tag:blogger.com,1999:blog-25865553236214301112024-03-19T11:10:55.623+01:00Erkenntnisethik„Wenn schon eine ganze Welt, auf Erkenntnis beruhend und ihrer ständig bedürftig, errichtet ist und ihren Gang geht, wie die der modernen Technik, wird der nach dem Grund ihrer Möglichkeit und nach ihren Sicherheitsgarantien Fragende zum Sokrates der Vergeblichkeit.“ (Blumenberg, Höhlenausgänge, S.169)Detlef Zöllnerhttp://www.blogger.com/profile/13781633811318837703noreply@blogger.comBlogger1164125tag:blogger.com,1999:blog-2586555323621430111.post-79587845235615657732024-03-07T00:30:00.070+01:002024-03-07T18:43:50.963+01:00Ich = Du. NachtragIch hatte mich früher immer gefragt ‒ im Grunde seit dem Ende meiner Kindheit ‒, wie es kommt, daß ich Ich bin. Ich konnte diese Frage nicht mit meiner Geburt, als dem Beginn der Ich-sagenden Lebensform, die ich bin, beantworten. Es genügte mir nicht, mein, wie ich es empfand, einzigartiges, unvertretbares Ich auf das Zusammentreffen einer Samen- und einer Eizelle zurückzuführen. Selbst wenn ich alle Details, alle Daten, die mich betreffen, überblicken und wissen könnte, würde ihre vollständige Gesamtheit, ihr ,Big Data‛, nicht im geringsten erklären, warum ich als Ich ausgerechnet mit diesem Körper und mit dieser konkreten personalen Existenz verbunden war.<br/><br/>
Deshalb könnte man mich auch nicht klonen, denn dieser Klon wäre wieder ein einzigartiges, unvertretbares Ich und nicht ich. Er wäre nicht dasselbe Ich im selben Körper, nur eben an einem anderen Ort; an einer anderen Raum-Zeit-Stelle. Wie kommt also dieser Klon zu diesem Ich, das wie ich unvertretbar einzigartig ist und deshalb so wenig ich ist, wie ich er bin?<br/><br/>
Tatsächlich ist der einzige Unterschied zwischen ihm und mir nur ein marginaler und trotzdem alles entscheidender: er besteht in der Verschiedenheit seiner Raum-Zeit-Stelle zur Raum-Zeit-Stelle, die ich mit meiner physischen Präsenz ausfülle. Solange diese Raum-Zeit-Stellen nicht zu einer einzigen verschmelzen, können wir Du zueinander sagen.<br/><br/>
Letztlich läuft die Frage, warum überhaupt etwas ist und nicht nichts, auf die Frage hinaus, warum überhaupt etwas ist. Das Nichts ist nur ein angehängtes Nichts; ein Wort ohne Inhalt. Ein überflüssiges Anhängsel, das viel Metaphysik impliziert. Also heiße Luft.<br/><br/>
Aber auch die Frage nach dem Sein ist nur sinnvoll in Bezug auf ein Bewußt-Sein. Also auf ein Subjekt, Ich, das diese Frage stellt. Wer sonst sollte sie stellen?<br/><br/>
Also richtet sich die Frage nach dem ,Warum‛ des Seins letztlich auf dieses Ich-Bewußtsein. Wie kommt es, daß ausgerechnet ich in diesem Körper stecke und nicht irgendjemand anderes? Das ist die Frage, mit der meine Kindheit endete, auf die dann auch prompt weniger erfreuliche Lebensphasen folgten.<br/><br/>
Diese Frage kann eigentlich nur von jemandem beantwortet werden, der ebenfalls Ich sagen kann, ohne ich zu sein. Oder anders: diese Frage wird in dem Augenblick überflüssig, wo jemand, der Ich sagen kann, ihr oder sein Du in mir erkennen kann. In diesem Moment wird die Frage nach dem ,Warum‛ des Ich überflüssig, weil es erkennt, das der Sinn von Ich nicht in ihm selbst zu finden ist, sondern in jenem Ich, daß Du zu ihm sagt.<br/><br/>
