„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Glossar und Glossen

In diesem Glossar werden die zentralen Begriffe, um die es in meinem Blog geht, erläutert. Es geht dabei nicht um allgemeingültige und in diesem Sinne vollständige Definitionen, sondern lediglich darum, wie ich diese Begriffe gebrauche. Und das ändert sich mit jedem Post und mit jedem Buch, das ich gerade bespreche.
(Detlef Zöllner)

PS: Ich halte mich nicht immer an die nüchterne Definitionsform eines Glossars. Deshalb auch: Glossen.

Anachronismus:

Den ‚Ana-Chronismus‘ verstehe ich als eine Form der exzentrischen Positionalität. Im Nietzscheschen Sinne sind wir alle ‚unzeitgemäß‘: der Mensch ist aus der Zeit herausgefallen und lebt deshalb gleichermaßen in und außerhalb der Zeit. Deshalb gibt es auch keinen Fortschritt; jedenfalls nicht im anthropologischen Sinne. Der Mensch bleibt sich selbst immer gleich, nicht etwa weil er wie Tiere und Pflanzen auf eine bestimmte Natur festgelegt ist, sondern weil er mit jeder neuen Generation von vorne anfängt. Kein historischer Fortschritt, kein kultureller Bestand ist durch Institutionen und Gesetze gesichert. Jede neue Generation verfällt aufs Neue dem Barbarentum und muß sich selbst ihre Menschlichkeit mühsam erkämpfen.

Anthropologie, philosophische:

Anders als den mal mehr ethnologisch, mal mehr biologisch ausgerichteten Anthropologien, von denen die letzteren mit ihrem physiognomischen und phrenologischen Methodenrepertoire im 19. Jhdt. an der rassistischen Diskriminierung von Menschengruppen beteiligt gewesen waren, geht es der philosophischen Anthropologie weniger um diese oder jene biologische Erscheinungsform und kulturelle Ausdrucksform des Menschlichen als solche, als vielmehr um die Vielfalt der verschiedenen Weisen des Menschseins überall auf der Welt. Ich selbst setze dabei einen bildungsphilosophischen Schwerpunkt, der das Individuum als das dem Menschlichen seine konkrete Gestalt gebende Moment ins Zentrum stellt. Das beinhaltet eine Wertung. Wer aber glaubt, in einer philosophischen Anthropologie sich jeder Wertung enthalten zu können, ist hier fehl am Platz. Verschiedene Wertungen sind möglich. Sie bewegen sich im Rahmen dessen, was Hannah Arendt „Pluralität“ (Gesellschaft) nennt. Nur eins geht nicht: daß sich diese Wertungen gegen die Pluralität selbst richten.
Plessner leitet die Aufgabe einer philosophischen Anthropologie aus einer Verbindung von Lebensphilosophie (Dilthey) und Phänomenologie (Husserl) her. Wilhelm Dilthey stellte das Leben ins Zentrum seiner Überlegungen zur Historizität bzw. Geschichtlichkeit des Menschen, und dieser lebensphilosophische Ansatz kann, so Plessner, dabei helfen, den noch an Kant orientierten transzendentalen Ansatz der Husserlschen Phänomenologie zu überwinden. Dilthey lehnte jede Festlegung auf ein abstrakt-überzeitliches Erkenntnis- und Willenssubjekt ab. Seine Definition des Menschen ordnet diesen ein in einen natürlichen (biologischen) und historischen Entwicklungsprozeß, in dem sich der Mensch als individuelle Person formt und findet.
Das entspricht meiner Auffassung vom dreifach ausdifferenzierten Entwicklungsprozeß als Biologie, Kultur und Individuum (Entwicklungslogiken). Von Dilthey her kommt Plessner deshalb zur Notwendigkeit einer philosophischen Anthropologie, deren Hauptaufgabe er darin sieht, das Thema ‚Mensch und Welt‘ in den Naturwissenschaften und gegenüber der abendländischen Tradition wie auch gegenüber den Denkschulen des 19. und 20. Jhdts. lebendig zu halten und kritisch weiterzuentwickeln. Plessner gehört damit zu den Schülern Edmund Husserls, wie Max Scheler, Martin Heidegger und Nicolai Hartmann, die Husserl in seiner Verhaftung in der naturwissenschaftlichen Ratio anthropologisch überwunden haben.
Plessner zufolge besteht das Dilemma einer philosophischen Anthropologie in dem Problem, sich notwendigerweise mit dem ‚Wesen‘ des Menschen befassen zu müssen, dieses aber nicht auf ein bestimmtes Wesensideal festlegen zu dürfen. Sie muß sich vielmehr für eine Vielzahl möglicher Erfahrungen in der Gegenwart und in der Vergangenheit offenhalten. Das gilt vor allem für den Übergangsbereich zwischen Tier und Mensch bzw. zwischen Vormensch und Mensch. Das gilt so auch für die Interpretation frühmenschlicher Artefakte, der wir nicht einfach Begriffe und Wertungen unserer Gegenwart zugrundelegen dürfen.
Das Problem des Wesensbegriffs führt Plessner auf dessen Zweideutigkeit zurück: mal verstehen wir unter dem ‚Wesen‘ eine Liste von Minimalbedingungen, mal von Maximalbedingungen des Menschseins, den sogenannten ‚Monopolen‘, die nur Menschen und nicht den Tieren zugesprochen werden können. Nur die Maximalbedingungen beinhalten Plessner zufolge die Gefahr, das Wesen des Menschen ein- für allemal festzulegen. Die Minimalbedingungen hingegen umfassen lediglich die Bedingungen der Möglichkeit des Menschseins und verweisen nicht notwendigerweise auf ein bestimmtes Menschlichkeitsideal. Es kommt also Plessner zufolge vor allem darauf an, den Rahmen zu bestimmen, innerhalb dessen sich alle möglichen Weisen des Menschseins entfalten können.
Ich interpretiere Plessner so, daß er glaubt, diesen Rahmen mit seiner Bestimmung des Menschen als exzentrische Positionalität gefunden zu haben. Gemeint ist eine Positionierung des Menschen – und also auch des Anthropologen – gleichermaßen am Rand wie im Zentrum der Welt. Ein Stand- bzw. Blickpunkt im Nirgendwo, der eine umfassende Neutralität gegenüber den vielfältigen Formen des Menschseins ermöglicht.
Gleichwohl beinhaltet meiner Ansicht nach auch die exzentrische ‚Positionalität‘ einen Standpunkt; aber einen ‚Standpunkt‘, der die eigene Relativität mit zu reflektieren vermag. Erst so haben wir es mit einem Standpunkt im Nirgendwo zu tun. Er ‚gründet‘ in den Individuen, sofern sie sich gegenseitig als Ich anerkennen, und zwar in der ganzen Fülle ihrer Wesenslosigkeit. Darin liegt keine Transzendenz, keine Selbstüberschreitung. Sie sind Ich = Du, hier und jetzt, oder sie sind nichts.
Ich selbst benutze den husserlschen Begriff der Wesensanschauung überhaupt nicht mehr. Er ist unlösbar mit der Vorstellung einer Ideenschau verbunden. Stattdessen spreche ich lieber von Gestaltwahrnehmung. Dieser Begriff hat einen viel bescheideneren Anspruch. Und er ist individueller. Bildungsphilosophisch gesehen sind es vor allem Individuen, die ihre je verschiedenen Gestalten verwirklichen. Und damit wird das Individuum, angesiedelt zwischen Biologie und Kultur, zum Hauptgegenstand einer philosophischen Anthropologie.

PS zur philosophischen Anthropologie (19. Januar 2021):
Ich habe in einer Sendung des DLF gehört, daß Plessner Frauen aufgrund ihrer Leiblichkeit als ‚naturnäher‘ beschrieben hat. Ich habe das so bei ihm noch nicht gelesen, wobei ich natürlich längst nicht alles gelesen habe, was Plessner geschrieben hat. Ich kann das also so nicht bestätigen, gehe aber davon aus, daß das so wohl korrekt sein wird. Ich finde auch bei Feministinnen, wie z.B. bei Carola Meier-Seethaler („Ursprünge und Befreiungen. Eine dissidente Kulturtheorie“ (2011)), den Hinweis auf die Mutterschaft als einer geschlechtsspezifischen Erfahrungsebene, die Männern aufgrund ihrer Leiblichkeit prinzipiell verschlossen bleiben muß.
Plessners These von einer größeren Nähe zur Natur ist damit aber natürlich noch lange nicht gerechtfertigt. Denn selbstverständlich bedeutet die exzentrische Positionalität, die ja uneingeschränkt für beide Geschlechter gilt, daß das Naturverhältnis des Menschen nicht in Form einer größeren ‚Nähe‘ oder ‚Ferne‘ zur Natur beschrieben werden kann. Exzentrische Positionalität ist nicht quantifizierbar. Natürlich macht die Mutterschaft einen Unterschied im Mensch-Weltverhältnis von Frauen und Männern, die in dieser Hinsicht mit ihrer leiblichen Begrenztheit irgendwie klar kommen müssen. Aber dieser Unterschied macht das Naturverhältnis von Frauen in keiner Weise irgendwie ‚natürlicher‘ als das der Männer.

Apperzeption:

Bewußtsein besteht letztlich in einer Spaltung. Diese Ur-Teilung besteht darin, sich selbst bei seinen Wahrnehmungen und Erlebnissen zusehen zu können. Wir sind uns selbst Subjekt und Objekt zugleich. Kant beschreibt das als die Notwendigkeit, allen unserenWahrnehmungen ein „Ich denke“ hinzuzufügen, wenn es unsere Wahrnehmungen sein sollen. Und das bezeichnet er als Apperzeption: als Hinzu-Wahrnehmung. Die Mystik der Apperzeption besteht also nicht in der Einswerdung mit sich selbst, also in einer Verschmelzung, sondern darin, neben sich zu stehen und in dieser Form ‚bei‘ sich zu sein.

PS zur Apperzeption (16. Juli 2021):
Es gibt drei Stufen der Apperzeption; des Bei-sich-Seins eines Bewußtseins: die erste Stufe teilen wir mit allen Tieren. Sie besteht im Gefühl. Alle unsere Wahrnehmungen werden von Gefühlen begleitet. – Die zweite Stufe teilen wir mit einigen der höheren Säuger und unseren nächsten Verwandten. Sie besteht im Benennen einzelner Wahrnehmungen mit Hilfe von Wörtern. Diese Wörter bilden einzelne, am Gegenstand haftende, untereinander unverbundene Gedanken. – Die dritte Stufe besteht im narrativen Verbinden von Wörtern zu Sätzen (S/P-Struktur/Syntax), also zu zusammenhängenden, gegliederten Gedanken, die zu Texten ausgeweitet werden können, mit der Tendenz, sich von den Wahrnehmungsgegenständen und Vorstellungsbildern immer weiter zu entfernen. Diese Stufe ist rein menschlich. Am Ende dieser drei Stufen steht der Begriff.

Dialektik:

(siehe „Wahrheit“)

Ding/Thing:

Das ‚Ding‘ ist ein unterschätztes Wort. Wir verwenden es so häufig in unseren alltäglichen Redewendungen, und wir haben doch keine Ahnung von seiner tiefen Bedeutung. ‚Ding‘ kommt von ‚Thing‘, was noch besonders deutlich im englischen ‚thing‘ hörbar wird. Das ‚Ding‘ ist eine ‚Ratsversammlung‘, eine Sinngestalt; es ist in der philosophisch ursprünglichsten Bedeutung ein ‚Phänomen‘.
Wir nehmen Dinge wahr. Auch dieser Satz hat einen philosophischem Untergrund: wir nehmen als wahr, was uns die Dinge raten bzw. ‚bedeuten‘, wenn wir nur richtig hinsehen und hinhören. Wenn wir sie nur richtig in die Hand nehmen und ‚begreifen‘.
Philosophen wie Hartmut Rosa und Hermann Schmitz wollen das Ding durch ‚Atmosphäre‘ ersetzen. Hartmut Rosa wendet sich dagegen, von ‚Seele‘ zu sprechen, weil er damit den, seiner Meinung nach, Irrtum verbindet, die menschliche Person sei etwas Statisches und Dingliches. ‚Seele‘, als Substanz gedacht, mache das Prozeßhafte und Wandelbare unserer Persönlichkeit vergessen. Dabei unterschlägt Rosa, daß wir nicht nur einen Körper haben, sondern auch Körper sind (Körperleib). Wir ‚nehmen‘ uns selbst als etwas Dauerndes, als etwas Dingliches ‚wahr‘: wir realisieren uns als Ding. Denn das Ding liefert uns, wie der eigene Körper, das Anschauungsobjekt dazu. Das Ding bildet den Anlaß, uns mit uns selbst zu identifizieren. Auch das ist Apperzeption.
In entscheidender Hinsicht ist die Seele tatsächlich ein Ding: sie versammelt wie eine Ratsversammlung die Aspekte unserer Persönlichkeit in einer wiedererkennbaren ‚Gestalt‘ (Gestaltwahrnehmung). Die Atmosphäre im Schmitzschen Sinne hat hingegen etwas Zerstreuendes, Diffuses und Gestaltloses. Das ist sicher ein wichtiger Teil unserer Lebenserfahrung. Aber es läuft eher auf eine Grenzerfahrung, auf eine Todeserfahrung hinaus, der wir uns auch stellen müssen. Beides, Leben und Tod, bilden das Ganze unserer Lebenserfahrung.

