber zuhause bleiben und ausruhen wolle. Pyrrhus will aber erst noch weiter erobern, bevor er ausruht; immer weiter und weiter. (Vgl. Beauvoir 1983/44, S.195) Beauvoir läßt keinen Zweifel daran, auf wessen Seite sie steht: „Nicht Cineas, sondern Pyrrhus hat recht. Pyrrhus bricht auf, um zu erobern: möge er das tun.“ (Beauvoir 1983/44, S.226)

Man könnte Pyrrhus und Cineas mit dem Sisyphus von Camus vergleichen. Schon daß der Sieg in Pyrrhus’ größter Schlacht den Keim seiner künftigen Niederlage in sich trug, ist für den Existenzialismus zentral. Denn in allen unseren Entwürfen geht es nicht um die Ziele, die wir mit ihnen verfolgen. Kein Ziel kann den Menschen befriedigen. Kein Ziel, wenn es erreicht ist, kann ihn dazu bringen, innezuhalten. Letztlich ist Pyrrhus ein Sisyphus und unterscheidet sich von Camus’ Sisyphus nur darin, daß er nicht immer nur ein und denselben Stein den Berg hinaufrollt, sondern jedesmal einen anderen. Aber in der Summe sind alle diese Eroberungssteine doch letztlich immer nur ein und derselbe Stein.

Cineas hingegen unterscheidet sich von Sisyphus darin, daß er überhaupt keinen Stein den Berg hinaufrollen will. Aber wäre er dann auch glücklich, so wie es Sisyphus Camus zufolge ist? Vielleicht ja. Vielleicht nicht. Falls er auch glücklich wäre, wäre er es aber grundlos; denn ihm fehlt der Stein. Existenzialistisch ausgedrückt: ohne Stein kein Entwurf. Ohne Entwurf kein Glück. Das Glück aber ist kurz und nur ein Durchgang zu neuen Entwürfen.

Bei Beauvoir läuft in ihren drei Essays immer alles auf dieses fortwährende sich-Entwerfen hinaus. Pyrrhus ‚wirft‛ sich in seine Eroberungen, wie alle Menschen, die sein wollen. Damit distanziert Beauvoir sich auch von Heidegger, für den der Mensch nicht ein Sein im Entwurf, sondern ein Sein zum Tode ist. (Vgl. Beauvoir 1983/44, S.227) Beauvoir hält dagegen: „Aber für mich, der ich lebe, ist mein Tod nicht; mein Entwurf geht durch ihn hindurch, ohne auf ein Hindernis zu stoßen. Es gibt keine Schranke, auf die meine Transzendenz im vollen Schwung stößt; sie erstirbt von selbst, wie das Meer, das an einen flachen Strand anbrandet, innehält und nicht weiter vordringt.“ (Beuavoir 1983/44, S.227)

Das sind wundervolle, geradezu poetische Sätze. Sie erinnern mich an ein Erlebnis vor etwa zwölf Jahren: ein Karatelehrer forderte mich auf, mit der bloßen Hand eine Dachpfanne zu zertrümmern. Als ich aus Angst, mich zu verletzen, zögerte, gab er mir den Rat, mich nicht auf die Dachpfanne, sondern auf einen imaginären Punkt hinter der Dachpfanne zu konzentrieren. Ich folgte seinem Rat und als ich zuschlug, löste sich meine Spannung in einem Schrei. Meine Hand ging mit „vollem Schwung“ durch die Pfanne hindurch, als wäre da kein Hindernis. Zurück blieben die Trümmer der Pfanne.

Schon damals dachte ich, daß man so sterben sollte: sich auf einen imaginären Punkt hinter der Wand des Todes konzentrierend. Was auch immer hinter dieser Wand sein mag: dort brandet unser Leben aus, hält inne und dringt nicht mehr weiter vor.

Ich gebe gerne zu, daß das Zuschlagen und das Ausbranden ein in sich widersprüchliches Bild ergeben. Wenn wir jedoch das Zuschlagen mit der nackten Hand als eine Form des Loslassens verstehen, paßt alles wunderbar zusammen.

Aber nicht nur der Begriff des Entwurfs ist ambivalent. Auch der Begriff der Transzendenz als Überschreitung. In der Regel meint Beauvoir damit das Überschreiten von Grenzen. Wie ambivalent das ist, zeigt sich, wenn sie schreibt: „jedes Sichbedienen ist Überschreitung“. (Vgl. Beauvoir 1983/44, S.213) ‒ Im ‚Sichbedienen‛ klingt an, daß wir es beim Überschreiten von Grenzen nicht nur mit einer Befreiung zu tun haben, sondern unter Umständen auch mit einer Grenzverletzung; mit einem Übergriff. Gewalt ist für Beauvoir nicht einfach etwas Negatives. Sie kann etwas Positives sein: die Dachpfanne muß zertrümmert werden.

Beauvoir beschreibt das menschliche Verhältnis zur Welt mit Vokabeln wie Gewalt und Kampf. Mit anderen, weniger konfrontativen Zugängen zur Welt kann sie nichts anfangen, wie sich beispielsweise an ihrer sonderbaren Einstellung zum Genuß zeigt (vgl. Beauvoir 1983/55, S.47f.), worauf ich im dritten Blogpost dieser Reihe nochmal gesondert eingehen werde. Auch mit Paradiesen kann Beauvoir wenig anfangen: „Weil der Mensch Transzendenz ist, fällt es ihm so schwer, sich je irgendein Paradies vorzustellen. Das Paradies ist Ruhe, ist Aufhebung der Transzendenz, ist ein Zustand, der gegeben wird, also nicht zu überschreiten ist. Aber was sollen wir dort nur anfangen? Damit wir es überhaupt aushalten können, müßte dort Raum für Handeln, für Wünsche vorhanden sein, müßten wir das Paradies seinerseits überschreiten können, dürfte das Paradies kein Paradies sein.“ (Beauvoir 1983/44, S.206)

Ist das vielleicht der Grund, warum unsere technische Zivilisation alle Weltregionen, die annähernd paradiesisch anmuten, in Wüsten verwandelt? Die Menschen halten es einfach nicht aus, nichts zu tun. Sie halten es nicht mit sich aus. Deshalb entwerfen sie sich. Deshalb überschreiten sie Grenzen.

Freitag, 2. Mai 2025

Menschliche und technische Evolution

Martina Heßler: „Sisyphos im Maschinenraum. Eine Geschichte der Fehlbarkeit von Mensch und Technologie“ (2025)

Die wichtigste Frage, die Martina Heßler in ihrem Buch stellt, lautet: „Wie verlässt man den Pfad der ständigen technologischen Leistungssteigerung in einer komplexen Welt, die stets komplexer wird?“ (Heßler 2025, S.240) ‒ Mit dem Sisyphus im Buchtitel spielt sie darauf an, daß die Menschen so auf die Technik fixiert sind wie einst Sisyphus auf seinen Stein und vergeblich alle die durch die Technik verursachten und, wiederum wegen der Technik, immer komplexer werdenden neuen Probleme mit neuen, noch komplexeren Technologien unter Kontrolle zu bringen versuchen.

Martina Heßler teilt die Technikgeschichte der letzten drei- bis vierhundert Jahre in drei Phasen ein. In der ersten Phase vom 17. bis in das 20. Jahrhundert hinein haben wir es nur mit mechanischen Maschinen wie etwa der Dampfmaschine und dem mechanischen Webstuhl zu tun. Sie unterliegen bekannten physikalischen Gesetzen und verwandeln nach einsehbaren, bis ins kleinste Detail festgelegten maschinellen Prozeduren fossile Energie in Bewegung um. Diese Maschinen werden zunehmend zu Leitbildern der Menschenerziehung. Die Philanthropen des 18. Jhdts. verwendeten für ihre Erziehungs- und Schulprojekte gerne Maschinenmetaphern.

In der zweiten Hälfte des 20. Jhdts., in den 1970er Jahren, waren die Maschinen so komplex geworden, daß der Mensch sie nicht mehr bedienen konnte. Er ,entwickelte‛ sich mit den Maschinen nicht mit und war zunehmend von ihrer ständig sich erhöhenden Leistungskraft überfordert. Es entstand eine neue Forschungsrichtung, das Human Factors Engineering: „Die Human Factors-Forscher beklagten eine prinzipielle evolutionäre Grenze des Menschen, die sich nicht in der gleichen Geschwindigkeit weiterentwickeln könnten wie Maschinen.“ (Heßler 2025, S.229)

Mit Hilfe des Human Factors Engeneering sollten die Maschinen menschenfreundlicher bzw. bedienungsfreundlicher gestaltet werden. Die industriellen Arbeitsprozesse sollten nicht mehr an den Maschinen, sondern an den Menschen ausgerichtet werden.

