„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Zum Verhältnis von Gemeinschaft und Gesellschaft

Ich habe in diesem Blog inzwischen so viele Posts zu unterschiedlichen Gemeinschafts- und Gesellschaftsbegriffen geschrieben, daß es mir als sinnvoll erscheint, einen Überblick über diese Posts zusammenzustellen. Vielleicht wundert sich mancher, warum es in meinem Blog keinen Post zu Ferdinand Tönnies’ Buch „Gemeinschaft und Gesellschaft“ (1887) gibt. Ich habe versucht Tönnies zu lesen. Aber es gefiel mir nicht, daß er den Begriff der Gemeinschaft, den er mit dem Begriff des „Wesenswillens“ verbindet, metaphysisch auflädt. Ich habe das Buch deshalb wieder aus der Hand gelegt.

08.06.2012; 04.09.2013
Bei Jean-Jacques Rousseau gibt es noch keinen Gegensatz zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft, sondern nur zwischen Individuum und Gesellschaft, ohne daß sich eine in sich abgeschlossene, wiederum als Kollektivindividuum auftretende Gemeinschaftsform dazwischen schieben würde. Der Gegensatz zwischen Individuum und Gesellschaft ist ähnlich prinzipiell und sich gegenseitig ausschließend wie bei Tönnies und Plessner der Gegensatz zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft. Allerdings haben wir es hier nicht mit einer metaphysischen oder psychischen Antinomie zu tun, sondern mit einer ethischen. Das Individuum für sich selbst ist gut, in Gesellschaft mit anderen ist es böse bzw. schlecht. Diesen ethischen Gegensatz beschreibt Rousseau als Mensch-Bürger-Aporie: das Individuum kann nicht gleichzeitig Mensch und Bürger sein.
Wilhelm von Humboldt greift diese Verhältnisbestimmung von Mensch und Bürger auf, verwandelt sie aber in ein Bildungsverhältnis. Die Gesellschaft bildet jetzt keine Korruptionsform des Menschen mehr, sondern eine notwendige Ergänzung des Menschen, dem die Natur abhanden gekommen ist. Anstatt sich wie bei Rousseau den Naturgewalten gegenüber zu behaupten, muß er sich nun im geselligen Umgang mit seinen Mitmenschen, den Bürgern, bilden. An die Stelle der Mensch-Bürger-Aporie tritt bei Humboldt nun eine andere Aporie: die zwischen Untertan (Staatsbürger) und Bürger (Privatmensch).
Diese unterschiedlichen Fassungen der Mensch-Bürger-Aporie reflektieren sich auch in Michael Tomasellos problematischen Verhältnisbestimmung von Mutualismus und Altruismus. Je nach dem ob man diese beiden Sozialperspektiven aus der Perspektive des Individuums oder aus der Perspektive der Gruppe beschreibt, beinhalten sie widersprüchliche und einander ausschließende oder unterschiedliche und einander ergänzende Momente.

– 14.11., 15.11., 16.11., 17.11.2010; 06.03.2012; 01.06.2013
Helmuth Plessner unterscheidet prinzipiell zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft. Die Gemeinschaft wird durch die Blutsverwandtschaft konstituiert und beinhaltet die bedingungslose, individuellen Qualitäten gegenüber gleichgültige Zugehörigkeit der Individuen zur Gruppe. Alle, die nicht zur Blutsverwandtschaft gehören, sind ausgeschlossen.
Die Gesellschaft berücksichtigt ausschließlich das individuelle Verhalten der Individuen. Sie bildet eine öffentliche, jedermann zugängliche Bühne. Niemand ist ausgeschlossen, der fähig ist, an einem allgemeinen Maskenspiel teilzunehmen, in dem jeder nur eine Rolle darstellt und jedermann nur das ist, was er zu sein scheint, und nicht das, was er ist.
Die Sachgemeinschaft bildet eine Gemeinschaftsform, in der die (geistige) Liebe an die Stelle der Blutsverwandtschaft tritt. Sie bildet eine Übergangsform zwischen der Blutsgemeinschaft und der Gesellschaft. Die Sachgemeinschaft ist für jeden offen, der von seiner Individualität absieht und sich mit seiner ganzen Persönlichkeit der Liebe zu einer Sache widmet, die ihn mit seinesgleichen verbindet. In der Sachgemeinschaft unterscheiden sich die Individuen nur hinsichtlich ihrer ‚Leistung‘, d.h. ihrer Fähigkeit, der gemeinsamen Sache zu dienen.