Doppelaspektivität (Plessner):

Helmuth Plessner versteht unter Doppelaspektivität den Perspektivenwechsel zwischen Innen und Außen. Damit bringt er zum Ausdruck, daß wir es weder beim ‚Innen‘, etwa der Seele, noch beim ‚Außen‘, also naturwissenschaftlichen Objekten, mit Substanzen zu tun haben, sondern lediglich mit unterschiedlichen Perspektiven auf uns und die Welt. Diese Doppelaspektivität bildet eine Analogie zum Stoffwechsel, mit dem sich unser Organismus einen Teil der Welt aneignet, um ihn in veränderter Form auszuscheiden und so seine individuelle Gestalt zu erhalten. Auch auf geistiger und seelischer Ebene eignen wir uns Welt an und verändern auf diese Weise auch die Welt. Dabei gibt es ‚innen‘ nichts, das wesentlicher wäre als die Außenwelt, und es gibt ‚außen‘ nichts, das realitätshaltiger wäre, als die Innenwelt. Innen wie Außen sind nur Richtungen, in die wir blicken. Wir selbst befinden uns immer auf der Grenze.

Entwicklungslogiken:

Der Mensch bildet einen Anachronismus aus drei bzw. vier Entwicklungslinien mit ihren unterschiedlichen Logiken: die geologische und biologische Evolution, die kulturelle Evolution und die individuelle Biographie. Die geologische Evolution hat die Erde zu einem Planeten geformt, der Leben ermöglicht. Dieses Leben bildet eine kontinuierliche, durch ‚Vererbung‘ abgesicherte Entwicklungslinie. Die Diskontinuität der Artenbildung ist lediglich dem Aussterben von Zwischengliedern geschuldet. Die kulturelle Entwicklungslinie ist biologisch nicht abgesichert und deshalb diskontinuierlich. Initiationsriten und Pädagogik versuchen auf kultureller Ebene die Kontinuität zwischen den Generationen sicherzustellen. Beide Entwicklungslinien, die biologische und die kulturelle, ‚brechen‘ sich auf unterschiedliche Weise im Individuum und machen es zum Schlachtfeld zwischen biologischen Bedürfnissen und kulturellen Ansprüchen. So formt sich im Laufe seines Leben sein Schicksal und seine Freiheit.

Expressivität (Plessner):

Das grundlegende Prinzip des menschlichen Selbst- und Weltverhältnisses besteht darin, daß der Mensch sich vor sich selbst und vor anderen wie er selbst verständlich zu machen versucht. Das grundlegende Prinzip seiner Menschlichkeit ist die Expressivität. Expressivität, nicht Informationsvermittlung, ist das Prinzip seiner Sprachlichkeit. Die Grenze zwischen Innen und Außen verwandelt sich durch die Expressivität in die Grenze zwischen Meinen und Sagen. Bedeutung (Semantik) besteht deshalb nicht in der 1:1-Abbildung von Wörtern und Gegenständen bzw. Absichten, sondern in deren Nicht-Identität.
Was auch immer ich gemeint haben mag: sobald ich es ausspreche, verwandelt es sich in etwas anderes. Sprechen bildet deshalb einen Sinn-von-Sinn-Prozeß. Jedes gesprochene Wort erzeugt neuen, noch unausgesprochenen Sinn. Denn was wir ursprünglich gemeint hatten, der Zorn, die Sehnsucht, die Freude, die wir nicht in uns vergraben, so daß sie zu gären und zu zehren beginnen, sondern die wir aussprechen, verwandeln sich durch das Aussprechen in etwas anderes: Der Zorn ist kein Zorn mehr und sogar die Freude ist nicht einfach mehr Freude. Die Dynamik der Sinnbildung ist unabschließbar.

Fakten

‚Faktum‘ und ‚Datum‘ sind schwierige und anspruchsvolle Begriffe, weil das Faktum eigentlich das Gemachte und das Datum das Gegebene ist. Das ‚Faktum‘ ist also kein ursprüngliches, im naturwissenschaftlichen Sinne vom Subjekt unabhängiges Phänomen, sondern impliziert seine Beeinflußbarkeit durch Umstände oder Experimente. Vom Wortsinn her gesehen entspricht es der ‚Tat-Sache‘, also einer Sache, die sich nicht einfach objektiv ‚gibt‘, sondern durch ein Handeln zustandekommt. Dennoch verstehen Naturwissenschaftler Fakten als etwas ‚Gegebenes‘, also im Wortsinn als ‚Daten‘, die im Idealfall durch distanzierte Beobachtung gesammelt werden oder – wenn sie sich nicht von selbst ‚geben‘ – durch Experimente ‚sichtbar‘ gemacht werden, was wiederum an das Gemachtsein von ‚Fakten‘ erinnert.
‚Fakten‘, als Sinnes-Daten verstanden, als etwas, das man nicht aus einer distanzierten Beobachtung gewinnt, sondern das man sehen, in die Hand nehmen und schmecken kann, sind keine ‚Wahrheiten‘ (Wahrheit). Wahrheiten sind bezweifelbar. Fakten nicht.

Falsifizierbarkeit:

Falsifizierbarkeit ist in den Naturwissenschaften ein sehr eng gefaßter Begriff. Falsifizierbar sind nur Experimente, also unter kontrollierten Laborbedingungen reproduzierbare Ereignisse. Die wesentlichen ‚Ereignisse‘, mit denen sich die Geisteswissenschaften befassen, sind hingegen nicht reproduzierbar, sondern singulär. Je weniger singulär und je reproduzierbarer sie sind, um so mehr fallen sie in den Zuständigkeitsbereich der Naturwissenschaften. Dennoch müssen auch die Erkenntnisse der Geisteswissenschaften ‚falsifizierbar‘ sein. Das bedeutet aber vor allem eins: sie müssen sich im Diskurs bewähren. Falsifizierbarkeit in den Geisteswissenschaften besteht in der Plausibilität der Argumente.

Gedanke:

Gedanken sind Wörter und Sätze. Wörter sind einfache, ungegliederte Gedanken mit einem unscharfen Bedeutungshof. Sätze sind komplexe, gegliederte Gedanken (S/P-Struktur).

Gender:

Die feministische Kritik am Phallogozentrismus der deutschen Sprache hat eigentlich weniger etwas mit der deutschen Sprache als Lexikon (bezüglich bestimmter ‚diskriminierender‘ Wörter) und als Grammatik (bezüglich des generischen Maskulinums) zu tun und ist eigentlich weniger eine Kritik der deutschen Sprache als vielmehr eine Kritik des Gebrauchs der deutschen Sprache; oder genauer: eine Kritik des Bewußtseins beim Gebrauch der deutschen Sprache. Wenn wir z.B. die Wörter ‚Mann‘ und ‚Mensch‘ nehmen, so sind sie nur dann diskriminierend in dem Sinne, daß die Frau in dem Begriff des Menschen nicht mitgedacht sei, weil ‚wir‘, also wir ‚Männer‘, eben beim Gebrauch der Wörter ‚Mann‘ und ‚Mensch‘ so denken.
Die Gleichsetzung von ‚Mann‘ und ‚Mensch‘, die tatsächlich eine gemeinsame etymologische Herkunft haben, ist in erster Linie einem falschen Bewußtsein zu verdanken. Nehmen wir zunächst das Wort ‚Frau‘. ‚Frau‘ ist etymologisch mit ‚Fürst‘ verwandt. Auch das englische ‚first‘ gehört in diese Bedeutungslinie, so daß ‚Frau‘ also so viel wie ‚die Erste‘ meint. Wir können hier also der deutschen Sprache attestieren, daß sie wesentlich ‚fortschrittlicher‘ ist als der Schöpfungsbericht der Bibel, wo die Frau nur als zweite in dieser Welt erscheint, herausgeschnitten aus der Rippe Adams. Das Wort ‚Frau‘ stellt klar: bevor der Mann war, hatte es eine Frau gegeben, die ihn zur Welt gebracht hatte.
So könnte man denken. Man kann sich aber auch ganz einfach darauf einigen, daß die ‚Frau‘ in einem soziologischen Sinne uns allen, als Gesellschaft, voranschreitet, als Fürstin, die uns den Weg weist. Und dann würde ich dafür plädieren, dies nicht als geschlechtsbedingte Eigenschaft zu verstehen, sondern als ein anthropologisches Merkmal, das allen Menschen gemeinsam ist: alle Menschen sind gleichermaßen Handlungssubjekte und verändern als solche die Welt.
Nehmen wir nochmal den ‚Mann‘. Der ‚Mann‘ ist nicht einfach der ‚Mensch‘, weil dieser Begriff für ein bestimmtes Geschlecht reserviert ist. Das Wort ‚Mensch‘ ist mit dem lateinischen ‚mens‘ verwandt und bedeutet nichts anderes als ‚Bewußtsein‘. Der Mensch ist also das mit Bewußtsein, oder spezifischer: mit Selbst-Bewußtsein begabte Lebewesen. Auch das ist ein anthropologisches Kriterium und gilt selbstverständlich für alle Geschlechter, von wie vielen wir hier auch immer aus gehen wollen.
Letztlich bedeuten also Mann und Frau dasselbe. Menschen sind mit Bewußtsein begabte Lebewesen, also Handlungssubjekte. So zu denken und sie so zu verwenden, entspricht ihrem Wortsinn.

Zum Stichwort:  Schon länger beunruhigt mich das Gefühl, daß da jemand (oder ‚jemande‘ oder auch einfach ‚welche‘) versucht, mein Sprechen und Schreiben zu zensieren. Ich habe schon die letzte Rechtschreibreform nicht mitgemacht. Warum sollte ich jetzt also plötzlich anfangen zu gendern? Dann habe ich vor ein paar Tagen ein altes Buch aus meinem Bücherregal herausgekramt, das dort schon einige Jahrzehnte vor sich hin schlummerte: „Das Deutsche als Männersprache“ (1984) von Luise F. Pusch. Und ich war angetan!
Ich habe zum ersten Mal den Eindruck gewonnen, daß dieses feministische Anliegen sich zumindestens teilweise mit meiner eigenen Sprachphilosophie deckt. Dabei geht es vor allem um die Unterscheidung zwischen einer Referentialsemantik, also dem Verhältnis von Meinen und Sagen, und einer funktional-strukturellen bzw. differentiellen Semantik.
Ich habe mich schon immer gegen die strukturelle Auffassung gewandt, die Sprache würde Bedeutung durch eine Binnendifferenzierung von Sprachzeichen generieren. Eine solche Binnendifferenzierung läuft immer auf eine binäre, also dualistische Weltanschauung hinaus: Tag/Nacht, Mann/Frau, gut/böse, in/out etc. Diese binäre Differenzierung, ein Mann ist keine Frau, eine Frau ist kein Mann, A ist ungleich B, generiert zwar auch Bedeutungen; diese sind aber ethisch problematisch, weil sie mit der Wirklichkeit, die niemals binär, sondern immer komplex ist, nichts zu tun haben. Letztlich generieren sie ideologische Systeme.
Stattdessen lege ich Wert darauf, daß das eigentlich sprachliche Fundament in der Referenz liegt, also im Verweis auf einen natürlichen oder gedanklichen Gegenstand. Der bedeutungsstiftende Bezug ist also außersprachlich, und die binnensprachliche Differenzierung von Sprachzeichen kommt erst im nachhinein zu diesem außersprachlichen Bezug hinzu.
Luise F. Pusch hebt nun den referentialsemantischen Ansatz der feministischen Sprachkritik hervor. Es geht dabei vor allem um eine Ethik des Gemeintseins: Frauen befinden sich außerhalb der männlich dominierten Sprache. Sie werden allenfalls mit-gemeint; aber sie werden nicht gemeint, weil die Grammatik der deutschen Sprache und auch viele Wörter bzw. Lexeme um das männliche Geschlecht herum organisiert sind. Frauen erscheinen hier nur als Abweichungen von der grundlegenden männlichen Form. Sie werden in Form eines -in-Suffixes an die männliche Form angehängt.
Pusch geht deshalb sogar so weit, das weibliche -in-Suffix selbst als diskriminierend zu bezeichnen. Irgendwann hatte man, so Pusch, die deutschen Archilexeme, also die grundlegenden Bedeutungsträger der deutschen Sprache, die ursprünglich, so ihre These, geschlechtsneutral waren, maskuliniert. Gemeint sind hier vor allem Personen- und Funktionsbezeichnungen, die nun zunächst immer männlich konnotiert waren und zur Bestimmung weiblicher Funktionsträger, oder wenn wir einen Pleonasmus verwenden wollen: weiblicher Funktionsträgerinnen, eines eigenen angehängten Suffixes bedurften. Pusch verweist auf das Gotische, das noch nicht zwischen Männern und Frauen diskriminiert hatte.
Bei tierischen Archilexemen ist die Konzentration auf das Männliche nicht so ausgeprägt. Bei Nutztieren z.B. wird das nützlichere Geschlecht zum Archilexem: Huhn, statt Hahn; Ente, statt Enterich; Kuh, statt Stier; Ziege, statt Ziegenbock. Wenn es dann eines spezifischen Suffixes bedarf, um das Geschlecht zu bezeichnen, also -rich oder -bock, ist das beim männlichen Tier der Fall.
Wenn also der weibliche Suffix selbst schon diskriminiert, so wäre eine Sprachreform denkbar, die als Alternative auf die geschlechtsneutrale Form zurückgreift und alle Archilexeme von menschlichen Personen- und Funktionsbezeichungen versächlicht. Früher war das durchaus gängig, etwa wenn ‚Jungen‘ und Mädchen jeweils als ‚das Junge‘ bezeichnet wurden. Erst später konnte man dann nur noch ‚der Junge‘ sagen. Nach so einer Sprachreform hieße es dann ‚das Professor‘ oder ‚das Lehrer‘, und wenn eine Frau gemeint ist, heißt es ‚die Professor‘ und ‚die Lehrer‘ und bei einem Mann entsprechend ‚der Professor‘ oder ‚der Lehrer‘. Dann hätte man auch keine Probleme mehr mit der männlichen Konnotation von Eigenschaften wie ‚ärztlich‘ oder ‚künstlerisch‘, weil man dann eben nicht mehr automatisch an einen männlichen Arzt oder einen männlichen Künstler denkt.
Allerdings plädiert Pusch dennoch für eine Forcierung des -in-Suffixes, also mit dem üblichen Gendersternchen oder beim Sprechen mit der Pause an der Stelle, wo sonst das Sternchen eingefügt wird. Zwar habe man es hier, wie schon erwähnt, ursprünglich mit einer Diskriminierung der weiblichen Perspektive zu tun, weil frau, um sich gemeint fühlen zu können, in Form eines -in-Suffixes an ein männliches Archilexem angehängt werden muß. Aber auch in anderen Fällen seien diskriminierend gemeinte Bezeichnungen im nachhinein aufgewertet worden, z.B. ‚Proletarier‘ oder ‚Schwule‘ und ‚Lesben‘.
Letztlich geht es bei aller feministischen Sprachkritik vor allem um eine Kritik des Bewußtseins, und weniger um eine Kritik der Sprache. Denn die „Fehlidentifikation“ von diskriminierten Menschengruppen, also ihr schlichtes Nicht-Gemeintsein, ist vor allem ein sich nicht gemeint Fühlen, also eine Frage des Bewußtseins. Und insofern eben auch ein Problem von Männern, da sie ja gerne immer nur sich selbst meinen.