Die Menschen, schreibt Heßler, „nahmen“ sich zum ersten Mal „als hinter der Technik zurückgeblieben wahr“: „Menschen entpuppten sich, wie die Zeitgenossen vielfach konstatierten, als der Bedienung der Technik nicht gewachsen, sie erwiesen sich als Bremse der technologischen Entwicklung und des Fortschritts. ... Aus der Beobachtung eines ,evolutionären Zurückbleibens‛ der Menschen resultierte ein relationales und vor allem systemisches Denken des Mensch-Maschinen-Verhältnisses, das in seiner historischen Bedeutung nicht zu unterschätzen ist.“ (Heßler 2025, S.164f.)

Aber so komplex die Maschinen inzwischen auch geworden waren, so blieben sie doch prinzipiell berechenbar und kontrollierbar. Zwar war der Wartungs- und Reparaturbedarf so enorm gestiegen, daß das menschliche Wartungspersonal bei der Behebung von Störfällen wiederum auf die Hilfe von ,Expertensystemen‛, also von Maschinen angewiesen war, aber die Ingenieure wußten, was ihre Maschinen konnten und wie sie funktionierten.

Das änderte sich in der dritten Phase der Technikgeschichte in den 2000er Jahren, als den Ingenieuren mit der KI ein qualitativer Sprung in eine neue technologische Dimension gelang. Sogenannte ,lernende‛ KI sammelt mit Hilfe statistischer Methoden Daten, auf deren Basis sie Probleme löst, deren Komplexität den menschlichen Verstand übersteigt. Außerdem wirkt die KI-Maschine auf schräge Weise menschlich. Sie entwickelt sich: „Das Maschinenhafte ist nicht mehr das Standardisierte, das Regelhafte und Immergleiche. Vielmehr entwickeln sich KI-Anwendungen unterschiedlich. Sie haben gleichsam eine individuelle Biografie, die von ihrem Gegenüber und ihrem Nutzungskontext abhängt. Es sind die jeweiligen Daten und der jeweilige Nutzungskontext, die die KI permanent verändern.“ (Heßler 2025, S.199; Hervorhebung MH)

Hier eröffnet sich eine neu-alte Dimension der Fehlerhaftigkeit: neu, weil kein Ingenieur mehr vorhersagen kann, in welche Richtung sich eine KI-Anwendung entwickelt, und folglich auch nicht mehr erklären kann, wie sie zu einem bestimmten Resultat gekommen ist. Im Unterschied zu allen Vorgängermaschinen ist die KI eine Blackbox. Wie Heßler den Philosoph Klaus Mainzer zitiert: „Es ist sogar in leicht mystischer Diktion von einem ,dunklen Geheimnis im Zentrum der KI ...‛ die Rede.“ (Vgl. Heßler 2025, S.199)

Wäre die KI tatsächlich eine Intelligenz, müßte man wohl von einem maschinellen Unbewußten reden. Tatsächlich handelt es sich aber bloß um einen blinden Fleck im Bewußtsein ihrer Konstrukteure, die zugeben müssen, daß sie ihre eigenen Konstrukte nicht mehr verstehen.

Soweit die neue Dimension der KI-Maschinen. Die alte Dimension aber besteht darin, daß diese KI auf fatale Weise zu unserem Spiegel geworden ist. Die ‚Informationen‛, die diese Maschine ‚verarbeitet‛, sind nie durch einen Wahrnehmungs- und Denkprozeß in Auseinandersetzung mit einer realen Welt hindurchgegangen, sondern wurden auf statistische Weise einem vorhandenen, möglichst umfassenden Datenpool entnommen. Im KI-Forscherjargon ist von einem Weltmodell bzw. von einem Sprachmodell die Rede. Texte generierende KI-Anwendungen arbeiten nur auf Basis von Daten, die schon da sind, und erheben keine neuen Daten. Sie haften an dem, was schon da ist, und können also auch nur ,denken‛, was schon da ist. Sie reproduzieren unsere Fehler und können auch nur Lösungen anbieten, die dem vorhandenen Datenpool entsprechen. Mit anderen Worten: sie können nur schon vorhandene Muster reproduzieren, die im Zweifel Muster von Fehlern sind, die dann aber als Fehlerlösung präsentiert werden.

Außerdem verdoppelt und verdreifacht die KI unsere menschliche Fehlerhaftigkeit, da sie die von ihr selbst generierten Daten wieder dem allgemeinen Datenpool einfügt und dann ein zweites, drittes und viertes Mal (Ende offen) entnimmt und erneut ‚verarbeitet‛. Einen alternativen Zugang zur realen Welt hat sie ja nicht.

Martina Heßler führt das spezielle Versagen der KI deshalb auf ihre „statistische Verfahrensweise“ zurück, die „gesellschaftliche Muster fortschreibt“. (Vgl. Heßler 2025, S.203) Statt menschliche Fehler zu begrenzen, potenziert die KI diese Fehler, indem sie den Status quo zementiert: „... der Dualismus von fehlerhaften Menschen und perfekten Maschinen wird damit hinfällig. Menschliche Fehler werden nicht mit KI ausgeräumt.“ (Heßler 2025, S.204)

Einer der fatalsten menschlichen Fehler besteht wohl darin, daß sich das Vertrauen in die Maschine und in den technologischen Fortschritt so tief in das menschliche Bewußtsein eingegraben hat, daß wir nicht mehr in der Lage sind, eine Welt zu denken, deren zu Katastrophen sich steigernden Krisen, die wir wiederum unserer Technikversessenheit zu verdanken haben, anders als wiederum durch Technik gelöst werden können.

Martina Heßler faßt zusammen: „Die gegenwärtigen Versprechungen sind aus der langen Geschichte der Figur fehlerhafter Menschen allzu vertraut. Weiß man um ihre Geschichte, so überrascht die Hartnäckigkeit, mit der die Erwartungen wiederholt werden. Haben sie sich nicht immer wieder als illusionär erwiesen? Gleichwohl verblassen die mit der Figur verbundenen Paradoxien ‒ das Wechselspiel menschlicher und maschineller Unvollkommenheiten, die Spiralen der technischen Aufrüstung und die alltäglichen Mühen des Sisyphus im Maschinenraum ‒ immer wieder hinter den Verheißungen eines maschinellen Modernismus.“ (Heßler 2025, S.195)

Das also ist die neu-alte Dimension der KI-Maschine: sie spiegelt unser Schicksal, wie Sisyphus mit seinem Stein immer wieder ,unten‛ anfangen zu müssen ‒ bei uns selbst.

Donnerstag, 1. Mai 2025

Paradoxien des technologischen Fortschritts

Martina Heßler: „Sisyphos im Maschinenraum. Eine Geschichte der Fehlbarkeit von Mensch und Technologie“ (2025)

Martina Heßler, Professorin für Technikgeschichte an der TU Darmstadt, beschreibt in ihrem Buch die Geschichte des Verhältnisses von Mensch und Maschine seit dem Beginn der industriellen Moderne im 17. und 18. Jahrhundert. Im Zentrum dieses Mensch-Maschineverhältnisses steht die „Figur“, wie Heßler schreibt, des fehlerhaften Menschen, der sich Maschinen konstruiert, um seine eigenen Unzulänglichkeiten zu kompensieren und zu überwinden, ein Motiv, das sich bis zum Pygmalionmythos der griechischen Antike zurückverfolgen läßt. Ging es in dem Mythos um die perfekte Frau, so geht es bei den Maschinen zunächst um den perfekten Arbeiter und wurde dann im Verlauf des 19. Jhdts. um die ethische Dimension erweitert, insofern die technische Norm der Maschine zunehmend als eine moralische Norm verstanden wurde. Die fehlerfreie Maschine wurde zunehmend zum Ideal einer menschlichen Fehlerfreiheit stilisiert.