– 04.02., 05.02., 07.02.2011; 09.12.2012

Jan Assmann hat beschrieben, wie die Schrift das Verhältnis des Menschen zu sich und seiner Gemeinschaft verändert hat. In der langen Phase der schriftlosen Mündlichkeit bildeten die Menschen Gemeinschaften, die vor allem durch die geographische Nähe zueinander gekennzeichnet waren. Das Gedächtnis dieser Gemeinschaft war vor allem an bestimmte, mit den Jahreszeiten sich wiederholende Riten gebunden, in denen einzelne ‚Gedächtnisexperten‘ wie Geschichtenerzähler, Sänger und Priester das gemeinschaftliche Wissen um die eigene Identität auffrischten und aktualisierten. Die Menschen hatten noch keine Möglichkeit, ihre eigene an die Mythen und Riten gebundene Identität in Frage zu stellen.
Das änderte sich mit der Einführung der Schrift vor etwa 5000 Jahren. Plötzlich entwickelten die Menschen eine Abneigung dagegen, immer nur das Leben ihrer Vorfahren zu wiederholen. Die räumlichen und zeitlichen Grenzen der mündlichen Gemeinschaften wurden gesprengt. Es bildeten sich neue, auf schriftliche Texte bezogene Gemeinschaften. Zugleich ermöglichten diese Texte den Lesekundigen eine exzentrische Distanzierung zum kulturellen Bestand einer Gemeinschaft. Es entstanden zum ersten Mal Gesellschaften im eigentlichen Sinne, die sich mit Hilfe von Schriften selbst beobachten konnten, also sich zu sich selbst exzentrisch positionieren konnten. So entstand das Bedürfnis nach permanenter gesellschaftlicher Innovation und das, was wir heute als kulturelle Explosion bezeichnen.

– 15.01., 16.01., 19.01.2013
Habermas möchte nicht mehr von einem Gegensatz zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft sprechen. Sein Begriff der Kommunikationsgemeinschaft deckt sich weitgehend mit dem der Gesellschaft. Dennoch umfaßt die Gesellschaft Bereiche der materiellen Reproduktion (Ökonomie), die mit ihrer Funktionalität und Mittel-Zweck-Rationalität der Notwendigkeit einer symbolischen Reproduktion in der Kommunikationsgemeinschaft entgegenstehen, sie stören und sogar im Sinne ihrer (ökonomischen) Zweckrationalität transformieren (kolonialisieren). Wenn es also auch keinen direkten Gegensatz zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft gibt, wie bei Plessner, so doch einen Gegensatz zwischen der Kommunikationsgemeinschaft und der Ökonomie.

– 18.11., 28.11., 04.12., 16.12./16.12.2012
Christina von Braun spricht explizit von einem Gegensatz zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft, den sie am Geld festmacht. Die Gemeinschaft ist vor allem durch das Prinzip der Gabe gekennzeichnet. Unter Verwandten und Nachbarn läßt man sich nicht mit Geld bezahlen, sondern man hilft sich gegenseitig aus. Man gibt bzw. ‚leiht‘ einander, was man gerade braucht, und bekommt es in der einen oder anderen Form wieder zurück. Sobald jemand anfängt, Geld dafür zu nehmen, ist die Gemeinschaft beendet bzw. zerstört.
Geld gibt man nur Fremden, und die Gesellschaft bildet insofern eine Verkehrsform bzw. eine Gesellungsform von Fremden.

– 28.04.2013

Norbert Bolz unterscheidet ganz ähnlich wie Christina von Braun und Helmuth Plessner zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft dahingehend, daß die Gemeinschaften, etwa Familien, durch starke Bindungskräfte gekennzeichnet sind und Gesellschaften entsprechend durch fehlende Bindungskräfte. Außerdem kennt er noch eine durch schwache Bindungskräfte gekennzeichnete Mischungsform aus Gemeinschaft und Gesellschaft: die digitalen Netzwerke wie Facebook. In diesen digitalen Netzwerken sieht Bolz eine Rückkehr der Nachbarschaft auf globaler Ebene. Damit verbindet er die Vision eines Neuen Bundes zwischen Mensch und Technik.