Meine Formel Ich = Du entspricht mehr oder weniger Martin Bubers Dialogischem Prinzip, das auf einer ähnlichen Verhältnisbestimmung von Ich und Du basiert. Allerdings kennt er nur diese zwei Grundworte Ich-Du und Ich-Es. Ich-Wir, also die ganze gesellschaftliche Dimension, wird von ihm dem Ich-Es subsumiert und nicht als eigenständiges Grundwort ausgeführt. Aber darauf werde ich in einem späteren Blogpost, in dem ich unsere Positionen nochmal genauer differenzieren werde, zurückkommen.<br/><br/>
Das Dialogische Prinzip von Martin Buber und der Körperleib von Helmuth Plessner bilden letztlich Korrekturbegriffe zum „cogito ergo sum“ von Descartes, das, wie Keiji Nishitani schreibt, die „lebendige innere Verbindung“ der natürlichen Welt „zum Ich“ aufgelöst und zu einer Subjekt-Objekt-Spaltung geführt hat:<br/>
<blockquote>„Jedes Ich wurde wie eine einsame Insel, die auf einem Meer toter Materie trieb, und gezwungen war, in der Abgeschlossenheit ihrer selbst zu verharren. Das Leben verschwand aus der Natur und den natürlichen Dingen und hörte auf, das lebendige Band zu sein, das den Menschen und die Weltdinge im Grund zusammengehalten hatte.“ („Was ist Religion?“ (1986), S.52)</blockquote>
Das steckt hinter dem Mißtrauen gegen jede Form von ,Bewußtseinsphilosophie‛, wie sie Vertreter der Kritischen Theorie gehegt haben. Aber ihre Verbindung von Gesellschaftstheorie und Psychoanalyse macht die Sache nicht besser. Der Decartessche ,Kartesianismus‛ ist einer der Hauptgründe für die Subjektvergessenheit, wie sie die Philosophie des 20. Jhdts. durchgängig geprägt hat. Es bedarf einer Phänomenologie der Unwesentlichkeit, um diese Aversion zu überwinden.Detlef Zöllnerhttp://www.blogger.com/profile/13781633811318837703noreply@blogger.com0tag:blogger.com,1999:blog-2586555323621430111.post-23583570362955878522024-03-06T00:30:00.032+01:002024-03-06T00:30:00.149+01:00„Das Sein kann und will von sich nicht lassen.“1. Mißbrauchserfahrungen<br/>
2. Der Schein und die Phänomenologie<br/>
3. Bewußt-Sein<br/>
4. Menschenfreundschaft<br/>
5. Grundloser Wille<br/>
<b>6. Ich = Du</b><br/><br/>
Eine Bemerkung von Lütkehaus über Eduard Hartmann hat das Potenzial, meine Formel Ich = Du zu dekonstruieren. Tatsächlich steht mir immer das Geschlechterverhältnis (Begehren) als Modell für diese Formel vor Augen. Hartmann entlarvt das Gleichheitszeichen als eine phallozentrische Rollenverteilung, in der ein männlicher Wille (Begehren) nach einer „Lebensgefährtin“ sucht, die „ihm scheinbar zu Willen“ ist, ihn aber „in der Folge nur zu seinem eigenen Besten ... mit ihren indirekten Mitteln zum Nullpunkt des Nichts“ zurückführt. (Vgl. Lütkehaus 1999, S.235)<br/><br/>
Zum Nullpunkt des Nichts also. Keine besonders beneidenswerte Rollenzuschreibung für das weibliche Geschlecht. Von womöglich noch peinlicheren Entgleisungen weiß Lütkehaus über Jean-Paul Sartre zu berichten: „Wie sehr die erotischen, die Paar-Metaphern dabei wörtlich zu nehmen sind, zeigt Sartres ,existentielle Psychoanalyse‛. Die stupende Hommage an das ,Loch‛, die sie anstimmt, meint nicht etwa eine metaphysische Obszönität, sondern eine erotische Ontologie, eine ,Ontoerotik‛ als neueste Metamorphose der ,Ontotheologie‛.“ (Lütkehaus 1999, S.471)<br/><br/>