PS zu Gender (27. Februar 2021)Insofern die feministische Sprachkritik referentialsemantisch orientiert ist, ist es kein Wunder, daß sich daraus in der gesellschaftlichen Praxis, in der Öffentlichkeit, eine Identitätspolitik ergibt. In ihrer radikalen Konsequenz führt das zu einer „cancel-culture“, die nicht nur das aktuelle Sprechen und Schreiben, sondern auch das vergangene Sprechen und Schreiben bis hin zu Philosophie und literarischen Werken einer Zensur unterwirft, so daß, was einmal geschrieben worden ist, heute nicht mehr gelesen oder auch nur neu aufgelegt werden darf, ohne daß in die Texte entsprechend der aktuellen politisch korrekten Ausdrucksweise korrigierend eingegriffen wird.
Unsere Vergangenheit nicht zu kennen, bedeutet, unsere Gegenwart und Zukunft nicht mehr bewerten zu können. Wo wir unsere Gegenwart nur noch von unserer Zukunft her bewerten, von dem her, was wir uns wünschen, werden wir blind für die Anteile in uns, die dieser Zukunft im Weg stehen; und blind für noch Schlimmeres.
Das Problem einer politischen Anwendung referentialsemantischer Einsichten besteht letztlich in der subjektiven Relevanz der Differenz zwischen Meinen und Sagen. Nur individuelle Subjekte können legitimerweise zwischen Meinen und Sagen differenzieren. Diese Differenz ist durch keine Gruppe usurpierbar. Gruppen können sich immer nur auf Gesagtes beziehen, also auf die Struktur von Texten, und sie können niemals die subjektive Bedeutung des Gesagten beurteilen. Die Grundlage der Differenz zwischen Meinen und Sagen liegt in der prinzipiellen Nicht-Identität von Meinen und Sagen. Sprache lebt von der Ambiguität, von der sprachlichen Unschärfe, von Bedeutungshöfen. Wo Wörter auf eine einzige Bedeutung festgelegt werden, haben wir es nicht mehr mit Sprache zu tun, sondern mit Mathematik.
Insofern also eine Sprachkritik Identitätspolitik im Sinne von cancel culture betreibt, beendet sie die Kommunikation und schließt den Raum für Inter-Subjektivität. Wie auch immer ein Sprachreformprozeß aussehen mag: er wird sich notwendigerweise mit Hilfe von Sprechakten vollziehen. Und wer sprechen will, muß ambiguitätstolerant sein.

Gesellschaft / Pluralität:

Ich kenne inzwischen drei bis vier verschiedene Gesellschaftsbegriffe: bei dem ersten ist die Gesellschaft ein biologischer Organismus. Die Individuen sind Organe, die im gesellschaftlichen ‚Körper‘ verschiedene Funktionen übernehmen. Auch bei dem zweiten tritt die Gesellschaft an die Stelle der biologischen Gattung; nur daß die Individuen hier nicht als einfache ‚Organe‘ verstanden werden, sondern als Gleiche im Systemganzen der Gesellschaft. Sie bilden aber nicht mehr das Medium der Evolution, wie bei Darwin, sondern dieses Medium bildet die Gesellschaft, mit der sie sich nolens volens mitentwickeln. In diesem Sinne versteht Habermas die Gesellschaft. Habermas würde sich dagegen mit dem Hinweis verwahren, daß die Individuen mit der Fähigkeit, Nein zu sagen, ausgestattet seien. Aber da er deren Individualität auf eine vorgängige Vergesellschaftung zurückführt, ist dieses ‚nein‘ nicht viel wert.
Hannah Arendt deutet diese Gesellschaft als ein Zwangssystem, das im Kapitalismus dem ökonomischen Prinzip unterworfen ist, und setzt dieser Vorstellung drittens den Begriff der „Pluralität“ entgegen. Schon vor Arendt hatte W.v. Humboldt die Gesellschaft als eine Pluralität verstanden, d.h. als eine freie Gesellungsform, die der Mannigfaltigkeit (Arendts Pluralität) der Individuen eine Bühne bietet. Dem entspricht wiederum (viertens) der Plessnersche Begriff der Gesellschaft, eben als eine Bühne, auf der die Individuen verschiedene Rollen spielen, die wie Masken zugleich das Individuum vor dem die Intimität zerstörenden Durchschaut-Werden schützen.
‚Pluralität‘ und ‚Bühne‘ sind zwei Vorstellungen einer nicht vergesellschaftenden Gesellschaftsform, die sich gegenseitig ergänzen. Von der vorgängigen Vergesellschaftung, von der Habermas ausgeht, unterscheidet sich Arendts Begriff der Pluralität durch die ‚Natalität‘, mit der Arendt die Fähigkeit des Menschen bezeichnet, in einer vorgängigen, schon fertigen Welt spontan einen Anfang zu setzen. Ihr Pluralitätsbegriff hat zwei Implikationen: zum einen geht es darum, daß es die Wahrheit nicht gibt. Jeder Mensch hat seine eigene Wahrheit, seine eigene Sicht auf Sachverhalte. Die Gesamtheit der differierenden individuellen Perspektiven nennt Arendt auch Intersubjektivität. Diese ‚Intersubjektivität‘ unterscheidet sich von der Habermasschen darin, daß sie keinen monolithischen, auch keinen alle Subjekte auf eine, wenn auch zeitlich beschränkte Version verpflichtenden Wahrheitsanspruch mehr erheben kann. Allerdings unterscheidet Arendt zwischen ‚Wahrheit‘ und ‚Tatsachen‘. Tatsachen verpflichten alle Subjekte gleichermaßen. Aber eine die verschiedenen (pluralen) Subjekte verpflichtende ‚Wahrheit‘ muß aus ihnen erst noch abgeleitet werden. Und diese kann, wie die Subjekte, nur plural sein.
Die andere Implikation ist, daß wir nie allein handeln, sondern immer mit anderen zusammen. Das ist die politische Implikation des Pluralitätsbegriffs, in der es darum geht, die Verschiedenheit der Perspektiven (Wahrheiten) in gemeinsames Handeln zu überführen.
Von der Gesellschaft unterscheidet sich die Pluralität also durch die Anerkennung der Differenz. In der Massengesellschaft bzw. in der Arbeits- und Konsumgesellschaft – diese Begriffe hängen bei Arendt eng zusammen – herrscht die Tendenz vor, die verschiedenen Wahrheiten in eine Wahrheit zu überführen, um die Menschen besser kontrollieren zu können. Durch die Nivellierung der Differenz kommen wir aber nicht zu einer Wahrheit. An ihre Stelle tritt vielmehr die Illusion, im Besitz der Wahrheit zu sein. Das ist das Gegenteil von Pluralität.

Gestaltwahrnehmung:

Die Gestaltwahrnehmung nimmt ihre Gegenstände als ein Ganzes aus Vordergrund und Hintergrund. Hintergründe fungieren dabei wie ‚Bilder‘, die man auf die verschiedenste Weise in Worte fassen (beschreiben) kann. Beim Beschreiben eines Bildes heben wir am Bild einen bestimmten ‚Vordergrund‘ hervor, d.h. wir ‚fokussieren‘ das Bild auf eine spezifische Weise, und damit unterscheiden wir uns von der Art und Weise, wie jemand anderes dasselbe Bild fokussieren würde. Hintergründe bilden in der realen Welt immer Situationen, in denen wir uns befinden und auf die wir auf individuelle Weise reagieren. Wir geben ihnen durch unser Handeln einen bestimmten, individuellen Sinn.
Die Gestalt eines lebenden Organismusses unterscheidet sich dabei noch dadurch von der Gestalt eines toten Gegenstandes, daß sie eine zeitliche Dimension hat. Organismen entwickeln sich in der Zeit und ihre Gestalt verändert sich dabei. Dennoch bleibt sie als individuelle Gestalt wiedererkennbar. Solche lebendigen Gestalten bezeichnet Plessner als Ganzes bzw. als Ganzheit. Einen toten Gegenstand kann man in seine Teile zerlegen, ohne daß er dadurch seine ‚Gestalt‘ verliert bzw. ohne daß sich seine Materie verändert. Ein lebendiges Ganzes, das man in seine ‚Teile‘ zerlegt, verliert dabei unwiderruflich seine Gestalt.

Homunkulus:

Unter ‚Homunkulus‘ verstehe ich die Vorstellung, daß irgendetwas ‚in uns‘ anstelle von uns selbst das Denken übernimmt und unsere Lebens- und Bewußtseinsprozesse steuert. Im 17. und 18. Jhdt. stellte man sich unter einem Homunkulus ein kleines Männchen irgendwo in unserem Gehirn vor, ähnlich dem Zwerg in einer schachspielenden mechanischen Puppe. Moderne Varianten dieses Homunkulus sind neuronale Schaltkreise oder genetische Codes.

Interdisziplinarität:

Interdisziplinarität meint gemeinsame Projekte von unterschiedlichen wissenschaftlichen Disziplinen. Sie ist projektgebunden und zeitlich begrenzt. Darin unterscheidet sich Interdisziplinarität von Transdisziplinarität. Der Begriff der Interdisziplinarität macht nur Sinn, wenn sich die verschiedenen Disziplinen wechselseitig auf Augenhöhe begegnen. Es gibt keine disziplinäre Hierarchie in der Wissenschaft.

Intersubjektivität:

Ich unterscheide zwischen einer wissenschaftlichen, einer narrativen und einer kinästhetischen Intersubjektivität. Wissenschaftliche Intersubjektivität ist dadurch gekennzeichnet, daß sie mithilfe mathematischer Verfahren intersubjektiv identische Objekte konstruiert. So wird die subjektive Perspektivenvielfalt auf die Objekte zum Verschwinden gebracht. Narrative Intersubjektivität erzeugt Intersubjektivität durch das Erzählen von Geschichten. Geschichten leben von der Vielfalt der subjektiven Perspektiven, die sie ermöglichen. Kinästhetische Intersubjektivität bezieht sich auf die Vielfalt der sinnlichen Wahrnehmungen, die auf unseren verschiedenen Sinnesorganen beruht. So erfahren wir schon an unserem individuellen Körperleib, noch vor aller Kommunikation, die grundsätzliche Perspektivierbarkeit der Welt.

Künstliche Intelligenz / Musik (16. Januar 2022):