Die Autorin zeichnet die Anfänge und die Veränderungen dieses ambivalenten Verhältnisses von Mensch und Maschine bis in unsere Gegenwart und den aktuellen Hype um eine KI hinein nach, auf die wieder dieselben Hoffnungen und Versprechen projiziert werden wie schon auf die ersten Dampfmaschinen und mechanischen Webstühle. Und die auf nur allzu absehbare Weise wiederum scheitern werden. Denn schon die klassischen Maschinen hatten die an sie gerichteten Erwartungen und Hoffnungen nicht erfüllt. Das gilt um so mehr für die KI, als diese als transklassische Maschine nicht nur mit den klassischen, sondern auch mit völlig neuartigen Paradoxien belastet ist, wie sie mit der Figur des fehlerhaften Menschen und der angeblich fehlerfreien Maschine notwendigerweise verbunden waren und jetzt in gesteigerter Weise mit der KI verbunden sind.

In diesem ersten Blogpost zu Heßlers Buch gehe ich auf die Paradoxien einer Anthropologie ein, die den Menschen als Mängelwesen (Arnold Gehlen) definiert und wie sie die Ingenieure seit Anfang des 19. Jhdts., lange vor Gehlen, vertraten, dabei aber gleichwohl, bis in die 50er und 60er Jahre des 20. Jhdts. hinein, obwohl selbst fehlerhafte Menschen, den Anspruch erhoben, perfekte Maschinen konstruieren zu können. Ich habe in Heßlers Buch insgesamt sechs solcher Paradoxien gezählt.

1. Paradox der Selbstbeurteilung

Fehlerhafte Menschen, die perfekte Maschinen bauen, sind gleich schon das erste Paradox: „Dies ist eine der unreflektierten Paradoxien der Figur fehlerhafter Menschen: dass diejenigen, die die Fehlerhaftigkeit definieren, selbst unter ihre Beschreibung fallen.“ (Heßler 2025, S.32)

Das Paradox bezieht sich vor allem auf Ingenieure, die perfekte Maschinen bauen wollen. Menschen, die so denken, sind unfähig zur Selbstkritik. Sie denken ihre Aufgabe ausschließlich von der Maschine her. Der Mensch ist nur ein Störfaktor, und es wurde tatsächlich immer wieder ineins mit der Ausschaltung des Störfaktors auch die Abschaffung des Menschen gefordert. Wenn auch zunächst nur auf dem Weg der ,Freistellung‛ von Arbeiterinnen und Arbeitern, dann aber auch als generelle, auf alle Menschen bezogene Forderung.

2. Paradox der Entscheidungsfreiheit

Wer die Wahl hat, muß sich entscheiden. Wer sich entscheidet, muß Verantwortung für seine Entscheidung übernehmen. Wo wir keine Wahl haben, gibt es auch nichts zu entscheiden. Wo es nichts zu entscheiden gibt, gibt es auch keine Verantwortung.

Nun versuchen aber Menschen spätestens seit den 40er und 50er Jahren des 20. Jhdts., komplexe Probleme, die den einfachen Menschenverstand überfordern, an Computer auszulagern. Aber zu einer Zeit, in der Computer noch nach einfachen mechanischen Kriterien funktionierten, also strikten Regeln (Algorithmen) unterworfen waren, gab es für sie keine Wahl. Sie waren nicht frei, sich anders zu entscheiden, als es ihnen ihre Algorithmen vorschrieben. Menschen versuchten also, die Entscheidungsverantwortung an Maschinen abzugeben, die über keinerlei Entscheidungsfreiheit verfügten. (Vgl. Heßler 2025, S.51)

3. Paradox der industriellen Automation

Dieses Paradox besteht in dem Versuch, das Problem der Überforderung der Menschen durch eine hohe Arbeitsbelastung ineins mit dem Problem der fehlenden Zeit für sinnvollere (kreative) Tätigkeiten mittels zunehmender Automation der industriellen Produktion zu lösen. Einerseits wird die industrielle Produktion technisch immer aufwendiger und komplexer und verdrängt den Menschen aus ihr, andererseits greift die Technisierung auch auf die anderen Lebensbereiche des Menschen über und ,kolonisiert‛ sie, bis die Menschen immer weniger selbst tun können und zu Ersatztätigkeiten wie Konsum und Freizeitgestaltung greifen. (Vgl. Heßler 2025, S.72f.)

4. Paradox des ,Übermenschen‛ bzw. der Evolution

Wir kennen den Übermenschen von Nietzsche her. Nietzsche dachte dabei an den nächsten Schritt in der Evolution: der Übermensch löst den Menschen ab. Der Mensch stirbt aus. Die US-Amerikaner machten daraus Superman, den wir nicht der irdischen Evolution verdanken, sondern der von einem anderen Planeten kommt. In dieser Denktradition steht auch die sogenannte Singularität, eine gottähnliche Super-Intelligenz, die letztlich auch den Menschen abschafft.

Hier vermischen sich menschliche Evolution und technische Evolution, und was die Entwicklungsfähigkeit anlangt, läuft die Maschine dem Menschen, der sich im Vergleich zu ihr als entwicklungsunfähig erweist, den Rang ab, „wobei“, so Martina Heßler, „paradoxerweise ja gerade die Menschen für die technische Evolution verantwortlich waren“. (Vgl. Heßler 2025, S.157f.; zur Evolution vgl. S.152, 160, 164, 198f., 213, 229, 233)

5. Paradox der Reparaturbedürftigkeit

Heßler spricht hier nicht von einem Paradox, sondern von „Ironie“. Ich vermute, weil die keineswegs fehlerfreien Maschinen auf fortwährende Wartungs- und Reparaturdienste durch fehlerhafte Menschen angewiesen sind. Darüberhinaus richtet sich aber die Ironie auch auf die wechselseitige ‚Spiegelung‛ eines immer schon paradoxen Mensch-Maschineverhältnisses, insofern Werkzeuge jetzt nicht mehr nur Werkzeuge sind, also Verlängerungen unserer vorhandenen natürlichen Organe, sondern diese durch neuartige Organe ergänzt und sogar ersetzt werden. Cyborgs sind letztlich ihrer menschlichen Natur enteignete Menschen. Was bedeutet, daß nicht nur die immer komplexer werdenden Maschinen gewartet und repariert werden müssen, sondern auch der Cyborg selbst. Denn Technik geht nun mal kaputt, und das um so schneller, je komplizierter sie ist. (Vgl. Heßler 2025, S.173)

Ist es schon angesichts der komplexen maschinellen Infrastruktur außerhalb des menschlichen Körpers zunehmend schwierig, einen Fehler zu finden, steigert sich die Problematik bei defekten Technologien innerhalb des Körpers. Cyborgs sind entgegen der landläufigen Ansicht keineswegs glückliche geschweige denn ,bessere‛ Menschen.

6. Paradox der antiquierten Versprechungen

Von den mit dem technischen Fortschritt einhergehenden Versprechungen einer bequemeren und sichereren Welt war eingangs schon die Rede gewesen: „... die gegenwärtigen Versprechen basieren noch immer auf den Idealen einer mechanischen Maschine, die die chaotischen, fehlerhaften Menschen einhegen soll. Dies erweist sich jedoch als antiquiert, denn die neuartigen KI-Maschinen können die Versprechen, die aus einem mechanischen Zeitalter stammen, gar nicht einlösen.“ (Vgl. Heßler 2025, S.200)

Davon, warum das so ist: warum KI-Maschinen noch weniger als ihre mechanischen Vorgänger das Versprechen einer (für den Menschen) perfekten Zukunft einlösen können, wird im nächsten Blogpost die Rede sein.

Montag, 21. April 2025

Ich suche Menschen: 15 Jahre Erkenntnisethik

Vor fünf Jahren beendete ich meinen Blog in der Absicht, mich in ein Offline-Leben zurückzuziehen. Daraus wurde dann aber nur eine einjährige Pause, und 2022 setzte ich den Blog wieder fort. Allerdings anders als zuvor. Ich gab den wissenschaftlichen Anspruch des Blogs auf. Ich schreibe keine meist fachwissenschaftlich angebundenen Rezensionen mehr, sondern nur noch Kommentare zu Büchern, die ich lese, darunter hin und wieder auch Comics. Ich verfolge mein eigenes Projekt, das mehr als früher darin besteht, meine Beziehung zu den Menschen ins Zentrum zu stellen. Ich will klären, was mir wichtig ist am Menschen. Ich will wissen, was mich als Mensch ausmacht. In den letzten Jahren ging es mir hauptsächlich um die Wechselbeziehung zwischen Ich und Du.