Ich will Lütkehausens weitere Entfaltung der ontoerotischen Dimension des Lochs an dieser Stelle nicht weiter fortsetzen. Begriffe wie Kluft und Lücke, und letztlich Plessners „Hiatus“ würden sich in pure Pornographie verwandeln, also eben doch in eine metaphysische Obszönität. Ich könnte mich in diesem Blog nicht mehr, ohne rot zu werden, über die exzentrische Positionalität des Menschen äußern. Letztlich würde sich sogar das Gleichheitszeichen zwischen Ich und Du als eine ontoerotische „Mésalliance“ (vgl. Lütkehaus 1999, S.236) erweisen.<br/><br/>
Ich werde jetzt also versuchen, meine Formel vor einer solchen Dekonstruktion zu bewahren. Wenn ich das Gleichheitszeichen verwende, denke ich an eine Gleichheit auf der Basis von Verschiedenheit, aber eben nicht im Sinne einer Rollenverteilung. Und ich will sie auch nicht auf Heterosexualität beschränken. Mit der über das Gleichheitszeichen vermittelten Gegenüberstellung von Ich und Du soll vielmehr eine Wechselseitigkeit von Bedürfnissen und gleichzeitig eine Sinnorientierung zum Ausdruck gebracht werden.<br/><br/>
Die Formel Ich = Du richtet den Willen nicht nur aus (und stabilisiert ihn), sie individualisiert ihn auch im Sinne eines Bildungsprozesses. Die ruhelose, biologisch produzierte und reproduzierte, generierte und regenerierte Begierde als allgemeines Lebensprinzip bezieht sich im Gleichheitszeichen nicht einfach nur auf ein adäquates Objekt der Befriedigung, sondern vereinzigartigt sich angesichts eines konkreten Du zum Ich. Wenn Lütkehaus schreibt: Der Wille will die Welt, wie sie ist, und sie ist, wie er sie will, weil sie seine ,Sichtbarkeit‛ ist.“ (Lütkehaus 1999, S.211) ‒ dann heißt das gemäß meiner Formel: „Das Begehren will das Du, wie es ist, und es ist, wie es ist, weil es seine wechselseitige Konkretion als Ich ist.<br/><br/>
Das ist aber keine Identitätsaussage. Die Konkretion eines Ich ist das Du nur in der Wechselseitigkeit, die wiederum die Verschiedenheit von Ich und Du voraussetzt. Mit anderen Worten: unser Begehren individualisiert sich als etwas Gemeinsames in zweierlei (oder verschiedener) Gestalt. In meinem Blog spreche ich hier immer von Zweitpersonalität oder von Dualität als einer spezifischen Sozialform.<br/><br/>
Das muß so sein, weil wir es beim Ich und Du mit Individuen zu tun haben, die ihr Leben fristen. Und sie fristen ihr Leben nur so lange, wie sie ihre Individualität behaupten. Der Tod, der Akt des Sterbens, ist die Auflösung aller Individualität; er ist die Auflösung der individuellen Gestalt. Für diese befristete Individualität, die das menschliche Leben ist, muß ein Sinn gefunden werden. Eine Antwort auf ihr Begehren. Die einzige humane Antwort auf das Begehren, solange das menschliche Leben währt, ist aber das Du.<br/><br/>
Indem Schopenhauer die Welt zum Sündenfall des Willens erklärt (vgl. Lütkehaus 1999, S.211f.), verfehlt er das Du und die Wechselseitigkeit des Begehrens. Alles Faktische einschließlich unseres Begehrungsvermögens wird zum Unglück. Mit Adorno: Es gibt kein richtiges Leben im falschen. Das Unglück, das Leid, der Schmerz sollen aber nicht sein. Der Wille, letztlich der Lebenswille, muß zum Schweigen gebracht werden. Das Ergebnis ist Annihilation, individueller und kollektiver Selbstmord. Die atomare Katastrophe bekommt einen ethischen Zweck.<br/><br/>