Ich habe bisher immer den Standpunkt vertreten, daß Mathematik keine Sprache ist, weil die mathematischen Zeichen eineindeutig definiert sind. Echte Sprache ist niemals eineindeutig definiert. Es gibt immer eine Differenz zwischen Meinen und Sagen. Diese Differenz ist der Sprache so wesentlich, daß ihre Zeichen aus dieser Differenz heraus Bedeutung gewinnen. Und gerade weil die mathematischen Zeichen eineindeutig definiert sind, sind sie bedeutungslos.
Jetzt habe ich mir mal wieder von Reinhard Mey „Gib mir Musik“ angehört, und da gibt es diese wunderbaren, leicht variierten Refrains:
„Gib mir Musik, um mir ein Feuer anzuzünden,
Um die dunklen Tiefen meiner Seele zu ergründen,
Meine Lust und meine Schmerzen, Narben, die ich mir selbst verschwieg.
Gib mir Musik – Gib mir Musik – Gib mir Musik – Gib mir Musik!“
Es sind die dunklen Tiefen der Seele, die sich dem gesprochenen Wort entziehen. Die Sprache erreicht sie nicht, sie transportiert sie nicht wie eine Informationsmaschine, die Informationen transportiert. Aber durch Musik werden wir in diesen Tiefen unmittelbar berührt, ohne daß unsere Seele an dieser Berührung Schaden nimmt. Kann die Musik also, wie manche Mathematiker glauben, ein mathematisches System mit eineindeutig definierten Zeichen sein?
Allerdings gibt es ein schönes Gegenstatement von Adrian Leverkühn, dem Protagonisten in Thomas Manns „Doktor Faustus“, wo Leverkühn mit Verweis auf Beethoven die Nähe zwischen Musik und Wortsprache behauptet:
 „‚Was schreibt er (Beethoven) da in sein Tagebuch?‘ habe es geheißen. ‚Er komponiert.‘ – ‚Aber er schreibt Worte, nicht Noten.‘ – Ja das war so seine Art. Er zeichnete gewöhnlich in Worten den Ideengang einer Komposition auf, indem er höchstens ein paar Noten zwischenhinein streute. – Hierbei verweilte Adrian, sichtlich davon angetan.“ (Dr. Faustus, S.218)
Demnach wäre die Musik wie die Sprache in erster Linie expressiv und kein mathematisches System, und Leverkühn/Beethovens musikalische Auffassung von Sprache unterstützt Plessners Begriff der Expressivität.
Wie auch immer: mit der Behauptung, Mathematik sei Sprache, wird eine Differenz unterschlagen: Mathematik schließt mit ihren eineindeutigen Zeichen Bedeutung aus. Musik ist mehr als ein Notationssystem. Ihre scheinbare Bedeutungsleere ist eine Einladung an den Hörer, die Hörerin, zu hören, was sie empfinden. Es sind die Hörer, die die Musik mit Bedeutung erfüllen. Deshalb ist Musik anders als die Mathematik nicht keine Sprache, sondern mehr als Sprache.
Es gibt also nicht nur ein vorsprachliches Bewußtsein, ‚prälingual‘, sondern auch ein übersprachliches Bewußtsein: translingual.
Das wirft ein erhellendes Licht auf die Möglichkeiten und Grenzen von KI. Es sind zwei prinzipielle Gründe, die dagegen sprechen, daß Computer jemals unser Denken und unsere Kreativität ersetzen und unser Gefühlsleben ‚verstehen‘ werden: erstens ist menschliches Denken erst in zweiter Linie logisch; in erster Linie ist es von unseren Gefühlen abhängig. Zweitens sind Gefühle niemals substratunabhängig wie die Algorithmen von Computersprachen. Sie sind biochemischer Natur. Sie sind ‚embedded‘.
In der menschlichen Sprache gibt es anders als in der Mathematik oder in Algorithmen keine 1:1-Entsprechung von Zeichen und Bezeichnetem. Die menschliche Sprache beruht auf der Differenz von Meinen und Sagen.
In Robert Habecks Buch „Von hier an anders“ (2021) heißt es zur Musik: „ – heute gibt es von Computern komponierte ‚neue‘ Beethoven-Symphonien, die vom Publikum für eindringlicher gehalten werden als die von Beethoven selbst.“ (Habeck 2021, S.200f.)
Was die ‚komponierende‘ KI betrifft, befindet sie sich auf dem Stand eines elektrischen Klaviers, das die Musik von einer perforierten Papierrolle abspielt: es weiß nicht, was es tut. Wenn KI trotzdem in der Lage ist, Symphonien nicht zu komponieren, sondern zu errechnen, dann deshalb, weil Musik ganz wesentlich aus Zahlenverhältnissen besteht. KI, das sind Computer, und Computer rechnen; deshalb heißt es ja auch ‚Computer‘.
Die Musik ist inhaltsleer, wie die Mathematik. Sie hat keine weltlichen bzw. emotionalen ‚Inhalte‘ bzw. ‚Entsprechungen‘. Aber sie ist offen für weltliche und emotionale Zu-Sprechungen. Die Entsprechungen werden vom Komponisten und vom Publikum durch Zu-Sprechung in die erlebte Musik hineingetragen, gemäß der musikalischen Tradition und den Vorgaben des Komponisten.
Was die KI also errechnet bzw. komponiert, ist leere Musik, ohne Inhalte, ohne Emotionen. Um mich zu wiederholen: sie weiß nicht, was sie tut. Und das Publikum füllt die leere Musik mit seinen Emotionen, so daß sie von diesem Publikum für eindringlicher gehalten wird „als die von Beethoven selbst“. – Mehr ist an der ganzen Sache nicht.
Die Gefahr liegt nicht in der KI selbst. Die Gefahr liegt darin, daß wir das, was die KI tut, für Denken halten! Und daß wir unser eigenes Denken daran ausrichten.

Lebenswelt (Husserl, Blumenberg):

Der von Husserl stammende Begriff der Lebenswelt überschneidet sich mit anderen Begriffen wie ‚Gestell‘, ‚Mythos‘, ‚Schwarmintelligenz‘, ‚Kultur‘ und ‚Intersubjektivität‘. Er hat mit diesen Begriffen gemeinsam, daß er eine kollektive Bewußtseinsform beschreibt. Die Lebenswelt bestimmt unser individuelles Denken, ohne daß wir uns dessen bewußt sind. Eigenständiges individuelles Denken ist immer nur zeitweilig, als bewußte Denkanstrengung möglich. In meinem Blog stelle ich die Lebenswelt in einen engen Zusammenhang mit der ‚Seele‘. Die ‚Seele‘ des Menschen ist nichts anderes als die Lebenswelt an der Grenze zur Bewußtwerdung, also im Übergang von einer kollektiven zu einer individuellen Bewußtseinsform.

Masse, Meute und Mobbing:

Meute und Mob haben dieselbe etymologische Wurzel: movitas und mobilis. Beides bedeutet ‚Bewegung‘ und gemeint ist ‚Erregung‘. Allerdings entspricht die ‚Meute‘ mehr dem, was mit Mobbing gemeint ist: die Jagd auf ein Opfer, einen Fuchs oder einen Hasen, und das gemeinsame Zerreißen des Opfers. Obwohl ‚Mobbing‘ direkt von Mob bzw. mobilis abgeleitet ist, fehlt dem Mob noch die Gerichtetheit; er ist gewissermaßen noch offen für jedes mögliche Opfer seiner Vernichtungswut.
Ich bin bei Elias Canetti auf das Wort ‚Meute‘ gestoßen. (Vgl. „Masse und Macht“ (1960)) Allerdings hält Canetti die Meute nicht für etwas prinzipiell Negatives. Er glaubt, neben einer Jagd-, Klage- und Vermehrungsmeute so etwas wie eine „Erwartungsmeute“ beschreiben zu können, die er mit der christlichen Kommunion vergleicht. Das ist absurd, und ich will hier deshalb auch nicht näher darauf eingehen. Auch die Masse hält Canetti für ein anthropologisches Phänomen, dem er etwas Positives abgewinnen kann: sie trägt, so Canetti, dazu bei, die Berührungsangst zwischen den Menschen aufzuheben. Daß mit der Aufhebung dieser Berührungsangst eine Auflösung der menschlichen Individualität einhergeht, ficht ihn da nicht weiter an.
Klaus Theweleit hat in seinem Buch „Männerphantasien“ (1977/78) Canettis positiven Massebegriff übernommen. Auch er hat ein Problem mit dem Individuum, das sich gegen eine Auflösung in das ozeanische Strömen und Fließen sperrt. Theweleit ergänzt Canettis Massebegriff um den negativen Begriff einer faschistischen Masse: die Masse als Formation, also geordnete Kolonnen, die zum Appell aufmarschieren. Aber die andere, die auflösende Masse, findet er begrüßenswert.
Aber die Masse gibt es nur als Mob bzw. als Meute. Und daran ist nichts Erfreuliches. Wo sie als etwas Positives gefeiert wird, wie z.B. auf den Zuschauerrängen bei sportlichen Wettkämpfen, bildet das Umschlagen in eine hemmungslose Meute ein ihr inhärentes Potential.

Mathematik:

Die Mathematik ist ein Zeichensystem, das keine S/P-Struktur hat. Mit anderen Worten: sie prädiziert nicht. Ihre Formeln haben keinen Gegenstand. Sie ist nicht von dieser Welt. Weil das Zeichensystem der Mathematik nicht welthaltig ist, kann es auch keine Welt vermitteln und ist keine Sprache.

Metapher (Blumenberg):

In Blumenbergs „Theorie der Unbegrifflichkeit“ bilden Metaphern die Keimzellen von Begriffen. Metaphern sind vage und ungenau, Begriffe sind präzise und widerspruchsfrei. Alle Begriffe waren ursprünglich mal Metaphern. Dann gibt es aber noch absolute Metaphern, die sich niemals in einen Begriff auflösen lassen, wie etwa das Wort ‚Buch‘ für die Welt oder für die Natur.
Für mich steht das Wort ‚Metapher‘ für das Verfahren der Analogiebildung und in diesem Sinne für das grundlegende Prinzip jeder Sprache. Wilhelm von Humboldt hatte einmal geschrieben, alles in der Sprache sei Analogie. Damit ist nicht nur das Verhältnis von Bezeichnung und Gegenstand gemeint. Es geht dabei vor allem auch um die Beschreibung geistiger und seelischer Zustände. Durch die Schaffung analogischer Beziehungen zwischen verschiedenen Bedeutungen werden neue Bedeutungen geschaffen. Aus dem Lachen eines geliebten Menschen und dem strahlenden Sonnenschein wird durch die Zusammenstellung in einem Satz oder in einem Vers ein neues Bewußtsein geschaffen und möglicherweise auch eine Verpflichtung und ein Schicksal.

Musik / Künstliche Intelligenz (16. Januar 2022):

Ich habe bisher immer den Standpunkt vertreten, daß Mathematik keine Sprache ist, weil die mathematischen Zeichen eineindeutig definiert sind. Echte Sprache ist niemals eineindeutig definiert. Es gibt immer eine Differenz zwischen Meinen und Sagen. Diese Differenz ist der Sprache so wesentlich, daß ihre Zeichen aus dieser Differenz heraus Bedeutung gewinnen. Und gerade weil die mathematischen Zeichen eineindeutig definiert sind, sind sie bedeutungslos.
Jetzt habe ich mir mal wieder von Reinhard Mey „Gib mir Musik“ angehört, und da gibt es diese wunderbaren, leicht variierten Refrains:
„Gib mir Musik, um mir ein Feuer anzuzünden,
Um die dunklen Tiefen meiner Seele zu ergründen,
Meine Lust und meine Schmerzen, Narben, die ich mir selbst verschwieg.
Gib mir Musik – Gib mir Musik – Gib mir Musik – Gib mir Musik!“
Es sind die dunklen Tiefen der Seele, die sich dem gesprochenen Wort entziehen. Die Sprache erreicht sie nicht, sie transportiert sie nicht wie eine Informationsmaschine, die Informationen transportiert. Aber durch Musik werden wir in diesen Tiefen unmittelbar berührt, ohne daß unsere Seele an dieser Berührung Schaden nimmt. Kann die Musik also, wie manche Mathematiker glauben, ein mathematisches System mit eineindeutig definierten Zeichen sein?
Allerdings gibt es ein schönes Gegenstatement von Adrian Leverkühn, dem Protagonisten in Thomas Manns „Doktor Faustus“, wo Leverkühn mit Verweis auf Beethoven die Nähe zwischen Musik und Wortsprache behauptet:
 „‚Was schreibt er (Beethoven) da in sein Tagebuch?‘ habe es geheißen. ‚Er komponiert.‘ – ‚Aber er schreibt Worte, nicht Noten.‘ – Ja das war so seine Art. Er zeichnete gewöhnlich in Worten den Ideengang einer Komposition auf, indem er höchstens ein paar Noten zwischenhinein streute. – Hierbei verweilte Adrian, sichtlich davon angetan.“ (Dr. Faustus, S.218)
Demnach wäre die Musik wie die Sprache in erster Linie expressiv und kein mathematisches System, und Leverkühn/Beethovens musikalische Auffassung von Sprache unterstützt Plessners Begriff der Expressivität.
Wie auch immer: mit der Behauptung, Mathematik sei Sprache, wird eine Differenz unterschlagen: Mathematik schließt mit ihren eineindeutigen Zeichen Bedeutung aus. Musik ist mehr als ein Notationssystem. Ihre scheinbare Bedeutungsleere ist eine Einladung an den Hörer, die Hörerin, zu hören, was sie empfinden. Es sind die Hörer, die die Musik mit Bedeutung erfüllen. Deshalb ist Musik anders als die Mathematik nicht keine Sprache, sondern mehr als Sprache.
Es gibt also nicht nur ein vorsprachliches Bewußtsein, ‚prälingual‘, sondern auch ein übersprachliches Bewußtsein: translingual.
Das wirft ein erhellendes Licht auf die Möglichkeiten und Grenzen von KI. Es sind zwei prinzipielle Gründe, die dagegen sprechen, daß Computer jemals unser Denken und unsere Kreativität ersetzen und unser Gefühlsleben ‚verstehen‘ werden: erstens ist menschliches Denken erst in zweiter Linie logisch; in erster Linie ist es von unseren Gefühlen abhängig. Zweitens sind Gefühle niemals substratunabhängig wie die Algorithmen von Computersprachen. Sie sind biochemischer Natur. Sie sind ‚embedded‘.
In der menschlichen Sprache gibt es anders als in der Mathematik oder in Algorithmen keine 1:1-Entsprechung von Zeichen und Bezeichnetem. Die menschliche Sprache beruht auf der Differenz von Meinen und Sagen.
In Robert Habecks Buch „Von hier an anders“ (2021) heißt es zur Musik: „ – heute gibt es von Computern komponierte ‚neue‘ Beethoven-Symphonien, die vom Publikum für eindringlicher gehalten werden als die von Beethoven selbst.“ (Habeck 2021, S.200f.)
Was die ‚komponierende‘ KI betrifft, befindet sie sich auf dem Stand eines elektrischen Klaviers, das die Musik von einer perforierten Papierrolle abspielt: es weiß nicht, was es tut. Wenn KI trotzdem in der Lage ist, Symphonien nicht zu komponieren, sondern zu errechnen, dann deshalb, weil Musik ganz wesentlich aus Zahlenverhältnissen besteht. KI, das sind Computer, und Computer rechnen; deshalb heißt es ja auch ‚Computer‘.
Die Musik ist inhaltsleer, wie die Mathematik. Sie hat keine weltlichen bzw. emotionalen ‚Inhalte‘ bzw. ‚Entsprechungen‘. Aber sie ist offen für weltliche und emotionale Zu-Sprechungen. Die Entsprechungen werden vom Komponisten und vom Publikum durch Zu-Sprechung in die erlebte Musik hineingetragen, gemäß der musikalischen Tradition und den Vorgaben des Komponisten.
Was die KI also errechnet bzw. komponiert, ist leere Musik, ohne Inhalte, ohne Emotionen. Um mich zu wiederholen: sie weiß nicht, was sie tut. Und das Publikum füllt die leere Musik mit seinen Emotionen, so daß sie von diesem Publikum für eindringlicher gehalten wird „als die von Beethoven selbst“. – Mehr ist an der ganzen Sache nicht.
Die Gefahr liegt nicht in der KI selbst. Die Gefahr liegt darin, daß wir das, was die KI tut, für Denken halten! Und daß wir unser eigenes Denken daran ausrichten.