Außerdem postete ich Gedichte. Ich kam zu der Einsicht, daß mit „Erkennt­nis­ethik“ nicht nur eine philosophische Anthropologie in der Nachfolge von Helmuth Plessner gemeint sein konnte. Es ging nicht einfach nur um die allgemeine Frage nach unserer Lebensführung. Ich habe jetzt ein Alter erreicht ‒ und die 15 Jahre „Erkennt­nis­ethik“ haben den Weg dazu bereitet ‒, wo ich dies vor mir selbst eingestehen kann: ich schreibe um zu überleben. Wenn ich aufhöre zu schreiben, höre ich auf zu leben.

* * *

Etwas hat sich in dem Umfeld, in dem ich meinen Blog schreibe, grundsätzlich geändert. In den letzten 15 Jahren hatte ich mich immer wieder gegen die sogenannte „Künstliche Intelligenz“ gewandt, der des Denkens nicht mächtige KI-Möchtegernforscher zutrauen, dem Menschen irgendwann das Denken zu ersparen, weil sie es besser kann. Manchmal denke ich, daß sie es schon geschafft hat.

Inzwischen mag die KI zwar das Denken noch nicht ganz abgeschafft haben, aber Autorinnen und Autoren hat sie jetzt den Rang abgelaufen und ,generiert‛ selber Texte. Denken kann sie immer noch nicht, aber schreiben schon. Das nächste, was sie abschaffen wird, ist die menschliche Leserschaft, die ja schon längst auch die menschliche Textproduktion nicht mehr zu bewältigen vermag. Damit überhaupt noch gelesen wird, bedarf es also einer KI. ChatGPT braucht keine menschlichen Leserinnen und Leser. Sie liest sich selbst und produziert auf dieser Grundlage Texte, die sie wiederum selbst liest usw. Sie nimmt uns also nicht nur das Schreiben, sondern auch das Lesen ab. Ich selbst habe schon Kommentare von ChatGPT bekommen und zunehmend taucht diese KI auch in der Sta­tistik meines Blogs auf.

Für wen schreibe ich also meinen Blog? ‒ Für mich selbst. Ich bin Autor und Leser meiner Texte in Personalunion.

* * *

Was also unterscheidet mich noch von ChatGPT? ‒ Vielleicht folgendes: In den letzten drei Jahren habe ich mir für meine Lektüre, statt neue zu kaufen, zunehmend Bücher aus meinem Regal geholt. Oft waren Bücher dabei, von denen ich glaubte, sie noch nicht gelesen zu haben und in denen ich Unterstreichungen und Rand­bemerkungen vorfand, die das Gegenteil belegten. Nach den Erscheinungsjahren zu urteilen, lag die Erstlektüre oft 30 bis 40 Jahre zurück, und ich hatte sie komplett vergessen. Anhand dieser Markierungen, insbesondere der Randbemerkungen, fiel mir auf, wie sehr ich mir in all diesen Jahren in meinem Denken treu geblieben bin, aber auch, wo sich nun die zweite Lektüre palimpsestartig über die Erstlektüre legt, manchmal sogar in einer dritten Schicht, daß ich doch über die früheren Denkschichten hinausgewachsen bin. Ich bin kein Hamster im Rad gewesen und nicht im Vorwärtshasten auf der Stelle verharrt. Das finde ich tröstlich.

Diese oft bis zu vierzig Jahre umfassende Denkgeschichte verlief ganz offensichtlich weitgehend unterhalb meines reflektierenden Bewußtseins. Deshalb hatte ich zwar keine Erinnerung an diese Lektüren, aber sie waren nicht wirkungslos geblieben.

* * *

Meine Beziehung zu den Büchern in meinen Regalen war immer auch recht ambivalent gewesen. Einerseits erwarb ich ständig neue Bücher, auf die ich neugierig war, die ich dann aber nicht las, weil ich sie, wie sich herausstellte, noch nicht verstehen konnte. So z.B. die drei Vernunftkritiken von Immanuel Kant. Oft fragten mich Bekannte, die vor meinen Regalen standen, ob ich die auch alle gelesen hätte. Eine typische Frage von Nichtlesern, die nicht verstehen können, daß es darauf gar nicht ankommt. Daß es oft wichtiger ist, ein Buch zu haben, als es zu lesen. Vor mir selbst habe ich mich immer damit getröstet, daß ich später mal, als Rentner, in einem Sessel vor einem Kamin sitzen würde, und alle die Bücher lese, die bis dahin ungelesen im Regal gestanden hatten. Auch Kant.

Das war die eine Seite meiner Bücherbeziehung. Die andere Seite war, daß ich Sorge hatte, im Leben zu kurz zu kommen. Daß mich die Bücher davon abhalten könnten, eine Freundin zu finden. Damals, als ich jung war, gab es noch keine social media, und Bücher galten als eine Droge, Lesen als eine Suchterscheinung. Bücherkritiker warnten vor „Eskapismus“. Michael Ende hatte ein Buch darüber geschrieben und nannte es „Die unendliche Geschichte“.

Tatsächlich war ich in den 1980ern eine Zeitlang versucht, mich all meiner Bücher zu entledigen, sie auf dem Flohmarkt zu verramschen oder so. Glücklicherweise kam es nicht dazu. Stattdessen lernte ich, Bücher so zu lesen, daß ich nicht jedesmal blind alles glaubte, was darin stand. Ich lernte, Bücher so zu lesen, daß ich meinen Verstand beim Lesen nicht ausschaltete, sondern mitdachte. Auf diese Weise sind sie für mich in einer für mich schwierigen Zeit zu meinen Lebensrettern geworden.

* * *

Und deshalb bleibe ich ihnen treu, in einer Welt, in der die Digitalisierung alle Lebensbereiche so umgestaltet hat, daß ich die Menschen nicht mehr wiedererkenne. Sie sind mir fremd geworden. Früher einmal hatte ich verstehen wollen, was es mit dem Menschen auf sich hat, weil ich ein Mensch unter Menschen sein wollte. Heute versuche ich nur noch, die Erinnerung daran zu bewahren, was Menschen einmal gewesen sind. In der Hoffnung, daß sie es irgendwann wieder sein werden.

PS (Ostermontag): Als ich diesen Blogpost vor etwa einem Monat schrieb, war mir noch nicht bewußt gewesen, daß der 15. Jahrestag auf einen Ostermontag fallen würde. Deshalb eine Klarstellung zum Blogtitel: es geht bei diesem Klassikerzitat nicht um eine Anspielung auf die Suche nach Ostereiern. Es sei denn die Leserin, der Leser, sieht das anders.

Samstag, 5. April 2025

Unterschied


Es schmerzt oft das, was blüht.
Selbst das Glück: es macht uns weinen.
Das ist es, was geschieht,
wenn wir zu lieben meinen.

Was ist der Unterschied
zwischen Hoffnung und Verzweiflung?
Er ist das, was geschieht
zwischen Saat und Ernte:
Reifung.

Montag, 24. März 2025

Karl Löwith: „(Die Welt) bleibt immer sie selbst: übermenschlich und absolut selbständig.“

1. ,Kehre‛
2. Weltbestimmungen
3. Sensualismus
4. Referenz
5. ,Mein‛ Du
6. Zwiegespräch und Gewissen
7. Erwiederung statt Erwiderung
8. primäre Willensverhältnisse
9. die eigentliche Kehre

Karl Löwith, „Das Individuum in der Rolle des Mitmenschen“ (1928/62)
In: „Mensch und Menschenwelt“ (1981, S.9-197)
ders., „Welt und Menschenwelt“ (1960)
In: „Mensch und Menschenwelt“ (1981, S.295-328)

Im Vorwort zur Neuauflage seiner Habilitationsschrift (1962) distanziert sich Karl Löwith von ihr und schreibt, sich auf sich selbst als dritte Person beziehend: „Würde er das Thema heute von neuem bedenken, so geschähe es nicht mehr in der Vereinzelung auf die formale Struktur des Verhältnisses von ‚Ich‛ und ‚Du‛, sondern in dem weiteren Zusammenhang mit der umfassenden Frage nach dem Verhältnis von Mensch und Welt, innerhalb dessen Mitwelt und Umwelt nur relative Welten sind.“ (Löwith 1962/81, S.14; Hervorhebungen KL)

Löwith verweist seine Leser auf seinen Aufsatz „Welt und Menschenwelt“ (1960), in dem er die in seiner Habilitationsschrift vorgenommene Rangfolge von nichtmenschlicher und menschlicher Welt umkehrt: das Primat hat jetzt nicht mehr die Menschenwelt, sondern die nichtmenschliche Welt. Das ist die wirkliche, die eigentliche Kehre, auf die ich schon im ersten Blogpost dieser neunteiligen Reihe hingewiesen habe. Dazu passen die zahlreichen Widersprüche und Unstimmigkeiten in Löwiths Habilitationsschrift. Löwith hatte es auf seinem weiteren Weg nicht dabei belassen können; aber anstatt seinen Ansatz zur Wechselbeziehung von Ich und Du weiterzuentwickeln und nach und nach von seinen Widersprüchen und Unstimmigkeiten zu bereinigen, hat er sich letztlich vollständig von ihm abgewandt.