– 21.08., 22.08.2013
Jan Masschelein und Maarten Simons zufolge bilden Gesellschaften heute eine globale Infrastruktur. Diese Infrastruktur dient als Marktumgebung, insofern sie es den verschiedenen, im Mittelfeld zwischen Gesellschaft und Individuum sich bewegenden Netzwerken ermöglicht, miteinander um begrenzte Mittel und Ressourcen zu konkurrieren. Die ‚Gerechtigkeit‘ dieser Infrastruktur, für die diese Gesellschaften bzw. die Staaten zu sorgen haben, besteht darin, allen unternehmerischen Subjekten (Individuen und Netzwerke) Zugang zu gewähren. Angestrebt wird also eine umfassende Inklusion. Dabei handelt es sich allerdings um eine Inklusion, die ständig mit einer Exklusion droht. Wer sich der Inklusion verweigert oder wer sich ihr nicht gewachsen zeigt, verliert sein Existenzrecht.
Im Gegensatz zu dieser globalen Marktumgebung steht die Weltgemeinschaft der Eltern und Kinder und jener Erwachsenen, die das Kind in sich nicht ignorieren können. Anstatt sich durch Inklusion immunisieren zu lassen, setzen sie sich dem Unrecht aus, das darin besteht, daß die Marktumgebung nicht zulassen will, daß sich das Kindliche manifestiert. Gerechtigkeit besteht hier darin, daß die Erwachsenen (Eltern) diese ‚Last‘ auf sich nehmen und eine Welt schaffen, in der sich das Kindliche manifestieren kann.

Es stellt sich wirklich die Frage, was auf globaler Ebene an die Stelle des Geldes und der Technik treten könnte. Es ist offensichtlich, daß das Geld die Kommunikation unter Fremden ermöglicht. Was aber tun diese Fremden, wenn sie nicht mehr mit Hilfe des Geldes kommunizieren können? Sie führen Krieg.

– 08.06.201215.04.2014
Michael Tomasello unterscheidet in „Warum wir kooperieren“ (2012) zwischen Altruismus und Mutualismus. Auch wenn seine diesbezüglichen Differenzierungen an begrifflicher Klarheit zu wünschen übrig lassen, kann man ihnen doch entnehmen, daß es einen individuellen Altruismus und einen sozialen Altruismus gibt, denen unterschiedliche Bedürfnisse zugrundeliegen. Der individuelle Altruismus besteht in einem universellen, biologisch verwurzelten Bedürfnis, anderen Menschen zu helfen. Schon kleine Kinder im Alter von 14 bis 18 Monaten nehmen persönliche Nachteile in Kauf, wenn sie jemandem helfen wollen. Werden sie für diese Hilfsbereitschaft belohnt, wird sie korrumpiert, und bei künftigen Hilfsanlässen werden Belohnungen erwartet.
Mutualismus als eine Form des Egoismus korrumpiert also den individuellen Altruismus, so wie Geld generell den Effekt hat, Gemeinschaften, die von einem selbstlosen Geben ohne Nehmen leben, zu zerstören. Mit dem sozialen Altruismus verträgt sich der Mutualismus hingegen problemlos. Dieser besteht darin, sich für die Gruppe einzusetzen, z.B. einen Streit zu schlichten oder für bestimmte Werte und Normen einzutreten. Wenn solches Verhalten öffentliche Anerkennung durch andere Gruppenmitglieder findet, in Form von Belohnungen, so wird es, anders als der individuelle Altruismus, verstärkt. Mit dem sozialen Altruismus bewegen wir uns also im Bereich gesellschaftlicher Mechanismen, und mutualistische Strukturen befördern die individuelle Angepaßtheit.