Nihilismus, aufgeklärter:

Mit dem „aufgeklärten‘ Nihilismus“ will ich nicht auf einen amoralischen Nihilismus hinaus, der sich gegen die Sinn- und Werthaftigkeit des Lebens richtet. Wenn überhaupt ein Nihilismus in dieser Richtung ‚Sinn‘ macht, dann nicht gegen das Leben generell, sondern nur gegen das menschliche Leben, weil nur dieses zu einer so umfassenden, gegen sich selbst gerichteten Negation fähig wäre. Aber auch dieser Nihilismus ist nicht gemeint.
Ein aufgeklärter Nihilismus richtet sich vielmehr gegen zwei Tendenzen: gegen eine erkenntnistheoretische und gegen eine praxeologische. Im Sinne einer Kritik der Erkenntnistheorie richtet sich der aufgeklärte Nihilismus gegen den Versuch, Letztbegründungen für das Sein aufzustellen, gleichgültig, ob es sich dabei nun um Letztbegründungen im Diesseits oder im Jenseits handelt. Diesseitige Letztbegründungsversuche bestehen z.B. in der Suche nach einer physikalischen Weltformel oder in soziologischen und politischen Modellen perfekter Institutionen. Jenseitige Letztbegründungsversuche bestehen im Glauben an ein Endgericht oder in der Konstruktion einer Geschichtsphilosophie.
Jenseitige Letztbegründungsversuche beinhalten zweitens immer auch eine praxeologische Tendenz: das Diesseitige gegenüber dem Jenseitigen abzuwerten; es hat für sich selbst keinen Sinn, – nur im Blick auf das, was danach, im Jenseits also, kommt. Ein aufgeklärter Nihilismus verweist deshalb immer auf die Grundlosigkeit und Nichtrechtfertigbarkeit des Lebens.
Was die Vernunft betrifft, der Kant noch bescheinigt hatte, gar nicht anders zu können, als Letztbegründungsfragen nach dem Anfang der Welt zu stellen und nach Gottesbeweisen zu suchen, bedeutet das, daß wir sie nicht länger als alleinigen Maßstab für alles Menschliche verstehen können. Weder ist das Gute ein auf den Begriff gebrachtes Humanum, noch ist diesem das Böse wesensfremd. Das Moralische befindet sich also nicht irgendwo im Spannungsfeld von gut und böse, sondern in je konkreten Entscheidungen und Handlungen.

Phänomenale Strukturanalyse:

Die phänomenale Strukturanalyse ist eine Form der Gestaltwahrnehmung. Mit ‚Struktur‘ meine ich zunächst eine Abstraktionsform der Gestalt, die sich berechnen läßt. Hinzu kommt eine hermeneutische Dimension, die die Struktur als ein Moment von Texten versteht, in denen der Sinn nicht mit dem geschriebenen oder gesprochenen Wort identisch ist, sondern nur vom Textganzen her erschlossen werden kann. Anders als die strukturalistische Abstraktionsform, die sich nur für das mathematisierbare Moment des menschlichen Weltverhältnisses interessiert, ist der hermeneutische Strukturalismus mit einer phänomenalen Einstellung zur Welt vereinbar. Eine Verbindung von Hermeneutik und Phänomenologie könnte man also auch als phänomenale Strukturanalyse bezeichnen. In ihr geht es vor allem um innere Bewußtseinsgegenstände und ihre narrative Struktur. Ein solcher hermeneutischer Strukturalismus basiert auf der Differenz von Sagen und Meinen und hat nichts mit der strukturalistischen Abstraktionsform mathematischer Welterklärungsmodelle gemein.

Phänomenologie:

Phänomenologen befassen sich mit allem, was das subjektive Bewußtseinsleben betrifft. Jedermann kann Phänomenologe sein, gleichgültig welcher Herkunft, welchen Geschlechts und unabhängig von seiner Ausbildung. Es bedarf lediglich der Bereitschaft, sich des eigenen Verstandes zu bedienen und nichts zu glauben, was sich unserem Verstand entzieht, gleichgültig mit welcher Autorität das auch immer von uns verlangt werden mag. Es gibt keine Experten in Sachen man selbst sein. Der Laie hat hier das letzte Wort. Wissenschaftler und Päpste sind ihm gegenüber rechenschaftspflichtig.
‚Phänomene‘ sind Wahrnehmungen, Erlebnisse und Gedanken. Sie sind immer subjektiv, auch dort, wo sie intersubjektive Objektivität für sich beanspruchen. Sie sind immer das, als was sie uns erscheinen. Sie sind bloße Oberfläche. Sie zeigen sich und verbergen nichts. Es gibt kein verborgenes, transzendentes Wesen jenseits der Phänomene.

Positionalität, exzentrische:

Helmuth Plessner verbindet den Begriff der exzentrischen Positionalität mit dem Begriff des Körperleibs. So wie der Mensch ein Verhältnis zu sich selbst hat, in dem der Körper einen physisch-physiologischen Gegenstand bildet und zugleich einen beseelten Leib (Doppelaspektivität), befindet er sich auch der Welt gegenüber in einer exzentrischen Position: er befindet sich zugleich in ihrer Mitte und an ihrem Rand. Es ist die exzentrische Positionalität, die es ihm im Kantischen Sinne ermöglicht, jeder seiner Wahrnehmungen ein „Ich denke“ hinzuzufügen (Apperzeption) und auf diese Weise bei sich zu sein.

Rekursivität:

Der Begriff der Rekursivität, wie ich ihn in meinen Blog verwende, hat nichts mit rekursiven Algorithmen zu tun. Das deutsche Wort ‚Umgang‘ (Umlauf) gibt recht gut wieder, was ich unter Rekursivität verstehe. ‚Re-Kursivität‘, also Rück- bzw. Um-Gang steht in einem begrifflichen Gegensatz zur ‚Dis-Kursivität‘, was so viel wie ‚Auseinander-Gang‘, Lauf in verschiedene Richtungen bedeutet. Diskursivität setzt auf Dissens, nicht auf Konsens, wie Habermas und der gerade verstorbene Karl-Otto Apel meinen. So wie diese beiden Philosophen den Begriff des Diskurses verwenden, bildet er einen performativen Widerspruch.
Im Unterschied zum Diskurs bildet der ‚Umgang‘ einen ‚Kreisgang‘ vom Einen zum Anderen und zurück. Michael Tomasello bezeichnet damit die Fähigkeit des Menschen, sich in das Denken seiner Mitmenschen hineinzuversetzen und zu denken, was sie denken. Niklas Luhmann beschreibt denselben Sachverhalt in seiner Systemtheorie als Erwartungserwartung. Franz Fischer spricht vom „Sinn von Sinn“. Die rekursive Dynamik kann sich dabei über viele Bewußtseinsebenen erstrecken und sich in ihrer Logik in eine leere Unendlichkeit verlaufen: ich denke, daß Du denkst, daß ich denke, daß Du denkst usw.
Aber im wirklichen Leben ist die Rekursivität immer in unseren Wünschen und Absichten ‚geerdet‘. Es ist unser Begehren, das sie begrenzt.

Seele:

Was ich in meinem Blog unter ‚Seele‘ verstehe, ist keine unsterbliche Substanz, die im Gegensatz zu unserer Körperlichkeit steht. ‚Seele‘ ist vielmehr ein bestimmtes Verhalten auf der Grenze zwischen Innen und Außen. Sie ist weder innen, noch ist sie außen. Sie ist das Begehren, von einem Anderen wie sie, einem anderen ‚Ich‘, als ‚Du‘, verstanden zu werden. Zugleich aber ist sie die Furcht, durchschaut zu werden. Sie ist die Furcht, als etwas verstanden zu werden, was sie nicht ist, aber fürchtet zu sein. Helmuth Plessner bezeichnet die Seele als ein Noli-me-tangere. Er bezeichnet sie als ein „Geschöpf der Nacht“, das das Tageslicht scheut. So ist sie das Phänomen, das sich gleichzeitig zeigt und verbirgt und das sich zeigt, indem es sich verbirgt. Sie ist die zweifache Differenz zwischen dem Bewußtsein, dem Unbewußten und dem Unterbewußten. Kein Bewußtsein ohne Seele.

Selbsthabe:

Der Begriff der „Selbsthabe“ stammt aus Husserls Phänomenologie und bezeichnet die „ursprüngliche Evidenz“ einer subjektiven Wahrnehmung, deren wir uns durch uns selbst bewußt sind, ohne dazu einer Vermittlung durch andere Menschen und Autoritäten zu bedürfen. Daß ich ein Huhn sehe, seine Federn in meinen Händen spüre, wenn ich es einfange, es rieche und gackern höre, braucht mir niemand zu sagen: es ist meine eigene ursprüngliche Evidenz, daß dem so ist.
Die Selbsthabe entspricht der Kantischen transzendentalen Apperzeption, also dem „Ich denke“, das ich meinen Wahrnehmungen hinzufüge, um sie mir anzueignen. So bekommt die Selbst-Habe auch eine reflexive Note: denn indem ich das Huhn habe, habe ich mich selbst.
Zur reflexiven Bedeutung kommt eine weitere bildungsphilosophische Bedeutung hinzu: Mit dem Huhn habe ich eine Welt, die das unentbehrliche Korrelat jedes menschlichen Selbstbewußtseins ist.
Wilhelm von Humboldt hat diese Selbsthabe in seiner Bildungstheorie als ein subjektives Bedürfnis unseres „Gemüths“ beschrieben, seinen Gegenstand immer ganz haben zu wollen; nicht nur einen Teil des Gegenstands. Dieses Bedürfnis nach Vollständigkeit bildet nicht nur das Fundament des Mensch/Welt-Verhältnisses, sondern es begründet auch die Wissenschaft. Humboldt zufolge ist die Universität eine transdisziplinäre Institution, in der die verschiedenen Disziplinen von dem gemeinsamen Bedürfnis motiviert werden, die Welt als Ganzes zu erkennen.
Denn so wie wir uns selbst nicht als eine aus Einzelteilen zusammengesetzte Maschine verstehen, sondern als ein lebendiges Ganzes, als ein denkendes und fühlendes Ich, verstehen wir auch die Welt uns gegenüber als ein Ganzes. Wir übertragen also unser Bedürfnis, uns selbst zu haben, auf die Welt. Mit weniger geben wir uns nicht zufrieden.
Diese auf Selbsthabe beruhende Bestimmung des Mensch/Welt-Verhältnisses steht scheinbar in einem Widerspruch zur exzentrischen Positionalität (Plessner). Wir haben es mit einem Spannungsverhältnis zwischen einer Bildungsphilosophie, zu der wesentlich eine humane Bestimmung des Verhältnisses von Mensch und Welt gehört, und einer philosophischen Anthropologie zu tun, zu der eine nihilistische (aufgeklärter Nihilismus) Bestimmung des Menschen gehört, der sich und seine Welt nicht hat. Tatsächlich bildet die Selbsthabe aber im Sinne W.v. Humboldts ein Bedürfnis, ist also Teil unserer gebrochenen Intentionalität. Zu unserem Umgang mit der Welt gehört es deshalb, dem Bedürfnis nach Selbsthabe in unserer Bedürfnisorganisation (Wille) Ausdruck zu geben. Plessner beschreibt diese zweifache, Welt habende und nicht-habende Bestimmung des Mensch/Welt-Verhältnisses als Doppelaspektivität.

S/P-Struktur (Syntax):

Mit der Subjekt-Prädikatstruktur (S/P-Struktur) eines Satzes meine ich die die grammatische Struktur überschreitende Verbindung eines Satzes mit seinem Gegenstand. Beim Gegenstand handelt es sich um ein dem Satz transzendentes, wirkliches Objekt, auf das der Satz nur verweisen (referieren) und das er nur beschreiben (prädizieren) kann. ‚Prädizieren‘ bedeutet, daß ‚etwas‘ (Prädikat) über ‚etwas‘ (Objekt) ausgesagt wird. Das prädizierte Objekt können wir mit Mauthner auch als das eigentliche Subjekt des Satzes oder auch als ‚Realobjekt‘ bezeichnen, das nicht mit dem grammatischen Subjekt identisch sein muß. Nennen wir das grammatische Subjekt deshalb ‚S‘ und das Realobjekt ‚S'‘.
S' kann mit der Position von S im Satz identisch sein, ohne daß S' und S identisch sind. Wenn also „Die Studenten in Berlin demonstrieren“, dann sind die „Studenten“  gleichzeitig S und S', also gleichzeitig Satzsubjekt und wirkliches Subjekt bzw. Realobjekt, ohne daß die wirklichen Studenten mit dem Satzsubjekt identisch sind. Im Satz „Die Studienzeit bietet vielen Studenten die Möglichkeit, sich politisch zu engagieren“ sind die Studenten hingegen Bestandteil des Prädikats, das das Satzsubjekt (Studienzeit) prädiziert; aber zugleich bilden sie als Realobjekt das eigentliche Subjekt, S', des Satzes, in dem es um die Studenten geht und nicht um die Studienzeit. Hier fallen die realen Studenten (S') mit der grammatischen Position von S (Studienzeit) nicht zusammen. Der Satz kann auf die Studenten, als seinem Realobjekt, nur verweisen.
Mit dieser S/P-Struktur, also der Unterscheidung von Prädikat und Objekt bzw. von S und S', versuche ich dem Umstand gerecht zu werden, daß Sätze von wirklichen Gegenständen handeln, aber nicht mit diesen wirklichen Gegenständen identisch sind. Sätze spiegeln auf diese Weise die Struktur unserer gebrochenen Intentionalität.
Die S/P-Struktur von Sätzen ähnelt übrigens der Struktur der Gestaltwahrnehmung: Subjekt = Hintergrund und Prädikat = Vordergrund; was wir auf verschiedene Weise prädizieren (in den Vordergrund rücken), bleibt selbst unverändert im Hintergrund.