Soweit geht Schopenhauer natürlich nicht, abgesehen davon, daß er von der realen Verwirklichung solcher Gedankenexperimente im 20. Jhdt. noch nichts hatte wissen können. Immerhin ist es die logische Konsequenz. Aber auch das Ich = Du käme für Schopenhauer nicht in Frage, weil es, anstatt den Willen ruhigzustellen, ihm eine Richtung gibt und ihn so verstetigt. Schopenhauers Option ist die „Interesselosigkeit“, seine Wahl die Askese. Es geht ihm nur um eine solipsistische Variante der Erlösung.<br/><br/>
Aber Schopenhauer kannte und schätzte auch das Mitleid. Und was wäre denn Mitleid anderes als eine Form des Ich = Du? Was mich daran wieder besonders interessiert: richtet das (Mit˗)Leiden unseren Willen auf ein Du aus und tritt so, summarisch als Leiden gefaßt, an die Stelle des Gleichheitszeichens von Ich = Du, für das ich bislang das Begehren vorgesehen hatte? Meint das Gleichheitszeichen die Gleichheit des Begehrens (als Wechselseitigkeit) oder die Gleichheit des Mit-Leidens?<br/><br/>
Ich glaube, das Gleichheitszeichen könnte für beides stehen. Lütkehaus hebt vor allem die Dimension des Leidens, das nicht sein soll, hervor, wenn er Nietzsche zitiert: „Ja, gesetzt, das Mitleiden ,herrschte auch nur Einen Tag‛ ‒ so noch die Angstphantasie des von Schopenhauer abgefallenen Nietzsche ‒, ,so gienge die Menschheit an ihm sofort zugrunde‛ ().“ (Lütkehaus 1999, S.291f.)<br/><br/>
Hier dominiert die Unerträglichkeit eines Mitleids, die von vornherein ausschließen würde, daß es zu einer Wechselseitigkeitsbeziehung zwischen Ich und Du auch nur ansatzweise kommen könnte. Besser wäre es, sich nicht zu nahe zu kommen, denn das würde nur das potenzielle Leid qua Mitleid mindestens verdoppeln! Eine die Menschheit einbeziehende Formel würde hier also lauten: (Ich = Du) ≠ Menschheit. Eine Abschreckungsformel also. Laß dich bloß nicht auf diese Beziehung zwischen dir und der bzw. dem anderen ein!<br/><br/>
Meine Option geht in die entgegengesetzte Richtung. Für mich ist die Wechselseitigkeit der Zweitpersonalität der Ausgangspunkt für eine humane Menschlichkeit. Also: (Ich = Du) = Menschheit.Detlef Zöllnerhttp://www.blogger.com/profile/13781633811318837703noreply@blogger.com0tag:blogger.com,1999:blog-2586555323621430111.post-65805514099167799582024-03-05T00:30:00.033+01:002024-03-08T16:05:43.313+01:00„Das Sein kann und will von sich nicht lassen.“1. Mißbrauchserfahrungen<br/>
2. Der Schein und die Phänomenologie<br/>
3. Bewußt-Sein<br/>
4. Menschenfreundschaft<br/>
<b>5. Grundloser Wille</b><br/>
6. Ich = Du <br/><br/>
Ich bezeichne mich selbst als einen aufgeklärten Nihilisten. Dabei geht es mir nicht um eine metaphysische Verhältnisbestimmung von Sein und Nichts, ausgehend von der Grundfrage was besser sei, Sein oder Nicht-Sein, sondern ganz im Gegenteil um eine Absage an jede Form von Letztbegründungsversuchen. Letztbegründungen sind Sache der Metaphysik, einer philosophischen Disziplin, mit der ich nie etwas habe anfangen können. Aufgrund der Plessnerschen Verortung des menschlichen Selbstbewußtseins im Nirgendwo, einer Absage an jede letztgültige Identitätsbestimmung des Menschen, sind wir besonders anfällig für ein nicht selten zur Sucht ausartendes Verlangen nach Identität.<br/><br/>