Das Zitat im Titel dieses Blogposts stammt aus dem Aufsatz. (Vgl. Löwith 1960/81, S.328)

* * *

In seiner Habilitationsschrift hatte Löwith also noch zwischen der nichtmenschlichen Welt und der Menschenwelt dahingehend differenziert, daß der eigentliche Widerstand gegen das menschliche Bewußtsein, der bei Plessner zum Hiatuserlebnis führt, nicht von der Naturwelt, sondern von der Menschenwelt ausgeht. In seinem Aufsatz „Welt und Menschenwelt“ (1960) (Löwith 1981, S.295-328), dessen Titel mit dem Titel des ersten Bandes seiner gesammelten Schriften, „Mensch und Menschenwelt“ (1981), in einem eigentümlichen Spannungsverhältnis steht, sieht Löwith das anders. Ausgehend von dem Staunen der alten Griechen angesichts einer Weltordnung (Kosmos), die unabhängig vom Menschen ihren eigenen Bestand hat und ihren eigenen Gang geht, vertritt Löwith jetzt nicht mehr die Auffassung, daß die Menschen „privativ“ aufgrund des Widerstands ihrer Mitmenschen, sondern vom Staunen über den Kosmos zur Selbsterkenntnis gelangen ‒ und zwar gerade weil dieser Kosmos nicht menschlich ist:
„Jedermann kennt die ,Welt‛, und man bewegt sich alltäglich in ihr, aber eines Tages fragt man sich erstaunt, was Welt und Mensch sind und was es heißt, sich als Mensch in der Welt vorzufinden. Das allererste Phänomen, das ein Erstaunen hervorruft, ist aber natürlicher Weise nicht der erstaunende Mensch, sondern die erstaunliche Welt, weil die natürliche Blickrichtung ein Ausblick ist, der nach außen geht, und nicht die Reflexion auf uns selbst, die als eine Rückwendung die Zuwendung zu dem voraussetzt, was wir nicht selbst sind.“ (Löwith 1960/81, S.315)
Die Rede von der „Mitwelt“, wie sie die Habilitationsschrift dominiert, verschleiert nämlich, daß die Menschen in ihr nur um ihresgleichen und um sich selbst kreisen. Diese ‚Welt‛ ist allererst die Lebenswelt, in der wir zeitlebens befangen sind und aus der uns nur ein Hiatuserlebnis im Plessnerschen Sinne herauszureißen und mit unserer Begrenztheit zu konfrontieren vermag.

In diese Richtung zielt also Löwith zufolge auch das Staunen der alten Griechen. Diese Griechen interessierten sich nicht für das Worumwillen der alltäglichen Lebenspraxis: „Für die Griechen, die im Sehen und Schauen lebten ‒ ,okular‛ wie es York von Wartenburg von seinem christlichen Standpunkt aus nennt ‒, bezeugte dagegen diese Möglichkeit des ‚theorein‛ die höchste menschliche Daseinsweise und Tätigkeit. Sie ist die höchste, weil sie die von allen praktischen Zwecken freieste ist: ein freimütiger Anblick der Welt und alles dessen, was an ihr und in ihr erscheint. Die Stimmung der philosophischen Theoria ist das erstaunende Schauen.“ (Löwith 1960/81, S.316)

Löwith zufolge kommt der „theoretische() Charakter der Metaphysik“ (vgl. Löwith 1960/81, S.316) ursprünglich von der sinnlichen Wahrnehmung der physischen Welt: „Als eine Vorstufe der reinen Einsicht begreift er (Aristoteles ‒ DZ) das sinnlich wahrnehmende Sehen, sofern es um seiner selbst willen geübt und geschätzt wird und nicht nur der praktischen Umsicht dient.“ (Löwith 1960/81, S.316)

Was Löwith hier nicht erwähnt, ist, daß die „reine Einsicht“ der Metaphysik wiederum selbst zu einer Abwendung des Blicks von der Welt, wie sie ist, führt. Denn die Metaphysik konstruiert sich ihre eigene Welt, begrenzt durch eine kontemplative Schau, die alles Empirische geringschätzt, weil es eben mit den alltäglichen Mitteln und Zwecken und mit diesen wiederum mit der Sinnlichkeit kontaminiert ist. In der Metaphysik wird das Denken zum Selbstzweck und tritt an die Stelle der sinnlichen Wahrnehmung.

Hier gilt, daß das Denken erst dort beginnt, wo wir nichts mehr wollen: „Die praktische Voraussetzung der Theoria als philosophischer Einsicht um der Einsicht willen ist also, daß diejenigen Bedürfnisse, die gemeinhin die dringendsten und nötigsten sind, schon befriedigt sein müssen, um sich mit dem, was von ihnen aus beurteilt das Überflüssige, Nutzlose und Zwecklos ist, in Freiheit beschäftigen zu können.“ (Löwith 1960/81, S.317)

Löwith referiert hier nicht einfach eine Position der griechischen Antike, die historisch für überwunden gelten könnte, sondern an der es festzuhalten gilt: „Diese Besinnung auf den ursprünglichen Sinn der Theorie und ihres Verfalls in eine konstruierende Spekulation und Ideologie soll zugleich ihre mögliche Wiederherstellung nahebringen. ... in der Überzeugung, daß die Griechen eine Entdeckung machten, die ‒ wie jede Entdeckung ‒ für immer wahr bleibt, auch wenn sie verschüttet und wieder vergessen wird oder in Mißkredit fällt, weil es keine Philosophen mehr gibt, die noch das gute Gewissen zur Betrachtung der Welt haben.“ (Löwith 1960/81, S.314)

Die Menschenwelt spielt nur noch am Schluß des Aufsatzes, im letzten Satz, eine Rolle. Als Mahnung an Löwiths Zeitgenossen, aber auch als Warnung auf die Zukunft des Menschen bezogen: „Angenommen, es könnte dem Menschen gelingen, die Welt der Natur wie seine Umwelt zu beherrschen und Bacons Gleichung von Wissen und Macht zur Vollendung zu bringen, so wäre der Mensch nicht mehr Mensch und Welt nicht mehr Welt.“ (Löwith 1960/81, S.328)

Aber 65 Jahre danach muß festgestellt werden, daß seine Warnung verfehlt gewesen ist. Zwar haben wir inzwischen einen technologischen Stand erreicht, mit dem wir gut 2300 Jahre nach Archimedes den Planeten aus den Angeln gehoben haben, aber wir sind auch weiter denn je von Bacons Vision, die „Gleichung von Wissen und Macht“ zu vollenden, entfernt. Mit jeder neuen technologischen Innovation vermehren wir lediglich den längst eingetretenen Kontrollverlust über unsere Welt.

Aber gerade deshalb bleibt Löwiths Einsicht in die Relevanz einer nichtmenschlichen Welt für unsere Menschlichkeit überlebenswichtig. Löwith hatte seine Kehre zu Beginn der 1960er Jahre vollzogen. Heute steht sie für uns alle auf der Tagesordnung.

Sonntag, 23. März 2025

Karl Löwith: „Nur ,Du‛ kannst der ,Meine‛ sein ...“

1. ,Kehre‛
2. Weltbestimmungen
3. Sensualismus
4. Referenz
5. ,Mein‛ Du
6. Zwiegespräch und Gewissen
7. Erwiederung statt Erwiderung
8. primäre Willensverhältnisse
9. die eigentliche Kehre

Karl Löwith, „Das Individuum in der Rolle des Mitmenschen“ (1928)
In: „Mensch und Menschenwelt“ (1981, S.9-197)
ders., „Welt und Menschenwelt“ (1960)
In: „Mensch und Menschenwelt“ (1981, S.295-328)

Löwith weist mehrfach in seiner Habilitationsschrift darauf hin, daß es keinen Widerstand von leblosen Dingen oder von Naturdingen gegen den Willen des Menschen geben kann; anders als Plessner, der den Hiatus als Brechung eines auf die Welt schlechthin, also auch auf die nichtmenschliche Welt gerichteten Willens beschreibt. (Vgl. Löwith 1928/81, S.59f., 81, 119f.) Mit diesem Hiatus meint Plessner eine Kluft, die sich durch die Brechung des Intentionsstrahls zwischen Mensch und Welt öffnet. Tatsächlich spricht Plessner der menschlichen Welt, der „Mitwelt“, ein eigenes „Substrat“ ab. (Vgl. „Stufen des Organischen“, S.302) Nur die einzelne menschliche Person vereint Außenwelt (Körper) und Innenwelt (Seele) in einem Substrat: dem Körperleib.