Statistik/Big Data:

Robert Musils Roman „Der Mann ohne Eigenschaften“ (1930/33) und Hans Henny Jahnns Roman „Fluß ohne Ufer“ (1949/50/61) liefern interessante Aufschlüsse zum Verhältnis zwischen Statistik und Psychologie: also zwischen dem Gesetz der großen Zahl und der individuellen Lebensführung des Menschen.
In beiden Romanwerken geht es zentral um den Zusammenhang zwischen individuellem Handeln und statistischen Daten, einem Themenkomplex, den wir heute als „big data“ kennen. Musil versteht die Statistik als den mathematischen Ausdruck für die menschliche Seele bzw. für die Lebenswelt. Die Lebenswelt prägt als das „Gesetz der großen Zahl“ (Musil) das ganze persönliche Bewußtseinsleben des konkreten einzelnen Menschen. Dabei setzt Musil die Statistik mit der gesellschaftlichen „Wirklichkeit“ gleich, also mit der Lebenswelt, während die Seele für die „Möglichkeit“ steht, also für die statistische Abweichung, die aber aus der Perspektive der großen Zahlen einen Teil des gesellschaftlichen Durchschnitts bildet.
So sehr wir uns als Menschen, als Individuen, bemühen, unsere ganz persönlichen Motive zu verwirklichen, so sehr ist es am Ende doch immer nur das, was alle tun, also das, was Musil „Wirklichkeit“ nennt. Unsere Freiheit besteht letztlich darin, das tun zu wollen, was alle tun, gleichgültig, was sie wollen. Unsere Freiheit geht in der Statistik auf. Das ist der Grund, warum Ulrich sich entscheidet, ein Mann ohne Eigenschaften zu sein; also ohne etwas, das sich in Daten verwandeln und zählen läßt.
Bei Jahnn sind die Musilschen Begriffe vertauscht, beschreiben aber letztlich dasselbe Phänomen. Bei Jahnn ist nicht die Statistik das Wirkliche, sondern das individuelle Leben. Das Gesetz der großen Zahl entwirklicht dieses individuelle Leben und verwandelt es in eine statistische Größe. Wie bei Musil ist diese statistische Größe die Lebenswelt, also das Leben aller. Das Leben aller ist das Unwirkliche. Wirklich ist nur das konkrete Leben des Einzelnen. Je älter wir werden, umso ‚wirklicher‘ werden wir; umso mehr werden wir in unserer Persönlichkeit durch die zufälligen Ereignisse unserer individuellen Lebensgeschichte geprägt.
Nicht die Statistik ist unser Schicksal, sondern der Zufall. Je älter wir werden, umso mehr weichen wir von der Statistik ab. Wir vereinzigartigen und verwirklichen uns.
Die Statistik sieht über den einzelnen Menschen hinweg. Sie ist blind für den einzelnen Menschen. Nur wer genau hinsieht, wer den Zufall sieht, die Details, die Eigenschaften, der sieht den einzelnen Menschen in seiner Wirklichkeit.
Letztlich können wir aus diesem Vergleich zwischen Musil und Jahnn die Schlußfolgerung ziehen, daß es zwischen Big Data und dem freien Willen (Wille) keinen Widerspruch gibt. Bei beiden geht es um denselben Menschen; aber auf verschiedenen Ebenen: auf der Ebene der Lebenswelt und auf der Ebene des individuellen Handelns.

Strukturalismus:

Für den Strukturalisten sind die Strukturen wichtiger als die Phänomene. Die Phänomene bilden nur Teile bzw. ‚Knoten‘ einer Struktur. Die Phänomene sind nicht das, als was sie erscheinen, sondern sie erfüllen nur eine Funktion, und sie sind im Rahmen eines funktionierenden Ganzen, eben der Struktur, beliebig austauschbar und ersetzbar. (Das unterscheidet das Strukturganze vom Gestaltganzen. In einem Gestaltganzen sind die Teile nicht beliebig austauschbar und ersetzbar.) Es ist wie bei einem Rollenspiel: die ‚Masken‘, also die Phänomene, können von verschiedenen Spielern getragen werden, solange sie nur die mit der Maske verbundene Funktion im Rollenspiel erfüllen.
Die Regeln des jeweiligen Spiels sind klar definiert. Das Verhalten der Teilnehmer ist berechenbar. An die Stelle des individuellen Bewußtseins tritt der Algorithmus.

Tod:

Wenn ich mich mit dem Begriff der Zeit auseinandersetze, dann vor allem als eine Zeit, die die verschiedenen Entwicklungsprozesse (Entwicklungslogiken) in Anspruch nehmen, aus denen ein individueller Mensch hervorgeht. Zur Zeit bzw. zur Zeitlichkeit als subjektives Bewußtsein habe ich mich in meinem Blog wenig geäußert. Ich fasse das subjektive Bewußtsein vor allem als Narrativität, um damit die Erzählstruktur und insofern eine gewisse Zeitlichkeit des Bewußtseins zu beschreiben.
Für so etwas wie eine „ursprüngliche Zeitlichkeit“, wie sie für Heideggers und Husserls Philosophien grundlegend ist, fehlt mir die innere Anschauung. Und wofür mir die Anschauung fehlt, darüber kann ich auch nicht reden. Ich kann nur über Phänomene reden, die sich mir geben, und nicht über Phänomene, die sich mir entziehen. Nun besteht insbesondere bei Heidegger die Anschauung, auf die er sich bezieht, in der Todesgewißheit und mit ihr verbunden in der Todesangst, die uns unmittelbar mit der Begrenztheit unserer Lebenszeit konfrontiert. Ich bezweifle nicht, daß es Todesangst gibt. Aber sie ist uns nur akut gegeben, in Ausnahmesituationen. In solchen Fällen kann sie eine nachhaltige und prägende Erfahrung für die weitere Lebensführung eines Menschen sein.
Aber geborgen in meiner Lebenswelt und im Vollbesitz meiner Leiblichkeit habe ich kein Bewußtsein von meinem Tod. Kinder müssen erst lernen, daß sie sterblich sind. Man sagt es ihnen oder sie erleben es, wenn ein Familienangehöriger stirbt, und leiten daraus ab, daß auch sie selbst einmal sterben werden. Aber das ist noch weit weg. Sie wissen es dann, aber es bleibt doch ohne innere Anschauung. Der Versuch, den eigenen Tod zu denken, ihn sich recht lebhaft und gemütvoll auszumalen, zum Beispiel in Form einer Phantasie über die eigene Beerdigung und die Reden, die da über einen gehalten werden, scheitert schon daran, daß diese Phantasie doch recht farbig und eben lebendig ausfällt. Sich den eigenen Tod zu denken, also ohne alles, was einen bewußt und lebendig sein läßt, scheitert notwendigerweise. Es ist einfach unmöglich, den eigenen Tod zu denken, auch wenn wir wissen, daß wir sterben werden. – Es fehlt die Anschauung.
Die Todeserfahrung ist also nichts Ursprüngliches, und deshalb ist es auch die ursprüngliche Zeitlichkeit unseres Bewußtseins nicht.
Eher noch leuchtet mir Husserls Ansatz ein, daß die ursprüngliche Zeitlichkeit die Form eines Bewußtseinsstroms hat, in dem die Erlebnisse und Ereignisse kommen und gehen, so daß wir immer ein klares Bewußtsein davon haben, was schon vergangen und was (noch) gegenwärtig ist. Aus dieser chronologischen Struktur unseres inneren Erlebens leitet Husserl eine ursprüngliche Zeiterfahrung, eine Erfahrung von der Zeitlichkeit unseres Bewußtseins ab, so daß sich dieses Bewußtsein in der Zeitlichkeit seiner Erinnerungen selbst gegeben ist.
Das leuchtet ohne weiteres ein. Aber ich habe dennoch meine Probleme damit, aus der Erinnerung, aus der Vergegenwärtigung des gerade Vergangenen, ein Bewußtsein von der eigenen Zeitlichkeit abzuleiten. Das Vorher und Nachher der aufeinanderfolgenden Erlebnisse und Ereignisse ist noch weit weg davon, uns uns selbst als zeitlich und begrenzt erkennen zu machen. Tatsächlich sind wir so sehr in den ständigen Vollzug des Vergegenwärtigens involviert, daß uns das Vergehen der Zeit völlig entgeht. Bewußt wird es uns eigentlich erst, wenn dieser Strom des Vergehens einmal stockt; also wenn die ‚Zeit‘ stillsteht. Erst die stillstehende Zeit, in der nichts passiert, wird uns zum Problem. Über unsere eigene Zeitlichkeit lernen wir dabei nichts. Der Bewußtseinsstrom liefert uns keine Anschauung davon; nicht mal dann, wenn er stockt, im Wartezimmer einer Arztpraxis oder auf dem Bahnsteig eines Bahnhofs.
Unser Wachbewußtsein ist auf Chronologie angewiesen, auf das Vorher und auf das Nachher. Seine Haupttätigkeit besteht darin, alles chronologisch zu ordnen; sich selbst Geschichten zu erzählen. Aber schon beim Versuch, sich an länger zurückliegende Ereignisse zu erinnern, gerät alles durcheinander. Unser Gedächtnis ist keineswegs wohlgeordnet. Es hat keine zeitliche Struktur. Wenn wir kurz vor dem Aufwachen einen Traum träumen, an den wir uns dann beim Aufwachen erinnern, ist das erste, was das Wachbewußtsein macht, die wirr durcheinander strudelnden Traumbilder in eine Chronologie zu bringen; in ein Vorher und ein Nachher. Aber in unserem Traumbewußtsein hatte es diese Chronologie gar nicht gegeben.
So funktioniert auch unser Gedächtnis: Erinnerungen tauchen auf und tauchen ab, und währenddessen versuchen wir verzweifelt, sie einzuordnen: wann ist uns dieses passiert, wann haben wir jenes erlebt? Und regelmäßig irren wir uns dabei, was wir dann erkennen müssen, wenn wir auf Dokumente zurückgreifen, die uns bestätigen, daß alles ganz anders gewesen ist, oder wenn wir uns mit Freunden und Verwandten streiten, mit denen wir die gleichen Erinnerungen teilen, die sie aber chronologisch ganz anders ordnen als wir. Menschen sind schlechte Tatzeugen.
Unser Zeiterleben ist also im hohen Maße künstlich und konstruiert. Da ist nichts Ursprüngliches dran. Und auch der Tod ist für uns etwas so Ungewisses, daß wir leichter an ein Weiterleben nach dem Tod glauben können als an ein endgültiges Ende.

Transdisziplinarität:

Als Transdisziplinarität bezeichne ich die Verantwortung der Wissenschaft gegenüber den Laien. Die Wissenschaft hat ihren Sinn nicht in sich selbst. Innerdisziplinäre Objektivität ist nicht alles. Jede Disziplin muß ihre Forschungsergebnisse gegenüber den Laien vermitteln und rechtfertigen.

ultima ratio:

Ich verstehe die ultima ratio nicht als einen Rechtsbegriff zur Orientierung politischen Handelns, sondern als eine Grenze des Gewissens. Als sich Dietrich Bonhoeffer an der Vorbereitung auf das Attentat auf Hitler am 20. Juli 1944 beteiligte, sprach er von einer ultima ratio des Tyrannenmords, die die Grenzen des individuellen Gewissens und damit der Moral sprengt. Kein Mord, auch der Tyrannenmord nicht, ist moralisch begründbar. Deshalb müssen ‚Mann‘ (bzw. Frau) des Gewissens an dieser Herausforderung scheitern. Die Verantwortung, die hier übernommen werden müsse, so Bonhoeffer, geht über das Gewissen hinaus. Sie ist transmoralisch. Wer sich ihr stellt, wird unvermeidlich schuldig. – Es ist unschwer zu erkennen, daß Bonhoeffer hier den Ehrbegriff von zum Attentat entschlossenen Offizieren im Blick hatte.
Es gibt aber noch ein weiteres Moment, das das individuelle Gewissen wieder ins Spiel bringt: in der Situation, wo einzelne Menschen sich entscheiden, mit ihren Schutzbefohlenen in den Tod zu gehen, wie Janusz Korczak im Vernichtungslager Treblinka, oder jener unbekannte deutsche Wehrmachtsoldat, der bei der Hinrichtung polnischer Partisanen seine Waffe wegwarf und sich in die Reihe der Partisanen stellte. Hier haben wir es mit einer ultima ratio zu tun, die für die Standhaftigkeit des individuellen Gewissens steht, das sich weder beugen noch brechen läßt.
Solche Menschen stehen für ein höchstes Gut, für das Gute schlechthin, das es sonst nirgends im Leben der Menschen gibt, weil wir alle unsere Kompromisse machen oder weil wir uns Ausnahmen erlauben, mit denen wir unser Gewissen zwar belasten, aber ansonsten mehr oder weniger gut damit leben. In den Tod müssen wir dafür nicht gehen. Und auch sonst können wir, so lange wir leben, unserer selbst nie sicher genug sein, ob wir in der einen oder anderen Situation nicht doch mal die Kontrolle verlieren werden, so sehr wir uns auch sonst immer an die Regeln halten. Auch Kant wußte schon, daß der Mensch ein krummes Holz ist und in all seiner Freiheit jederzeit dem Bösen zugänglich.
Wir können also jederzeit auch anders, und das ist ein Grundmerkmal unserer Menschlichkeit. Deshalb gibt es keine definitiv und ein für allemal guten Menschen. Es sei denn angesichts des eigenen Todes: als ultima ratio.