Sich dem zu widersetzen impliziert tatsächlich einen gewissen Nihilismus. Deshalb spreche ich von einem aufgeklärten Nihilismus; ,aufgeklärt‛ deswegen, weil es hier um die Überwindung eines irrationalen Sogs unseres Denkens geht. Denn das Denken, das ja eigentlich für Rationalität steht, hat in sich die Tendenz, sich vom Gegenstand abzuwenden, indem es ihn in eine Dialektik überführt, die die ,Sache‛, um die es im phänomenologischen Sinne gehen sollte, auf der Suche nach ihrem letzten ,Grund‛ letztlich in ihr Gegenteil wendet.<br/><br/>
Arthur Schopenhauer, dessen Schriften Ludger Lütkehaus neu herausgegeben hat, hat entdeckt, daß die Frage nach dem zureichenden Grund für Alles überhaupt eigentlich nur eine sinnvolle Antwort haben kann: den Willen. Der Wille ist der Grund von allem und selber völlig grundlos. Die Frage, warum überhaupt etwas ist und „nicht lieber gar nichts“, läßt sich angesichts der Grundlosigkeit des Willens nicht mehr stellen: „Und eben das ist die Antwort.“ (Lütkehaus 1999, S.210)<br/><br/>
Damit hat Schopenhauer dem menschlichen Begehrungsvermögen die Aufmerksamkeit geschenkt, die ihm gebührt. Für das menschliche Bewußtsein gibt es nur Motive, und es sucht sich entsprechend seine Gründe, getreu der Jacototschen Formel: „Der Mensch ist ein Wille, dem eine Intelligenz dient.“ (Ranciére 2007, S.66)<br/><br/>
Der Wille des Menschen ist zumindestens teilweise, in Form der physiologisch bedingten Bedürfnisse, ein Naturphänomen. Zu einem anderen Teil entspricht er als Bewußtseinsphänomen, ebenfalls nur teilweise, der Lebenswelt. Beide, Naturphänomene und Lebenswelt, sind auf ihre Gründe hin nicht befragbar. Das Leibnizsche „Prinzip des zureichenden Grundes“, demzufolge sich ohne zureichende Begründung „keine Tatsache als wahr oder existierend, keine Aussage als richtig erweisen kann“ (vgl. Lütkehaus 1999, S.131), ist auf den Willen nicht anwendbar, weil er Schopenhauer zufolge selbst allem, was ist und geschieht, zugrunde liegt. Und der zureichende Grund ist, was Naturphänomene und Phänomene der menschlichen Lebenswelt betrifft, eine Binse, da alles was in der Natur und in der Lebenswelt geschieht, sowieso immer schon ,begründet‛ ist aufgrund des einfachen Umstands, daß es faktisch da ist und faktisch einfach geschieht. Tatsächlich aber ist diese Faktizität bloße Kontingenz und hat mit einem wohldurchdachten Begründungszusammenhang nichts zu tun.<br/><br/>
Daß in der Natur alle natürlichen Dinge gleichermaßen kontingent wie wohlbegründet einfach ,da‛ sind, läßt sich anhand der Evolutionstheorie verdeutlichen. Darwins Evolutionstheorie hatte aus naturwissenschaftlicher Perspektive das Manko, daß sich zwar die evolutionären Prozesse immer gut auf Bedingungen in der Vergangenheit zurückführen lassen, also in diesem Sinne wohlbegründet sind, daß aber Voraussagen über die künftigen evolutionären Schritte unmöglich, diese also letztlich grundlos sind; solange jedenfalls, wie sie noch in der Zukunft liegen. Das wirkt sich auch auf die schon in der Vergangenheit liegenden ,Gründe‛ aus, die man ja kennt. Denn da auch sie, bevor man sie kannte, nicht hatten vorhergesehen werden können, bleiben sie kontingent und die Evolution hätte auch eine andere Richtung nehmen können. Ohne nachprüfbare, weil nicht-kontingente Voraussagen ist die Evolutionstheorie aber keine vollständige, auf Kausalität beruhende Naturwissenschaft.<br/><br/>