Wenn aber bei Löwith von einem menschlichen Substrat die Rede sein kann, dann nur in Bezug auf unsere Mitmenschen: „Zunächst kommt des andern Selbständigkeit nur ‚wider-willig‛, d.h. fremder Eigenwille wider den eigenen Willen zum Ausdruck. Als Kind beansprucht einer etwas von seinen Eltern, als Untergebener von seinen Vorgesetzten, als Mann von seiner Frau und umgekehrt. Ausdrücklich bewußt wird in diesen primären Willensverhältnissen die Selbständigkeit des einen und andern erst dann, wenn dem eigenen Anspruch nur un-vollkommen entsprochen oder ausdrücklich wider-sprochen wird. Die darin erfahrene Selbständigkeit ist somit privativ, in Rücksicht auf den eigenen unerfüllten Anspruch bestimmt. Sie zeigt sich nicht so sehr als eine ursprünglich freie Selbständigkeit des andern denn als unfreiwillige Abhängigkeit meiner selbst vom andern.“ (Löwith 1928/81, S.152)

,Privativ‛ meint also, da wird jemand der Erfüllung seines Anspruchs ,beraubt‛, was einem Hiatuserlebnis gleichkommt. Dieser am Mitmenschen erfahrene Hiatus führt also wie bei Plessner zur Reflexion des eigenen Bewußtseins als Selbstbewußtsein (außer natürlich bei Donald Trump): „Durch den Widerstand des andern gegen mich auf mich selbst zurückgebracht (), kann ich dazu gebracht werden, auf die darin zum Ausdruck gekommene Selbständigkeit des andern nun freiwillig Rück-sicht zu nehmen und damit zugleich selbst eine freie Selbständigkeit zu gewinnen; denn solange ich mich seiner Selbständigkeit widersetze und sie mir nicht frei begegnen kann, bin ich selbst, wider Willen, aber eigentlich gerade zufolge meines anspruchsvollen Gegenwillens, von ihm abhängig.“ (Löwith 1928/81, S.153)

Anders als bei leblosen oder natürlichen Weltobjekten (Gegenständen) führt mich Löwith zufolge der Gegenwille meiner Mitmenschen nicht nur zum Bewußtsein meiner selbst, sondern auch zur Erkenntnis meiner mit einem eigenen Willen ausgestatteten Mitmenschen. Das macht auch die Problematik einer theologischen Deutung des Du deutlich. In der Theologie geht es, wie Löwith schreibt, nur darum, „daß es dem eigenen Willen nach nicht auf den eigenen Willen ankommt“. (Vgl. Löwith 1928/81, S.151) Wo es aber auf den eigenen Willen nicht ankommt, können sich Ich und Du nicht als frei wollende Subjekte begegnen. Sie können sich nicht als einander „ebenbürtige“ Selbstzwecke anerkennen. (Vgl. Löwith 1928/81, S.153) Der Gottesbezug ermöglicht also, anders als Martin Buber meinte, nicht die freie Wechselbeziehung zwischen Ich und Du, sondern verhindert sie.

Diese Kritik an der Theologie, die Löwith im Rahmen seiner Diskussion von Kants Moralphilosophie äußert, ähnelt meiner Kritik am Monotheismus hinsichtlich seiner Geringschätzung des menschlichen Willens. Deshalb muß ich jetzt doch auch mal Kants Moralphilosophie kritischer lesen als bisher. Bislang hatte ich Kant immer als Befreier des Menschen aus religiösen Abhängigkeiten gelesen. Alles soll Kant zufolge auf den Willen des Menschen ankommen, wobei ich über die Einschränkung hinwegsah, daß es ihm dabei vor allem um den guten Willen ging. Ich verstand diesen guten Willen angesichts des menschlichen Hangs zum radikal Bösen als eine notwendige Einschränkung.

Dennoch muß ich zugeben, daß Kant den guten Willen mit der Bereitschaft gleichsetzt, sich dem moralischen Gesetz unterzuordnen; einer Pflicht, die sich besonders gegen jede auch noch so gutartige eigene Willensregung richtet und der wir Kant zufolge nur dann genügen, wenn wir gegen unseren Willen, sprich: gegen unsere Neigungen handeln. Diese Einstellung unterscheidet sich nicht von dem jüdisch-christlichen Hauptgebot der Gottesverehrung, das dem Menschen genau dieselbe Haltung Gott gegenüber abverlangt. Ob es sich also um das moralische Gesetz oder um Gottes Willen handelt: beides läuft auf völlige Unterwerfung hinaus.

Löwith bringt diese ,Zweideutigkeit‛ der Kantischen Moralphilosophie auf den Punkt, wenn er von der „Definition der Pflicht als eines Selbstzwangs“ spricht. Das „natürlich-sinnliche Geneigtsein“ wird von Kant als etwas „Fremdes (Heteronomes)“ denunziert. (Vgl. Löwith 1928/81, S.157; Hervorhebungen KL) Mit anderen Worten: „(D)ie Natur des Menschen“, eben sein Wille, wird „gegen deren Natur“ bestimmt, also gegen sich selbst gerichtet. (Vgl. ebenda) Das, so Löwith, sei die „Wurzel aller wesentlichen Differenzen des Menschen mit sich selbst und mit andern“. (Vgl. ebenda) ‒ Und Löwith hat Recht!

Kant ist also meiner Ansicht nach entgegenzuhalten, daß die moralische Pflicht immer dort gilt, wo wir mit unseren Neigungen anderen Menschen schaden. Wo wir aber unserer Neigung gemäß andere Menschen respektieren und ihnen in Bedrängnis helfen, so tut das unserer Würde keinerlei Abbruch.

Deshalb ist es zwar richtig, daß der Mensch ein Selbstzweck ist, was seinen höchsten Wert, seine Würde ausmacht. Es ist aber nicht richtig, daß es unsere eigentliche Bestimmung sei, uns selbst Zwecke zu setzen. Die Fähigkeit, Zwecke zu setzen, bildet eine Potenz unseres Intellekts, also unseres Verstandes. Das gilt auch für im engeren Sinne moralische Vernunftszwecke. Wenn diese Zwecke aber nun nicht unserem Willen entsprechen, was für unseren Verstand durchaus rational sein kann, dann handeln wir, trotz aller rationalen Verstandesgründe, gegen unseren Willen, was letztlich darauf hinausläuft, den Willen gegen sich selbst zu richten.

Auch das gilt für im engeren Sinne moralische Vernunftszwecke, denn auch diese widersprechen unserem Willen, wenn wir gegen sie handeln. Nur daß dieser Wille dann eben nicht ,gut‛ ist. Unsere Neigungen sind keineswegs aus einem Stück, sondern vielfältig und uneins. Aber es ist eben nicht die Aufgabe des Verstandes, Zwecke zu setzen, die unserem Willen widersprechen, sondern es ist seine Aufgabe, allererst Zwecke zu finden, die unserem Willen entsprechen, und sie uns dann erst zu setzen. Das meinte Jacotot, als er den Menschen als einen Willen definierte, dem eine Intelligenz dient.

Solchen rationalen Zwecksetzungen geht aber noch ein Schritt voraus. Allererst müssen wir herausfinden, was wir überhaupt wollen!

Dazu habe ich mich in diesem Blog schon an anderer Stelle geäußert. Eine unverzichtbare Voraussetzung für unserem Willen entsprechende Zwecksetzungen ist Selbsterkenntnis; also die von Löwith so vehement abgelehnte Selbstbefragung und Selbstkritik. (Vgl. Löwith 1928/81, S.130) Denn unser Wille ist auf so vielfältige Weise gebrochen, und er ist in so vielfältige Willensregungen zersplittert, daß wir unseren eigenen Willen meist gar nicht kennen. Auch hier ist es wieder Aufgabe des Verstandes, herauszufinden, wer wir sind und was wir wollen.