Volk:

Es ist in unserer bundesdeutschen Gesellschaft viel von „Zivilgesellschaft“ die Rede. Ich halte viel von diesem Wort, weil ich davon ausgehe, daß die Zivilgesellschaft etwas ist, das sich vom Staat unterscheidet und über keine eigene institutionelle Macht verfügt. Sie ist eine reflektierte Form der Öffentlichkeit, die die Öffentlichkeit für eine demokratische Einrichtung hält, die es wert ist, verteidigt zu werden. Sie ist eine Verteidigungsform der Nicht-Mächtigen und tritt für die Rechte der Ohnmächtigen ein. Dazu bedarf es des Mutes. Für diesen Mut steht das Wort „Zivilcourage“.
Allerdings geschieht bei dieser Verteidigung der Ohnmächtigen etwas Seltsames: die Bürger werden dazu aufgefordert, Zivilcourage zu zeigen. Das ist ein Problem. Denn den Mut aufzubringen, in einer schwierigen, gewaltförmigen Situation für Schutzlose einzutreten und dabei seine eigene Unversehrtheit zu riskieren, ist etwas sehr Persönliches; nichts was man billigerweise von anderen als sich selbst fordern kann. Noch problematischer ist allerdings, in diesem Zusammenhang zwischen den ‚anständigen‘ und den ‚unanständigen‘ Deutschen zu unterscheiden. Denn jetzt wird im Namen der Zivilgesellschaft exkludiert: niemand Bestimmtes, aber alle möglichen ‚Anständigen‘ entscheiden jetzt darüber, wer dazugehört und wer nicht. Und das ist genau das Phänomen, was ich hier als „Volk“ bezeichnen möchte. Ich habe den Verdacht, daß, weil man in Deutschland aus guten Gründen nicht mehr so einfach vom „Volk“ sprechen kann, die Zivilgesellschaft zum Volkersatz geworden ist.
Dabei soll das ‚Volk‘– bzw. die Anständigen – immer in der Mehrheit sein, auch dann wenn sich diese Mehrheit nicht artikuliert, bei Wahlen zuhause bleibt und auch nicht demonstrieren geht und keine politischen Veranstaltungen besucht; denn dann ist es eben die schweigende Mehrheit. Seit Nazi-Deutschland, seit den Volksgerichtshöfen und völkischen Expansionsabenteuern, seit der rassistisch begründeten Massenvernichtung ‚volksfremder‘ Elemente, wurde und wird heute wieder auf diese Weise ‚Politik‘ betrieben: das Volk muß als Begründungsinstanz für jede Schweinerei herhalten, die sich kranke Gemüter auszudenken vermögen.
Dabei hat das Wort ‚Volk‘ viele Bedeutungsebenen: in der Aufklärung stand das ‚Volk‘ als Kollektivindividuum zwischen Einzelindividuum und Menschheit, und die Gemeinschaft der ‚Völker‘ arbeitete am Weltfrieden. Dafür bedurfte es aber einer staatlichen Repräsentanz, also des Nationalstaats, was schon viele Völker ausschloß, die nicht das Glück hatten, auf ein klar abgrenzbares Territorium beschränkt zu sein. Sie kamen dann in der Gemeinschaft der Völker einfach nicht vor. Besonders schlimm traf es die Juden, die eigentlich die Urform des religiös aufgeladenen Volksbegriffs verkörpern. Dieser Volksbegriff wendete sich nun gegen sie und wurde schlicht zum Synonym für Antisemitismus.
In den heutigen Demokratien, auch in der Bundesrepublik Deutschland, ist das ‚Volk‘ die verfassungsgebende Gewalt. Die Gerichte berufen sich bei ihren Urteilen auf das ‚Volk‘. Wir haben es aber, wie gesagt, mit einer reinen Fiktion zu tun, wie bei dem Wort ‚Gott‘ in der Präambel des bundesdeutschen Grundgesetzes. Letztlich muß sich auch das Grundgesetz vor dem ‚Volk‘ schützen, oder zumindestens vor dessen Repräsentanten, insofern eine Zweidrittelmehrheit nötig ist, um es zu ändern. Also auch hier haben wir die Vorstellung, daß das Volk irgendwie in der Mehrheit der Bevölkerung besteht.
Wir sind Bürgerinnen und Bürger auf dem Boden des Grundgesetzes, solange sich keine Zweidrittelmehrheit findet, es abzuschaffen. Mehr hat es mit unserer Zivilgesellschaft nicht auf sich. Und solange wir diesen Glücksfall in der deutschen Geschichte genießen dürfen, sollten wir offen sein für eine Debatte, die niemanden ausschließt, nur weil die ‚Falschen‘ ihr oder ihm applaudieren.

Vollzug:

Der ‚Vollzug‘ ist ein phänomenologischer Begriff. Er meint all jene Bewußtseins- und Lebensvollzüge, bei denen das bewußte ‚Ich‘ nicht dabei ist, im Sinne der transzendentalen Apperzeption. Zu solchen Vollzügen zählen z.B. Einschlafen und Aufwachen. Wir schlafen ein, ohne daß wir diesen Akt denkend begleiten können. Zugleich bilden Vollzüge aber die Basis, auf der Bewußtseinsakte überhaupt möglich werden. Auch die Lebenswelt bildet so einen Vollzug.
In der Neurobiologie wird der Unterschied zwischen einem Bewußtseins- und Lebensvollzug auf der einen Seite und Bewußtseinsakten auf der anderen Seite nicht beachtet. Neurobiologen versuchen immer wieder, Bewußtseinsakte auf Lebensvollzüge im Gehirn zurückzuführen. Damit geraten sie in die Fallstricke der Homunkulusproblematik. Die Subjekt-Objekt-Differenz (S/P-Struktur) von Bewußtseinsakten verleitet dazu, Bewußtseinsvollzüge wie etwas Gegenständliches zu behandeln, also im Gehirn nach Neuronen bzw. neuronalen Bereichen zu suchen, die dem Bewußtseinsakt des ‚Ich denke‘ korrelieren. Im nächsten Schritt werden dann diese korrelierenden Bereiche mit dem Bewußtseinsakt des Ich-denke gleichgesetzt. So werden neuronale Netzwerke und sogar einzelne feuernde Neuronen zu Homunkuli. Dabei kann man aber nicht mehr stehenbleiben, denn das das Ich-denke denkende Ich verlangt nach einem zugrundeliegenden Ich, das das Ich-denke denkende Ich denkt. Es entsteht ein unendlicher Regreß bis in den molekularen und subatomaren Bereich.
Tatsächlich gibt es aber weder den Vollzug noch das Ich-denke begründende Strukturen, auf die er bzw. es zurückführbar wäre. Der Vollzug bildet vielmehr für sich selbst ein Ganzes, im Sinne des Gestaltbegriffs. Bewußtseins- und Lebensvollzüge bilden ein Ganzes des Erlebens und des Wahrnehmens. Wir sind immer schon darin involviert; jenseits des ‚Ich-denke‘ gibt es kein Außen dazu.

Wahrheit:

Das Problem mit der Wahrheit ist, daß mit ihr gerne Monopolansprüche auf Geltung behauptet werden: nur diese Wahrheit ist wahr, und alles andere ist falsch! Wenn aber die Wahrheit nicht so in Worte gefaßt wird, daß sie die ganze Fülle des Menschseins umfaßt, dann kann sie eigentlich nur falsch sein.
Es mag einen gewissen methodischen Sinn haben, Thesen so stark zu machen, daß man sie als Wahrheiten deklariert. Man kann sie auf diese Weise gut nach allen Seiten abgrenzen. Man kann dann unter dem Anspruch, der Wahrheit auf der Spur zu sein, aus so einer These ein ganzes Gedankensystem entwickeln. Z.B. daß Arbeit eine Ware ist. Das Ergebnis ist dann der Marxismus. Aber damit ist immer eine philosophische Verführung verbunden. Man ist schnell versucht, dieses System für das einzig Wahre zu halten.
Die systematische Ausarbeitung einer These macht aber nur Sinn, wenn man dabei an eine Grenze kommt, an der die These in ihr Gegenteil umschlägt, so daß jetzt plötzlich das Gegenteil wahr ist. Und jetzt muß man sich natürlich mit dieser gegenteiligen These befassen, bis man schließlich auch an deren Grenze kommt. Das nennt man dann Dialektik.
Ein Beispiel: die Lebensphilosophie stellt das Leben in den Mittelpunkt ihres Denkens und bewertet alles Menschliche aus dieser Perspektive. Nietzsche war so ein Lebensphilosoph. Viele seiner radikalen Thesen standen im Zeichen des Lebens als einzigem gültigen Wert. Darauf beruht auch sein Gedanke vom Übermenschen. Dieser Gedanke war dann für die Nationalsozialisten sehr brauchbar.
Die Gegenthese zur Lebensphilosophie wurde dann von Heidegger vertreten: der Tod sollte das Grundprinzip der menschlichen Existenz bilden. Wer sich nicht in eine bewußte Todesbereitschaft einübt, führt ein uneigentliches, fremdbestimmtes Leben. Die Radikalität, mit der Heidegger den Todesgedanken zuendedachte, machte ihn anfällig für den Nationalsozialismus.
Zum Leben gehört der Tod. Erst beides zusammen macht sie zu einer Wahrheit für den Menschen. Aber auch diese Methode ist keine Methode der Wahrheit. Hegel war jemand, der glaubte, die Dialektik sei ein Wahrheitsprinzip. Er glaubte, mit ihrer Hilfe die Wahrheit auf den Begriff bringen zu können, indem er methodisch These und Antithese in ein System überführte. Aber alles, was er damit erreichte, war, daß er die Wahrheit als ein System aufstellte, in dem sich, entgegen der dialektischen Methode, nichts mehr bewegte. Alles, was überhaupt passieren kann, ist in diesem Gedankensystem schon festgelegt. Leben und Denken kommen zum Stillstand.
Wahrheit ist also keine These; und auch keine Gegenthese. Wahrheit ist kein Monopol, sondern, mit Hannah Arendt gesprochen, eine Pluralität (Gesellschaft). Sie ist die ganze Vielfalt des Denkens. Wahrheit ist die Bereitschaft, sich auf dieses Denken einzulassen.

Wille:

Ich begann mit der Philosophie, indem ich über den Willen nachdachte. Der Grund ist simpel: ich wußte nicht, was ich wollte. Und ich weiß es bis heute nicht. Ich habe viel metaphysisches Brimborium um diesen Willen gemacht; ähnlich wie Schopenhauer, den ich bewunderte. Aber letztlich habe ich den Willen doch mit meinen Bedürfnissen und aus ihnen herausragend: mit dem sexuellen Begehren gleichgesetzt. Da mir das alles zuviel wurde und ich denkerisch damit nicht zurandekam, habe ich mich schließlich an den Begriff der Intentionalität gehalten. Die Intentionalität bringt all unser Wollen auf eine simple Formel: ich will/denke/fühle/strebe nach etwas. Der Wille löst sich dabei in vielfältige Formen des Bezugs unseres Bewußtseins auf seine Gegenstände auf.
Da spielte auch ein zunehmendes Mißtrauen gegen den Willensbegriff selbst eine Rolle. Von meiner katholischen Erziehung her argwöhnte ich, daß die ganze Willensmetaphysik, die ich bislang betrieben hatte, ein Echo auf die christliche Gottesvorstellung bildete: es gibt nur einen guten Willen, und das ist der Wille Gottes, dem die Gläubigen sich willig zu unterwerfen hatten. Nichts durfte man selbst wollen; immer nur das, was wir wollen sollten.
Nun hat Hannah Arendt in ihrem zweiten Band von „Vom Leben des Geistes“ (1979) diesen Verdacht bestätigt. Sie schreibt, daß es die Vorstellung von einem eigenen Willensvermögen, ähnlich dem Denkvermögen, erst mit dem Beginn des Christentums gegeben habe, und daß wir es hier, wie sie schreibt, mit einer ‚Entdeckung‘ des Christentums zu tun haben. Ich tendiere allerdings dazu, beim Willen nicht von einer‚Entdeckung‘, sondern von einer ‚Erfindung‘ des Christentums zu sprechen. Den Willen gab und gibt es Arendt zufolge in dreierlei Form: als physische Bewegungsfreiheit und als Wahlfreiheit; diese beiden Variationen des heutigen Willensbegriffs kannten schon die antiken Griechen und die Römer, die über verschiedene Begriffe dafür verfügten. Sie waren noch nicht von einem eigenen Willensvermögen ausgegangen.
Die dritte Form des Willens besteht in der individuellen Spontanität, die den Menschen dazu befähigt, in einer schon fertigen und ihren Gang gehenden Welt einen Anfang zu setzen. Hier geht es um die geistige Unabhängigkeit des Menschen von der Kausalität und um sein Vermögen, eine neue Reihe von kausalen Begebenheiten zu beginnen. Um diese Variante des Willensvermögens geht es Hannah Arendt. Sie verbindet sie mit der Natalität. So wie wir als Kinder in eine Welt hineingeboren werden, die es schon vor uns gegeben hat, sind wir als Individuen in der Lage, unabhängig von dieser Welt einen Anfang zu setzen bzw. zu handeln.
Ich sehe das inzwischen etwas anders. Ich glaube zwar auch, daß wir mit unserer Geburt und auch später als Individuen exzentrisch zur Welt positioniert sind und damit freigesetzt sind zu handeln, also unabhängig von der bisherigen Kausalität. Ich bezweifle allerdings, daß es dazu eines von unserem Denkvermögen unterschiedenen eigenen Willensvermögens bedarf. Ich halte entsprechende Annahmen sogar für gefährlich. Denn sobald wir von einem eigenständigen Willensvermögen ausgehen, setzen wir dieses Vermögen mit logischer Zwangsläufigkeit in Widerspruch zu unseren Neigungen und Bedürfnissen. Der Unterschied zwischen „Wille und Neigung“ (vgl. Arendt 1979, Bd.2, S.56) ist der erste Schritt zu einem Willen, der sich gegen sich selbst richtet!
Statt von einem solchen eigenständigen Willensvermögen sollten wir lieber von einem Denken ausgehen, das anders, als viele Philosophen meinen, keinen Gegensatz zum Wollen bildet. Arendt spricht im ersten Band von „Vom Leben des Geistes“ (1979) von dem denkenden Zwiegespräch mit sich selbst, einer Form der Gewissensprüfung, u.a. auch hinsichtlich dessen, was wir wollen. Es ist ein Denken, das sich auf unsere Bedürfnisse und auf unser Begehren richtet. Wir könnten den Willen geradezu als ein auf unsere Bedürfnisorganisation gerichtetes Denken beschreiben. Er bezeichnet dann eine individuelle Kultivierung unserer Bedürfnisse. Wie wir unsere Bedürfnisse organisieren, also in ihrer Gesamtheit untereinander gewichten und ordnen, auf einen Zweck hin oder auf einen Sinn hin (was nicht dasselbe ist) – das ist der Wille. Nur so verhindern wir, daß wir uns oder anderen bei der Befriedigung unserer Bedürfnisse schaden. Und nur so verhindern wir, daß sich unser Wille gegen uns selbst richtet.
Wir kennen unseren Willen also nicht, bevor wir unsere Bedürfnisse kennen und sie organisiert haben. Dabei hilft das Denken. Das Denken, das wir auf unsere Bedürfnisse richten, ist der Wille; eine Form der Achtsamkeit. Und, wenn alles gut geht, auch eine Form der Liebe.