Evolutionäre Faktoren sind immer nur Anlässe für Entwicklung überhaupt. Andere Antworten auf diese Anlässe wären möglich gewesen. Deshalb hat alles, was faktisch ist, seinen Grund, nur eben keinen zwingenden, und tatsächlich hat alles natürliche Leben sogar unendlich viele Gründe. Alles, was in der Evolution zuvor geschehen ist, hat zum gegenwärtigen Leben in allen seinen Erscheinungsformen geführt. Auf kontingente Weise. Wenn alles in der Natur überdeterminiert ist, ist alles in der Natur kontingent.<br/><br/>
Ähnliches gilt für die Lebenswelt. Sie ist, anders als Habermas meinte, nicht der Raum der Gründe, sondern der Raum des Sinns. Ähnlich wie die Welt der alten Griechen voll von Göttern war, ist unsere Lebenswelt voll von Sinn. Sie liefert als unbewußte Dimension des menschlichen Bewußtseins die Motive unseres Handelns, die sich mit unseren biologischen Bedürfnissen so eng verbinden, daß wir nicht in der Lage sind, sie auseinanderzuhalten. Das menschliche Bewußtsein ist durch sein Verhältnis zur Welt bestimmt. Aber zur Lebenswelt haben wir kein bewußtes Verhältnis. Wir können uns zu ihr nicht verhalten. Sie ist für unsere Fragen nach den Gründen und natürlich nach dem letzten Grund oder besser dem Sinn unseres Lebens nicht zugänglich. Deshalb ist sie auch der Raum der Sinnunbedürftigkeit. In der Lebenswelt sind Sinnfragen schlichtweg überflüssig.<br/><br/>
Zurück zum Willen. Julius Bahnsen (1830-1881) beschreibt Lütkehaus zufolge den Willen als mit sich selbst entzweit. (Vgl. Lütkehaus, S.264) ‒ Damit spricht er das Problem eines Willens an, der sich gegen sich selbst richtet. Der christliche Begriff der Sünde basiert auf dieser Entzweiung des Willens mit sich selbst. Wenn Lütkehaus in diesem Zusammenhang aber von „eine(r) einzige(n) Mésalliance von Wollen und Nicht-Wollen, Bejahung und Verneinung, Sein und Nicht-Sein, Leben und Nicht-Leben“ spricht (vgl. Lütkehaus 1999, S.264f.), dann gehen diese antithetischen Formulierungen am Phänomen eines in sich gespaltenen Begehrungsvermögens vorbei.<br/><br/>
Ich würde eher von einer Mésalliance von Wollen und Gegen-Wollen, Bejahung und Gegen-Bejahung, Sein und Gegen-Sein, Leben und Gegen-Leben sprechen wollen. Wie sonst könnte der Wille mit sich selbst entzweit sein? Dazu bedarf es wiederum eines Willens, eben eines Gegen-Willens. Denn von einem Nicht-Willen kann in der Entzweiung keine Rede sein. Der Nicht-Wille kann ja nicht wollen; nicht einmal verneinen, schon gar nicht ,sich selbst‛. Wenn wir hingegen von einer Mehrzahl von Willensakten ausgehen, die einander widerstreiten, dann kann es durchaus zur Verneinung bestimmter Willensakte durch andere, gegen sie gerichtete Willensakte kommen. Die Entzweiung geht also aus miteinander unvereinbaren Willensakten hervor und nicht aus antithetischen Entgegensetzungen.<br/><br/>
Lütkehausens Formulierung läuft auf eine Dialektik von These und Antithese hinaus, in der sich Gegensätze wechselseitig negieren. Wir haben es nicht mit einem vielfältig motivierten Wollen zu tun, sondern mit einem Denken. Das Denken ist immer nur eins. Der Wille aber ist ein ganzer Gefühlshaushalt aus unterschiedlichsten Motiven. Man muß mit ihm haushalten. Nur so hält man es mit ihm aus.<br/><br/>