01.12.02.12.2017
Gorgio Agamben unterscheidet zwischen oikos (Familie) und polis (Stadt) und mit Thomas Hobbes („Leviathan“) zwischen Menge und Volk. Oikos und polis entsprechen der Plessnerschen Differenzierung zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft. Agambens Grenzziehung besteht anders als bei Plessner nicht im individuellen Verhalten auf der Grenze zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft, sondern in einem ständig sich erneuernden Bürgerkrieg, nach dem dann in einem Versöhnungsfest die Polis erneuert wird. Agamben berücksicht bei dieser antikisierenden Verhältnisbestimmung nicht den nationalsozialistischen Gemeinschaftsbegriff, der wiederum reformpädagogische Wurzeln hat und auf den Plessner mit seiner Kritik des Gemeinschaftsbegriffs reagiert.
Mit Hobbes (1588-1679) unterscheidet Agamben zwischen Menge und Volk, deren Verhältnis zueinander er ähnlich beschreibt wie Rousseau das Verhältnis zwischen Mensch und Bürger: Menge und Volk können niemals zusammenfallen. Die Menge bestimmt als ungeeinte Menge den Souverän. Für einen kurzen Moment ist die ungeeinte Menge das Volk. In Demokratien geschieht das regelmäßig bei Wahlen. Wenn dann das Parlament gewählt ist, wird es zum Repräsentanten des Volkes, während die Menge zur aufgelösten Menge wird und als solche unsichtbar wird; d.h. sie wird politisch bedeutungslos. Das Volk ist jetzt das Parlament und nicht die Menge. Wenn die Menge gegen den Souverän bzw. gegen das Parlament und seine Regierung rebelliert, kommt es zum Bürgerkrieg. Anders als die ungeeinte Menge, die allererst einen Souverän bestimmt, kann die aufgelöste Menge nur gegen einen schon bestehenden Souverän rebellieren.
Was in diesem Kreislauf eines ständig sich wiederholenden Bürgerkriegs zwischen oikos und polis und zwischen Menge und Volk (Souverän) nicht vorkommt, ist der Mensch. Damit verlängert Agamben die Agonien der Moderne, anstatt sie produktiv weiterzudenken wie Rousseau und Plessner.

01.10., 01.11.2019
Hartmut Rosa bevorzugt als Soziologe die gesellschaftliche Perspektive. Das Individuum bildet in seiner Resonanztheorie vor allem einen Störfaktor, eine Behinderung gelingender Resonanzbeziehungen zwischen Subjekt und Gesellschaft und zwischen Mensch und Welt. Rosa denkt sich das Individuum vor allem als eine Art Resonanzkörper, der die gesellschaftlichen Schwingungen aufnimmt und in ihnen mitschwingt. So zweifelt Rosa auch am Identitätskonzept und mit dem Identitätskonzept an der Vorstellung von einer ‚Seele‘. Da Menschen immer im Wandel seien und niemals als je bestimmtes Individuum identifizierbar seien, könne es auch keine überdauernde Identität bzw. substantielle ‚Seele‘ geben. Letztlich also hebt Rosa mit dieser Nivellierung von ‚Individualität‘ – also einer Individualität, die auf Individuen basiert und nicht einfach nur als je individuelle Schwingung in den gesamtgesellschaftlichen Resonanzbeziehungen aufgefaßt wird – die Grenze zwischen Innen und Außen auf, und mit ihr die Grenze zwischen privat und öffentlich, ohne zu bemerken, daß es ohne diese Differenz keine Resonanz, die des Zwischenraums bedarf, geben kann.
Auch Hermann Schmitzens Begriff der Atmosphäre läuft auf eine solche wechselseitige, die Innen/Außen-Differenz aufhebende Durchdringung von Mensch und Welt und von Subjekt und Gesellschaft hinaus. Dabei geht Hermann Schmitz noch einen Schritt weiter als Hartmut Rosa, indem er das subjektive Bewußtsein leugnet und nur noch von „Bewußthabern“ spricht, also von Sendern und Empfängern atmosphärischer Schwingungen und Zustände. Bewußthaber ‚haben‘ also zwar Zustände, aber kein Bewußtsein. Und diese Zustände, die die Bewußthaber ‚haben‘, sind nicht im eigentlichen Sinne innere Zustände, sondern gemeinsame Zustände von miteinander kommunizierenden Bewußthabern. Sowohl bei Rosa als auch bei Schmitz, bei Rosa mehr als bei Schmitz, ist zwar viel von Gesellschaft die Rede; aber diese Gesellschaft ist eigentlich eine Gemeinschaft, denn alles ist subjektiv, nämlich intersubjektiv. Es fehlt die Differenz von Innen und Außen und mit ihr die Differenz zwischen privat und öffentlich, die eine Gesellschaft erst zu einer Gesellschaft macht.