An dieser Stelle wird auch nochmal deutlich, inwiefern wir es bei Plessners Bestimmung des Menschen als „Körperleib“ mit einem Fortschritt gegenüber der Kantischen Moralphilosophie zu tun haben. Denn auch Kant bestimmt den Menschen als ein „Doppelwesen“, leitet daraus aber eine Dialektik in Richtung auf die Vernunft als letzter Zweckbestimmungsinstanz ab; eine Dialektik also, wie sie der spekulativen Dialektik von Hegel entspricht, weg von der Sinnlichkeit hin zum Geist: „Nur die vernünftige Natur, aber weder rein natürliches noch rein vernünftiges Dasein ,existiert als Zweck an sich selbst‛. Der Mensch ist also prinzipiell aus der Dialektik zweier Standpunkte zu betrachten, erstens, sofern er zur Sinnenwelt gehört, d.h. ,unter den unteren Kräften und Gesetzen‛ seiner eigenen Natur steht, und zweitens, sofern er zur intelligiblen Welt gehört und unter dem Gesetz der Freiheit steht ().“ (Löwith 1928/81, S.161f.)

Plessner verzichtet auf eine solche Dialektik. Was Löwith im letzten Zitat „vernünftige Natur“ nennt, also ein Komposit aus Vernunft und Natur, bezeichnet Plessner als „Körperleib“, auf dessen Grenze stehend sich der exzentrisch positionierte Mensch neutral gegenüber Sinnlichkeit (außen) und Intellekt (innen) verhält.

Löwith bringt Kant hinsichtlich des gegen den „Egoismus der selbstsüchtigen Neigung“ gerichteten „Selbstzwangs“ der Pflicht in folgender Textstelle auf den Punkt: „Die Verbindlichkeit des moralischen Gesetzes schränkt also zweifach ein: 1. das natürliche Geneigtsein des Ich, sich seinen eigenen Naturneigungen zu überlassen, und 2. das natürliche Geneigtsein des Ich, die andern als Mittel für sich selbst zu gebrauchen.“ (Löwith 1928/81, S.173)

Das „natürliche Geneigtsein des Ich“ ist selbstverständlich nichts anderes als der Wille, der darüberhinaus ein Konstrukt bildet, in dem, wenn alles gut verläuft, wir unsere lebensbegleitenden Erfahrungen zu einer Gesamtgestalt formen, die ich an anderer Stelle schon mal als Gefühlshaushalt beschrieben habe. Im Willen kommen alle unsere zersplitterten, vielfältigen Willensregungen zusammen und bilden eine Rangordnung aus Bedürfnissen, Begehrungen und Befindlichkeiten.

Deshalb ist der Selbstzwang des moralischen Gesetzes, das prinzipiell unser „natürliches Geneigtsein“ einschränkt, weil es blind ist für unsere Individualität, eine Gefahr für unsere Emanzipation zu einer selbstverantworteten individuellen Lebensführung. So wie schon Kant die Religion nur für diejenigen als notwendig erkannte, die sich nicht dem Selbstzwang der autonomen Pflichterfüllung unterwerfen können oder wollen, ist letztlich auch Kants pflichtgemäßer Selbstzwang nur immer dort nötig, wo wir nicht fähig sind, uns als Du eines anderen Ich und das andere Ich in unserem Du zu erkennen, und in der Gefahr sind, ihm zu schaden. Grundlage dieser Pflichterfüllung ist aber unsere Fähigkeit, in der Begegnung mit anderen unsere wechselseitige Verwiesenheit aufeinander zu erleben, zu empfinden und zu reflektieren.

Und das ist dann nicht mehr Pflicht, sondern Liebe.

Samstag, 22. März 2025

Karl Löwith: „Nur ,Du‛ kannst der ,Meine‛ sein ...“

1. ,Kehre‛
2. Weltbestimmungen
3. Sensualismus
4. Referenz
5. ,Mein‛ Du
6. Zwiegespräch und Gewissen
7. Erwiederung statt Erwiderung
8. primäre Willensverhältnisse
9. die eigentliche Kehre

Karl Löwith, „Das Individuum in der Rolle des Mitmenschen“ (1928)
In: „Mensch und Menschenwelt“ (1981, S.9-197)
ders., „Welt und Menschenwelt“ (1960)
In: „Mensch und Menschenwelt“ (1981, S.295-328)

Löwiths begriffliche Trennung zwischen ,Individuum‛ und ,Person‛ führt, da er das Individuum als nur für selbst verantwortliches Ich setzt, nicht nur dazu, wie wir im vorangegangenen Blogpost gesehen haben, daß er mit einem Gewissensbegriff nichts anfangen kann, sondern auch dazu, daß er es als völlig kommunikationsunfähig setzt: „Ebensowenig wie einer ,mit‛ den andern allgemein sprechen kann ‒ sondern nur mit einem unter andern ‒ spricht man eigentlich mit einem andern, wenn man ihn nicht als zweite Person, sondern als ihn selbst, als ein selbständiges Individuum anredet. Einen andern als anderes Ich ansprechend, beansprucht man vom andern den Verzicht auf gesprächsmäßige Erwiederung.“ (Löwith 1928/81, S.130; Hervorhebungen KL)

„Erwiederung“ ist kein Rechtschreibfehler, sondern soll zum Ausdruck bringen, daß hier nicht der Widerspruch mit einem einfachen ,i‛ gemeint ist, sondern die aufmerksame Wiederholung des Gesagten mit ,ie‛, mit der der Gesprächspartner zeigt, daß er verstanden hat. Aber es ist eben doch widersinnig (mit nur einem einfachen ,i‛), daß die Person kein kommunikationsunfähiges Individuum sein soll und umgekehrt das Individuum keine kommunikationsfähige Person. Diese künstliche Entgegensetzung wirft ein eher schräges Licht auf die Herleitung der Person von der ,persona‛, von der in dieser Funktion nichts mehr bleibt als die ,Rolle‛, die sie ‚spielt‛. (Vgl. Löwith 1928/81, S.100ff.)

Noch widersinniger scheint mir aber Löwiths Weigerung zu sein, das Du als ein Ich zu verstehen, denn wer sonst sollte verstehen, was Ich ihm zu sagen hat? Denn daß es keine zwei Ich geben kann, ist weder von der Sache noch von der Logik her zwingend. Dem Ich geht nichts von seiner Kommunikationsfähigkeit verloren, wenn es einem anderen Ich begegnet, das ebenso einzig ist, sobald beide Du zueinander sagen. Tatsächlich kann nur, wer Ich sagt, zum Du werden. Wenn Ich und Du in einer ebenbürtigen, auf Gleichheit beruhenden Wechselbeziehung zueinander stehen, dann muß das Ich immer schon Du und das Du immer schon Ich sein.

Es kommt sogar noch schlimmer. Daß die Erwiederung keine Erwiderung sein soll, beinhaltet auch, daß Löwith jeden Versuch einer „Selbstbefragung und Selbstkritik“ für ein Gespräch in „freier Entsprechung“, freundlich gesagt, für unproduktiv hält. (Vgl. Löwith 1928/81, S.130) ‒ Deshalb hat Löwith auch etwas gegen die innere Zwiesprache.