Allerdings kann man durchaus wie Lütkehaus (und Schopenhauer) den Willen auch auf physiologisch bedingte Bedürfnisse zurückführen, wie etwa Hunger und Durst. Hier wollen wir vor allem die Befriedigung unserer Bedürfnisse, also daß der Wille „als Wille erlischt“. (Vgl. Lütkehaus, S.265) Aber daraus ergibt sich kein dialektischer Willensprozeß, der dem Denkprozeß als einem logischen Prozeß auseinander hervorgehender Negationen entspräche. Schon die erste ,Negation‛, also die Befriedigung des Bedürfnisses, beendet den Willen. Es kommt zu keinen weiteren Negationen und Synthesen.<br/><br/>
Anders ist das im Gefühlshaushalt. Stets streiten die konkurrierenden Bedürfnisse miteinander um unsere Aufmerksamkeit. Ständig ändert sich der Fokus auf sie, bis sich irgendwann eine Ordnung einstellt, die wichtigere Bedürfnisse von weniger wichtigen Bedürfnissen und Bedürfnisse von Begehrungen scheidet. So entsteht allmählich ein einzelner Wille als eine die anderen Willensregungen dominierende Tendenz. Diese Tendenz entspringt einem Bildungsprozeß, aus dem sich ein individuell gestalteter Gefühlshaushalt ergibt.<br/><br/>
Auch dieser Willensprozeß als Bildungsprozeß unterscheidet sich von einem Denkprozeß. Aber das Denken ,dient‛ ihm.Detlef Zöllnerhttp://www.blogger.com/profile/13781633811318837703noreply@blogger.com0tag:blogger.com,1999:blog-2586555323621430111.post-20325485264322985852024-03-04T00:30:00.049+01:002024-03-04T11:22:18.208+01:00„Das Sein kann und will von sich nicht lassen.“1. Mißbrauchserfahrungen<br/>
2. Der Schein und die Phänomenologie<br/>
3. Bewußt-Sein<br/>
<b>4. Menschenfreundschaft</b><br/>
5. Grundloser Wille<br/>
6. Ich = Du<br/><br/>
Lütkehausens Eifer, das menschenfreundliche Potenzial des Nichts als eine Befreiung aus dem Elend des Seins, das er zunächst auf den engeren Begriff des körperlichen Schmerzes und dann mit einem weiteren Horizont auf den Begriff des Leids bringt, darzulegen, mündet in einer undifferenzierten Ablehnung all jener Umstände des menschlichen Lebens, die es trotzdem irgendwie als lebenswert erscheinen lassen. Die Lust, die Liebe bis hin zu als sinnvoll erfahrenen Tätigkeiten der Lebensführung sind für ihn nur Formen der „Nichtsvergessenheit“ (vgl. Lütkehaus 1999, S.599-758), mit der er sich im kleineren zweiten Teil seines Buches auseinandersetzt. Seiner Ansicht nach täuschen sie darüber hinweg, das alle leider nur allzu kurzen schöneren Momente des Lebens nicht eine einzige Leiderfahrung wert sind:<br/>
<blockquote>„Die Singularität eines einzigen Leidens entscheidet angesichts der Gegenmöglichkeit eines völlig leidfreien, um kein Sein und schon gar kein gutes Sein betrogenes Nichts über die verfehlte Schöpfung.“ (Lütkehaus 1999, S.42)</blockquote>
Lütkehaus hält es mit dem „Waldgott Silen“, der auf die Frage, was für den Menschen das Beste wäre, antwortet, daß es das „Allerbeste“ für ihn wäre, „überhaupt ,nicht geboren zu <i>sein</i>, <i>nicht</i> zu sein, nichts zu sein. Das Zweitbeste aber () ‒ bald zu sterben.“ (Vgl. Lütkehaus 1999, S.285)<br/><br/>
Es gibt nur wenige Stellen in dem 758 Seiten starken Buch, die etwas freundlicher über das menschliche Schicksal sprechen, insbesondere in dem Kapitel zu Günter Anders, der der einzige der von Lütkehaus diskutierten Philosophen ist, den er uneingeschränkt anerkennt. Lütkehaus bezeichnet Günter Anders als engagierten „Antinihilisten“, der trotz seiner Einsichten in das nihilistische 20. Jhdt. immer ein „Menschenfreund“ geblieben ist.