– Gesellschaft / Pluralität (18. August 2020):
Ich kenne inzwischen drei bis vier verschiedene Gesellschaftsbegriffe: bei dem ersten ist die Gesellschaft ein biologischer Organismus. Die Individuen sind Organe, die im gesellschaftlichen ‚Körper‘ verschiedene Funktionen übernehmen. Auch bei dem zweiten tritt die Gesellschaft an die Stelle der biologischen Gattung; nur daß die Individuen hier nicht als einfache ‚Organe‘ verstanden werden, sondern als Gleiche im Systemganzen der Gesellschaft. Sie bilden aber nicht mehr das Medium der Evolution, wie bei Darwin, sondern dieses Medium bildet die Gesellschaft, mit der sie sich nolens volens mitentwickeln. In diesem Sinne versteht Habermas die Gesellschaft. Habermas würde sich dagegen mit dem Hinweis verwahren, daß die Individuen mit der Fähigkeit, Nein zu sagen, ausgestattet seien. Aber da er deren Individualität auf eine vorgängige Vergesellschaftung zurückführt, ist dieses ‚nein‘ nicht viel wert.
Hannah Arendt deutet diese Gesellschaft als ein Zwangssystem, das im Kapitalismus dem ökonomischen Prinzip unterworfen ist, und setzt dieser Vorstellung drittens den Begriff der „Pluralität“ entgegen. Schon vor Arendt hatte W.v. Humboldt die Gesellschaft als eine Pluralität verstanden, d.h. als eine freie Gesellungsform, die der Mannigfaltigkeit (Arendts Pluralität) der Individuen eine Bühne bietet. Dem entspricht wiederum (viertens) der Plessnersche Begriff der Gesellschaft, eben als eine Bühne, auf der die Individuen verschiedene Rollen spielen, die wie Masken zugleich das Individuum vor dem die Intimität zerstörenden Durchschaut-Werden schützen.
‚Pluralität‘ und ‚Bühne‘ sind zwei Vorstellungen einer nicht vergesellschaftenden Gesellschaftsform, die sich gegenseitig ergänzen. Von der vorgängigen Vergesellschaftung, von der Habermas ausgeht, unterscheidet sich Arendts Begriff der Pluralität durch die ‚Natalität‘, mit der Arendt die Fähigkeit des Menschen bezeichnet, in einer vorgängigen, schon fertigen Welt spontan einen Anfang zu setzen. Ihr Pluralitätsbegriff hat zwei Implikationen: zum einen geht es darum, daß es die Wahrheit nicht gibt. Jeder Mensch hat seine eigene Wahrheit, seine eigene Sicht auf Sachverhalte. Die Gesamtheit der differierenden individuellen Perspektiven nennt Arendt auch Intersubjektivität. Diese ‚Intersubjektivität‘ unterscheidet sich von der Habermasschen darin, daß sie keinen monolithischen, auch keinen alle Subjekte auf eine, wenn auch zeitlich beschränkte Version verpflichtenden Wahrheitsanspruch mehr erheben kann. Allerdings unterscheidet Arendt zwischen ‚Wahrheit‘ und ‚Tatsachen‘. Tatsachen verpflichten alle Subjekte gleichermaßen. Aber eine die verschiedenen (pluralen) Subjekte verpflichtende ‚Wahrheit‘ muß aus ihnen erst noch abgeleitet werden. Und diese kann, wie die Subjekte, nur plural sein.
Die andere Implikation ist, daß wir nie allein handeln, sondern immer mit anderen zusammen. Das ist die politische Implikation des Pluralitätsbegriffs, in der es darum geht, die Verschiedenheit der Perspektiven (Wahrheiten) in gemeinsames Handeln zu überführen.
Von der Gesellschaft unterscheidet sich die Pluralität also durch die Anerkennung der Differenz. In der Massengesellschaft bzw. in der Arbeits- und Konsumgesellschaft – diese Begriffe hängen bei Arendt eng zusammen – herrscht die Tendenz vor, die verschiedenen Wahrheiten in eine Wahrheit zu überführen, um die Menschen besser kontrollieren zu können. Durch die Nivellierung der Differenz kommen wir aber nicht zu einer Wahrheit. An ihre Stelle tritt vielmehr die Illusion, im Besitz der Wahrheit zu sein. Das ist das Gegenteil von Pluralität.