Löwith ist für die Absurdität, die freie und gleiche Wechselwirkung in der Zweierbeziehung ohne Selbstbefragung und Selbstkritik zu denken, so unempfindlich, daß er die Rede des einen an den andern mit ,Hörigkeit‛ gleichsetzt (vgl. Löwith 1928/81, S.132), im Sinne des widerspruchsfreien ,Hörens‛ auf das Gesagte. Daß er glaubt, diese Vokabel im positiven Sinne verwenden zu können, läßt sich nicht mehr mit einem harmlosem Wortspiel entschuldigen. Da will einer unbedingt zugunsten einer wechselseitigen Entsprechung, bei der die andere Seite nicht Ich sein darf, jeden potentiellen Widerspruch in der Erwiderung ausmerzen und an deren Stelle die Erwiederung setzen: „Um sich von einem andern etwas sagen lassen zu können, muß man sich selbst die Gegenrede untersagen können. Indem sich einer selbst die dem Gespräch immanente Tendenz zur Gegenrede untersagt, ermöglicht er sich die freie Begegnung des andern in dem, was dieser, als ein anderer, einem selbst zu sagen hat.“ (Löwith 1928/81, S.132)

So wird eine aus der Sache des Zuhörens heraus durchaus begründbare Grundhaltung, die zugewandte Hingabe an den anderen Menschen, in etwas Monströses verwandelt. Zuhören bedeutet allererst, durch die Differenz des Gesagten hindurch auf das Gemeinte zu achten, denn es gibt keine eins-zu-eins-Entsprechung von Meinen und Sagen, so wenig, wie einmal Gesagtes dadurch, daß man es wiederholt, noch dasselbe meint wie zuvor. Besser wäre es dann, zu schweigen und sich ganz aufs Zuhören zu beschränken, was Löwith dann auch tatsächlich vorschlägt: „Das eigentlich hörende Schweigen ist also eine ausgezeichnete Weise, dem andern zu entsprechen. Es entspricht dem andern widerspruchsfrei.“ (Löwith 1928,81, S.132; Hervorhebung KL)

Wie wenig konsistent Löwith argumentiert, zeigt sich, wenn er Zuhören und Verstehen als eine Übersetzungsleistung kennzeichnet: „Nun ist aber schon jedes Anhören und Verstehen der Rede eines andern, als der eines andern notwendig ein ‚Übersetzen‛ in die eigene Sprache.“ (Löwith 1928/81, S.133; Hervorhebungen KL)

Da sprechen also zwei Gesprächspartner eben doch verschiedene Sprachen, so daß, was gesagt wird, von der einen Sprache in die andere übersetzt werden muß, was Löwith an einer früheren Stelle schon einmal anders dargestellt hatte: daß nämlich zwei Menschen, die verschiedene Sprachen sprechen, nicht miteinander sprechen könnten. (Vgl. Löwith 1928/81, S.120) Bei einer solchen Übersetzungsleistung, wie sie das Zuhören erfordert, kann aber wohl kaum mehr von einer eins-zu-eins-Übernahme des Gehörten die Rede sein.

Allerdings schwächt Löwith dieses Zugeständnis an die Eigenleistung des Hörenden gleich wieder ab, und es bleibt deshalb für seinen denkfeindlichen Standpunkt folgenlos, denn Löwith zufolge handelt es sich bloß um ein „zumeist ganz unausdrückliches Übersetzen“ (vgl. Löwith 1928/81, S.133; Hervorhebung DZ); sprich: die Übersetzungsleistung vollzieht sich ohne jede kritische Anstrengung des Begriffs.

Philosophie- und Schriftkritik

Angesichts dessen, daß Löwiths eigene Begriffe bei genauerem Hinsehen nicht standhalten, verwundert es, wenn er nun seinerseits meint, die philosophische Arbeit am Begriff kritisieren zu müssen. Er vergleicht die philosophischen Begriffe mit „Zauberformeln“, weil sie darauf abzielen, Begriff und Sache miteinander eins zu eins gleichzusetzen (vgl. Löwith 1928/81, S.133), kritisiert sie also für etwas, was er selbst macht. Auch er verhindert das eigenständige Nachdenken des Hörenden, indem er ihn darauf verpflichtet, nichts anderes zu denken als exakt das, was der Redende sagt (vgl. Löwith 1928/81, S.134), nicht anders also, als würden Zauberformeln ausgetauscht. Heutzutage würde man nicht von Zauberformeln, sondern von Algorithmen sprechen, was auf dasselbe hinausläuft.

Zunächst Löwiths Kritik an Hegel, pars pro toto für die Philosophie: „Dieser Widerspruch, dem Begriff eine eigenständige Ausprägung zu geben und ihn doch noch für andere zum eigenen Nachdenken mitzuteilen, kennzeichnet Hegels Begrifflichkeit in ihrem Anspruch, die Sache selbst in selbständigen Begriffen einzubegreifen.“ (Löwith 1928/81, S.134)

Löwith überträgt dann diese Kritik auf die Schrift als kulturellem Artefakt. Auch in schriftlich fixierten Texten, so Löwith, werden dem „mündlichen Gedankenaustausch“ (Löwith 1928/81, S.134) zwischen Zweien in seiner offenen Prozeßhaftigkeit verselbständigte Begriffe entgegengesetzt, so daß sie dem Anspruch auf Unmittelbarkeit im Reden, Hören und Verstehen nicht entsprechen können. Auch diese Kritik ist nicht stimmig zuende gedacht, denn eine solche Unmittelbarkeit in der Mündlichkeit gäbe es nur, wenn es auch eine eins-zu-eins-Entsprechung von Reden und Hören gäbe. Gerade das aber wäre wiederum das Gegenteil einer offenen Gedankenentwicklung.

Noch einmal Löwith fern jeder Hörigkeit: „Im Gespräch verbietet sich ganz von selbst die Idee, einem andern eine Wortbedeutung in terminologischer Abgeschlossenheit zu übermitteln. Der anspruchsvolle Sinn des Wortes ist: dem daraufhin Angesprochenen einen ,Anstoß‛ zu geben, damit er selbst daran mitbilde. Das zuhörende Verstehen ist ebenso wie das Ansprechen eine gegenseitige Anregung der zum Hören und Sprechen bereitliegenden ,Sprachkraft‛.“ (Löwith 1928/81, S.134f.) ‒ Reden und Hören als gegenseitige Anregung sind aber etwas anderes als eine eins-zu-eins-Übertragung von Inhalten zwischen zwei Personen im Sinne einer Erwiederung. Letzteres wäre nämlich terminologische Geschlossenheit.

Löwith setzt also seine Kritik an den philosophischen Begriffen mit einer Kritik an der Verabsolutierung schriftlicher Texte fort. (Vgl. Löwith 1928/81, S.135ff.): „Die mögliche Verabsolutierung der begrifflichen Bestimmung von etwas gründet in der Auflösung der ursprünglichen Wechselrede zum Schreiben des einen und Lesen des andern.“ (Löwith 1928/81, S.135)

Löwith hätte eigentlich schon von Schleiermachers Hermeneutikbegriff her wissen können, daß es, was das individuelle Allgemeine betrifft, keinen Unterschied zwischen mündlicher Rede und schriftlichem Text gibt. In beiden Textformen sind Individuelles und Allgemeines, als Textur, so miteinander ,verwoben‛, daß weder Wörter noch Begriffe jemals endgültig auf eine mit sich identisch bleibende Bedeutung festgelegt werden können. Von einer Verabsolutierung des Begriffs kann also nur dort die Rede sein, wo dieser Umstand ignoriert wird, nicht selten deshalb, weil Selbstbefragung und Selbstkritik unterbunden werden sollen.

Auch ein eindeutig definierter Begriff franst an seinen Rändern in Regionen des Unbegrifflichen aus.

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Insofern Löwith das Richtige meint, nämlich „die Freiheit der es (das Sprechen ‒ DZ) ausdeutenden Entsprechung eines Hörenden und Sprechenden“ (vgl. Löwith 1928/81, S.135), bezieht er sich scheinbar zurecht auf Wilhelm von Humdboldt, auf den er sich mit folgendem Zitat beruft: „Die Menschen verstehen einander nicht dadurch, daß sie denselben Begriff denken, sondern () dadurch, daß in jedem entsprechende Begriffe, aber nicht dieselben hervorgehen.“ (Zitiert nach Löwith 1928/81, S.135; Hervorhebungen WvH oder KL)

Aber das Recht, sich auf Humboldt zu berufen, hat er sich mit seiner beharrlichen Weigerung, Gesagtes auf sein Gemeintes hin kritisch zu prüfen, bis hin zur völligen Unterwerfung (Hörigkeit) des Zuhörenden unter die Autorität des Sprechenden, verwirkt. Mich verblüfft die Naivität, mit der Löwith das einander ,Entsprechen‛ von Begriffen, von dem in dem Humboldt-Zitat die Rede ist, auf sein eigenes Konzept der eins-zu-eins-Entsprechung überträgt. Daß es bei diesen einander entsprechenden Begriffen, wie Humboldt ausdrücklich festhält, eben nicht um dieselben Begriffe gehen soll, hatte Löwith ja schon zuvor mit Verweis auf eine unserem Verstand entzogene unbewußte Übersetzungsleistung aus dem Weg geräumt (vgl. Löwith 1928/81, S.133), die, folgt man Löwith, einer eins-zu-eins-Entsprechung nicht nur nicht widerspricht, sondern diese sogar ermöglicht.