Wissenschaft:

Die Wissenschaft ist nicht einfach die Wissenschaft, wie man es in der Corona-Krise im Eifer ihrer Verteidigung gegenüber den ‚Querdenkern‘ immer darstellt. Denn auch Fakten sind nicht einfach Fakten.
Da ist zunächst einmal die ewige Zweiteilung der Wissenschaft in Natur- und Geisteswissenschaften, von denen die einen ihr Wissen auf Falsifikationsprozeduren, die anderen auf Plausibilisierungsstrategien zurückführen. Deshalb sind auch Empirie und Fakten in beiden Wissenschaftsbereichen nicht dasselbe.
Dann gibt es noch bestimmte Modeerscheinungen hinsichtlich der gerade angesagtesten Disziplinen, mal die Evolutionsbiologie, mal die Hirnforschung, mal die KI-Forschung; und gleichgültig wie weit man in der Wissenschaftsgeschichte zurückgeht – immer stößt man auf die eine und andere Disziplin, die gerade den Ton vorgibt, an dem sich alle anderen orientieren.
Schließlich gibt es noch die Wissenschaftler selbst, von denen viele nicht durch Interesse an der Sache, sondern an einem möglichst effizienten Sponsorenmanagement auffallen. Sie jonglieren gerne mit jenen Begrifflichkeiten herum, die gerade angesagt sind (s.o.), aber nicht unbedingt etwas mit dem Forschungsbereich zu tun haben, für den sie eigentlich zuständig sind. Oft wird dieses Verhalten mit Interdisziplinarität verwechselt.
Nicht vergessen darf man auch noch die weit verbreitete außeruniversitäre Wissenschaftsszene, die sich mit Begeisterung für alles einsetzt, was sich als wissenschaftliche Rationalität ausgibt; die aber entweder vergessen hat oder es nie gewußt hat, daß der Zweifel an dem, was als gesichertes Wissen gilt, das tägliche Brot jedes ernstzunehmenden Wissenschaftlers ist.
Man argumentiert gerne zugunsten der Wissenschaft, daß all diese Unzulänglichkeiten des Wissenschaftsbetriebs aufs Ganze gesehen nichts daran ändern, daß es einen Fortschritt im Wissen gebe. Das ist allerdings nur ein schwacher Trost für den Schaden, den diese je aktuellen Unzulänglichkeiten anrichten und der oft nicht mehr gutzumachen ist. Was z.B. haben die Contergan-Geschädigten mit ihren Gliedmaßenfehlbildungen davon, daß die Wissenschaft später ihren Irrtum eingesehen hat?
Außerdem gibt es einen schon seit langem andauernden, technologisch auf Innovation und Anwendung ausgerichteten Prozeß, in dem die Naturwissenschaften ein Bündnis mit einem kapitalistischen Wirtschaftssystem eingegangen sind und der seit dem 19. Jhdt. die Geisteswissenschaften praktisch bedeutungslos gemacht hat. Hier kann man nicht mal aufs Ganze gesehen von einem Fortschritt sprechen.
So hat die Wissenschaft also viele Gesichter, und der gebildete Laie muß sich seines eigenen Verstandes bedienen, will er die Spreu vom Weizen scheiden. Um so trauriger ist es, daß das Wort ‚Querdenker‘ in der Corona-Krise so korrumpiert worden ist und sich auch diejenigen verdächtig machen, die auf das Selberdenken nicht verzichten wollen.

Zeit:

Man könnte von unterschiedlich vielen Zeitebenen ausgehen, aber ich beschränke mich hier auf fünf, von denen drei unmittelbar für jeden lebenden Menschen relevant sind. Auf diese drei Zeitebenen bin ich schon zu sprechen gekommen (philosophische Anthropologie, Entwicklungslogiken). Unter dem Stichwort Zeit will ich versuchen, die drei menschlichen Zeitebenen in eine umfassendere Perspektive einzuordnen.
Beginnen wir mit der umfassendsten Ebene: der kosmologischen Zeit. Sie umfaßt Anfang und Ende des Universums und entzieht sich dem menschlichen Verstand völlig. Unabhängig davon, ob wir uns für Horoskope interessieren oder nicht, ist sie für das menschliche Leben gänzlich irrelevant. Unser Existenz ist in keiner Weise mit der Existenz des Weltraums verbunden. Die lebensfeindliche Ödnis der kosmologischen Zeit gewährt dem Menschen keinen Aufenthalt, sondern droht ihm mit sofortiger Vernichtung.
Die geologische Zeit ist die Zeit der Erde, die lange, bevor es Leben auf ihr gab, mit Hilfe der Plattentektonik die Voraussetzung für Leben und damit auch für menschliches Leben schuf. Sie verwandelte die lebensfeindlichen Auswirkungen des Weltraums und der Sonne in lebenschaffende Faktoren um. Das ist die eine, den Menschen betreffende Bedeutung der geologischen Zeit. Die andere besteht in der neuen geologischen Epoche des Anthropozäns, deren Botschaft an den Menschen darin besteht, daß er begonnen hat, sich selbst abzuschaffen, und daß das, was von ihm bleiben wird, strahlender Giftmüll und verbrauchte Ressourcen sind.
Umfaßt die kosmologische Zeit astronomische Dimensionen, eine die Grenzen des menschlichen Verstandes sprengende Unendlichkeit, so ist die geologische Zeit der Erde schon kürzer, unserem Verstand gemäßer, und aus ihr geht die biologische Zeit hervor; die letzten 500 Millionen Jahre. Das ist die Zeit der menschlichen, auf Zellen basierenden Physiologie, und davon wiederum umfassen die letzten 7 Millionen Jahre die Entwicklung unserer Anatomie. Die biologische Zeitebene beinhaltet zusammen mit den anderen Zeitebenen – der kulturellen (die letzten 12.000 Jahre; das Neolithikum) und der individuellen Zeitebene (die 30 bis 70 Jahre einer Generation bzw. eines konkreten Menschen zwischen Geburt und Tod) – eine konfligierende Dynamik, in der sich unterschiedliche Entwicklungsgeschwindigkeiten gegenseitig zu dominieren versuchen. Die modernen Zivilisationskrankheiten sind Ausdruck dieses die drei Zeitebenen umfassenden Konflikts.
Die kulturelle Entwicklungsdynamik hat auf technologischer Ebene zu einer Beschleunigung der Epochenumbrüche geführt, die so etwas wie eine individuelle Biographie extrem behindert, und die damit auch die individuelle und politische Verantwortung für den Wechsel der Generationen außer Kraft zu setzen droht. Eine gleichermaßen gesamtgesellschaftliche wie globale Verantwortung für den Fortbestand des Menschen auf diesem Planeten muß erst wieder lernen, mit den drei Zeitebenen zu rechnen. Auf keinen Fall darf sie auf den Ausweg verfallen, seine Zukunft im Weltraum zu suchen.

Zweitpersonalität:

Den Begriff der Zweitpersonalität habe ich von Michael Tomasello übernommen, der sich wiederum auf andere Autoren wie z.B. Stephen Darwall (2006) beruft. Tatsächlich reicht die Geschichte dieses Begriffs viel weiter zurück. Der erste, der meines Wissens einen ausgereiften, originellen Begriff der ‚Zweiheit‘ entwickelt hat, ist Wilhelm von Humboldt mit seiner Schrift „Ueber den Dualis“ (1828). Ein weiterer Protagonist der Zweitpersonalität war Ludwig Feuerbach („Das Wesen des Christentums (1841)), der das Verhältnis von Ich und Du als Liebesverhältnis beschreibt, was meiner Vorstellung zwar nicht hundertprozentig entspricht, aber doch sehr nahekommt. Erwähnenswert ist hier noch Martin Bubers Buch „Ich und Du“ (1923), in dem er das ‚Du‘ mystisch überhöht und als einen Gottesbezug des ‚Ich‘ beschreibt, auf den das mir (‚Ich‘) begegnende, menschliche ‚Du‘ verweist. Also ‚Gott‘ via ‚Du‘? Hier ist wohl eher nicht von einem Ich = Du auszugehen. Bubers ‚Du‘ gleicht Emmanuel Levinassens Antlitz, zu dem wir in einer ähnlichen ethischen, nicht-reziproken Beziehung stehen. Von einer wechselseitigen Zweitpersonalität im Sinne des Humboldtschen Dualis kann keine Rede sein.
Eine interessante Variante zur Zweitpersonalität bildet Hannah Arendts „Zwiegespräch“, das wir mit uns selbst führen und in dem wir uns uns selbst gegenüber, Ich = Ich, als einem Gewissen verhalten. In diesem Sinne können wir mit uns selbst befreundet oder befeindet sein, letzteres im Sinne eines schlechten Gewissens. Arendt vergleicht dieses Mit-sich-selbst-befreundet-sein mit der Freundschaft zwischen zwei Menschen, also als eine Form des Ich = Du und damit im gewissen Sinne als eine Ableitung aus der Zweitpersonalität, und sie bezeichnet sie als ‚Dualität‘.
Ich habe Tomasellos Zweitpersonalität immer im Humboldtschen Sinne verstanden, nämlich in seinem Kern basierend auf der Bedeutungsidentität von Ich und Du: Du ist nicht nur ein Gegenüber von ‚Ich‘, sondern es wird in der Ansprache selbst als ein vollgültiges ‚Ich‘ aufgefaßt, dem eine dem ansprechenden ‚Ich‘ gleichwertige Personalität zuerkannt wird. Du = Ich!
Ich glaubte mich zu dieser dyadischen Auffassung der Tomaselloschen Zweitpersonalität deshalb berechtigt, als Tomasello in seinen früheren Schriften den Vertrauensvorschuß zwischen zwei Personen hervorhob. Wo immer jemand eine andere Person anspricht, vertraut die angesprochene Person auf die Redlichkeit der sprechenden Person. Dieses Vertrauen hat ihren Ursprung in dem Ich = Du. Daß jemand es nicht gut meinen könnte mit mir, kommt mir nicht in den Sinn. Erst die schlechte Erfahrung läßt mich irgendwann mißtrauisch werden. Aber selbst dann fallen wir immer wieder in das naive Vertrauen zurück, wenn wir mal nicht ‚aufpassen‘. Mißtrauen ist anstrengend!
In seinen späteren Büchern spielt dieses Grundvertrauen immer weniger eine Rolle. Stattdessen hebt Tomasello, wie in seinem neuesten Buch „Mensch werden“ (2020), immer mehr die drittpersonale Qualität der Zweitpersonalität hervor. Die Zweitpersonalität ist keine Geselligkeitsform aus eigenem Recht mehr, die sich auf einer anderen Ebene als die Drittpersonalität abspielt, sondern sie funktioniert nach denselben Regeln wie die Drittpersonalität, also nach dem Prinzip einer von der personalen Individualität unabhängigen Beobachtung und Beurteilung der Beteiligten durch eine dritte Instanz. Jetzt bildet die Zweitpersonalität nur eine Drittpersonalität für zwei Personen. Das entspricht nicht mehr dem Dualiskonzept von Humboldt, dem ich hier den Vorzug gebe.
(Vgl. hierzu auch „Abschließendes zu Tomasello“)

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