– Volk/Zivilgeselllschaft (24.04.2021):
Dieser Blogpost war Ende April etwa eine Woche in meinem Blog sichtbar. Dann habe ich ihn wieder aus dem Blog genommen. Bei diesem Blogpost handelt es sich um eine Reaktion auf den Hashtag „allesdichtmachen“. Kern des Blogposts bildet das Stichwort „Volk“ aus dem Glossar.

Kritik der Kritik? – Oder: Diffamierung der Kritik? – Oder: Kritik der Diffamierung? – Oder: Diffamierung der Diffamierung?
Wann ist Kritik berechtigt, wann nicht? Ist sie nicht berechtigt, wenn die ‚Falschen‘ zustimmen? Wer sind die Richtigen, wer die Falschen? Wo ist die Grenze zwischen Anständigen und Unanständigen?
Der Klarheit wegen: ich halte die AFD für unanständig. Aber ich gebe zu, daß das, so in den Raum gestellt, bloß eine subjektive Äußerung ist. Dabei weiß ich nicht mal, ob ich selbst zu den Anständigen gehöre.Vielleicht schreibe ich hier auch lauter Unsinn, wovon ich mich gerne jederzeit überzeugen lasse, wenn ich die Argumente stimmig finde. Entscheidend ist doch, ob der Inhalt einer Kritik am Corona-Management schon deshalb unanständig ist, weil auch die AFD das Corona-Management kritisiert und sogar das Corona-Problem einfach leugnet? Schon gar wenn diese Kritik so ironisch daherkommt wie #allesdichtmachen. Da macht die Diskussionsbereitschaft anscheinend dicht.
Es ist in unserer bundesdeutschen Gesellschaft viel von „Zivilgesellschaft“ die Rede. Ich schätze die Zivilgesellschaft sehr, weil ich davon ausgehe, daß die Zivilgesellschaft etwas ist, das sich vom Staat unterscheidet und über keine eigene institutionelle Macht verfügt. Sie ist eine reflektierte Form der Öffentlichkeit, die die Öffentlichkeit für eine demokratische Einrichtung hält, die es wert ist, verteidigt zu werden. Sie ist eine Verteidigungsform der Nicht-Mächtigen und tritt für die Rechte der Ohnmächtigen ein. Dazu bedarf es des Mutes. Für diesen Mut steht das Wort „Zivilcourage“.
Allerdings geschieht bei dieser Verteidigung der Ohnmächtigen etwas Seltsames: die Bürger werden dazu aufgefordert, Zivilcourage zu zeigen. Das ist ein Problem. Ich finde es schon problematisch, zu verlangen, daß die Anständigen sich immer dort in den sozialen Netzwerken und im analogen Leben zu Wort melden sollen, wo Minderheiten diskriminiert werden. Jederzeitige Empörungsbereitschaft wird zur Bürgertugend erklärt und mit Zivilcourage gleichgesetzt. Die Auswirkungen kann man in den ‚sozialen‘ Netzwerken beobachten: niemand Bestimmtes, aber alle möglichen ‚Anständigen‘ entscheiden jetzt darüber, wer dazugehört und wer nicht.
Noch problematischer finde ich es, zu verlangen, in schwierigen, gewaltförmigen Situationen für Schutzlose einzutreten und dabei die eigene Unversehrtheit zu riskieren. Dazu gehört wirklich Mut, und das ist etwas sehr Persönliches; nichts was man billigerweise von anderen als sich selbst fordern kann. Auch hier wird zwischen ‚anständigen‘, also denen, die sich trauen, und ‚unanständigen‘ Deutschen unterschieden, und im Namen der Zivilgesellschaft wird exkludiert.
Und das ist genau das Phänomen, was ich hier als ‚Volk‘ bezeichnen möchte. Ich habe den Verdacht, daß, weil man in Deutschland aus guten Gründen nicht mehr so einfach vom ‚Volk‘ sprechen kann, die Zivilgesellschaft zum Volkersatz geworden ist. Es sind jedenfalls dieselben Mechanismen.
Das hat nichts mit #allesdichtmachen zu tun? Dabei handelt es sich bloß um eine saturierte, selbstzufriedene Bohéme, die die Opfer des Coronavirus ignoriert?
Es ist insofern eben doch das gleiche, als im Namen einer Zivilgesellschaft exkludiert wird. Und das bleibt nicht folgenlos und will ausgehalten werden. So ein shitstorm kann vielleicht nicht physisch, aber psychisch versehren. So ergeht es jetzt den Beteiligten am #allesdichtmachen. Sie werden jetzt ausgesondert, und erste Forderungen werden erhoben, sie aus den öffentlich-rechtlichen Medien zu entfernen. Ein bequemer, allzu bereiter Mut, der sich hier artikuliert.
Das ‚Volk‘ – bzw. die Anständigen – ist immer in der Mehrheit, auch dann wenn sich diese Mehrheit nicht artikuliert, bei Wahlen zuhause bleibt und auch nicht demonstrieren geht und keine politischen Veranstaltungen besucht; denn dann ist es eben die schweigende Mehrheit. Auch jetzt, in der Pandemie, ist es wieder die Mehrheit, die sich an die Corona-Regeln hält, und es ist nur eine Minderheit, die die Gesundheit anderer Menschen gefährdet? Letztere ist natürlich unanständig.
Ich spreche von vergleichbaren Mechanismen. Damit beziehe ich mich nicht mehr nur auf die Pandemie, sondern auf ein umfassenderes Problem: nämlich auf das Problem einer tiefgehenden Spaltung der deutschen Gesellschaft, die durch die Pandemie bloß offenglegt worden ist. Und in dieser Spaltung werden altbekannte Ressentiments virulent. Seit Nazi-Deutschland, seit den Volksgerichtshöfen und völkischen Expansionsabenteuern, seit der rassistisch begründeten Massenvernichtung ‚volksfremder‘ Elemente, wurde und wird heute wieder eine ‚Politik‘ betrieben, in der das Volk als Begründungsinstanz für jede Schweinerei herhalten muß, die sich kranke Gemüter auszudenken vermögen. Oder eine Nummer kleiner: das Volk ist ein bequemes populistisches ‚Argument‘, weil niemand darauf festgelegt werden kann, was das eigentlich ist.
Noch eine Nummer kleiner: wir orientieren uns an den wechselnden Trends in den regelmäßig stattfindenden Umfragen und suchen verzweifelt nach der Mehrheit, der wir uns anständigerweise zuordnen dürfen.
Das Wort ‚Volk‘ hat viele Bedeutungsebenen: in der Aufklärung stand das ‚Volk‘ als Kollektivindividuum zwischen Einzelindividuum und Menschheit, und die Gemeinschaft der ‚Völker‘ arbeitete am Weltfrieden. Dafür bedurfte es aber einer staatlichen Repräsentanz, also des Nationalstaats, was schon viele Völker ausschloß, die nicht das Glück hatten, auf ein klar abgrenzbares Territorium beschränkt zu sein. Sie kamen dann in der Gemeinschaft der Völker einfach nicht vor. Besonders schlimm traf es die Juden, die eigentlich die Urform des religiös aufgeladenen Volksbegriffs verkörpern. Dieser Volksbegriff wendete sich nun gegen sie und wurde schlicht zum Synonym für Antisemitismus.
In den heutigen Demokratien, auch in der Bundesrepublik Deutschland, ist das ‚Volk‘ die verfassungsgebende Gewalt. Die Gerichte berufen sich bei ihren Urteilen auf das ‚Volk‘. Wir haben es aber, wie vielleicht deutlich geworden ist, mit einer reinen Fiktion zu tun, wie bei dem Wort ‚Gott‘ in der Präambel des bundesdeutschen Grundgesetzes. Letztlich muß sich auch das Grundgesetz vor dem ‚Volk‘ schützen, oder zumindestens vor dessen Repräsentanten, insofern eine Zweidrittelmehrheit nötig ist, um es zu ändern. Also auch hier haben wir die Vorstellung, daß das Volk irgendwie in der Mehrheit der Bevölkerung besteht.
Wir sind Bürgerinnen und Bürger auf dem Boden des Grundgesetzes, solange sich keine Zweidrittelmehrheit findet, es abzuschaffen. Mehr hat es mit unserer Zivilgesellschaft nicht auf sich. Und solange wir diesen Glücksfall in der deutschen Geschichte genießen dürfen, sollten wir offen sein für eine Debatte, die niemanden ausschließt, nur weil die ‚Falschen‘ ihr oder ihm applaudieren.

2 Kommentare:

  1. Hervorragende Grafik Diese Seite und Buchung erregte meine Aufmerksamkeit. Es ist schön, dass Blogs wie dieses existieren!

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