Von Günter Anders übernimmt er wohlwollend, ja zustimmend Neuformulierungen des kategorischen Imperativs: „Handle so, als ob die Maxime deines Handelns jederzeit zugleich auch begründet werden könnte.“ (Lütkehaus 1999, S.585) Hier plädiert Lütkehaus also mit Günter Anders für eine humanistische Praxis des Als-ob. Dieses Als-ob entspricht dem, was ich im zweiten Blogpost zum Scheincharakter des Mensch-Weltverhältnisses mit Plessner als zweite Naivität bezeichnet habe. Humanität ist eine Illusion. Aber wir sollten so handeln, als wäre sie keine.<br/><br/>
Eine andere Formulierung des kategorischen Imperativs lautet: „Der wahre Moralist begnügt sich mit dem Vorletzten, der Wahl des mittleren, limitierten Horizontes zwischen moralischer Beschränktheit und Maßlosigkeit. Er handelt so, als ob Welt und Menschheit unter allen Umständen sein sollten und einen Sinn hätten.“ (Lütkehaus 1999, S.586)<br/><br/>
Dieser Imperativ klingt sogar ein wenig nach Hans Jonas und seinem „Prinzip Verantwortung“, das ansonsten bei Lütkehaus nicht so gut wegkommt wie die Anderssche Position. Aber bei Jonas fehlt auch die Als-ob-Haltung. Er argumentiert nicht phänomenologisch, sondern ontologisch.<br/><br/>
Jedenfalls macht Andersens Als-ob-Praxis gelebter Menschenfreundschaft deutlich, daß kein Weg von der Totalabstraktion eines, wie Lütkehaus sich ausdrückt, „nichtsigen Nichts“ zur gelebten Praxis der Menschenfreundschaft führt. Eine solche Praxis muß immer unbegründet bleiben, weil sie eben unbegründbar ist. Menschenfreundschaft gibt es nur im Zeichen des Als-ob. Deshalb frage ich mich, woher die Vehemenz kommt, mit der sich Lütkehaus gegen die Bedürfnisse, überhaupt gegen das ganze Begehrungsvermögen des Menschen richtet, zu dem ja auch das Bedürfnis nach Sinn gehört?<br/><br/>
Eine Antwort auf diese Frage habe ich schon im ersten Blogpost zu den Mißbrauchserfahrungen gegeben, die Lütkehaus mit der Sündenpraxis des Christentums gemacht hat. Diese Mißbrauchserfahrungen haben bei Lütkehaus zu einer Fixierung auf ein Nichts geführt, das er angesichts der Misere des christlichen Seins als Erlösung empfunden hatte. Aber das Nichts ist nun mal ein leerer Begriff, und, wie Lütkehaus selbst entschieden hervorhebt, solche Begriffe, denen die Anschauung fehlt, sind blind. (Vgl. Lütkehaus 1999, S.34) Wer sie verwendet, sagt mit ihnen .nichts‛. Und das sagt schon alles.<br/><br/>
Im Unterschied zu Günter Anders war Nietzsche kein Menschenfreund. Aber er war ein Lebensfreund und das hielt ihn davon ab, zugleich mit der schlechten Welt auch die Erde zu verwerfen, auf der wir leben.<br/><br/>
Aber diese ,Erde‛ wird von Nietzsche zu einem Ganzen überhöht, zu dem die Menschen keinen Bezug haben können, weil sie, wie Lütkehaus Nietzsches Position beschreibt, „totalitätsinkompetent“ seien: „Der Mensch als perspektivisch gebundenes Wesen ist hier prinzipiell unzuständig; er ist totalitätsinkompetent.“ (Lütkehaus 1999, S.330)<br/><br/>
Gerade diese perspektivische Beschränktheit müßte aber einer angemessenen Bestimmung des Mensch-Weltverhältnisses zugrundegelegt werden. Wenn wir uns ernsthaft mit dem Menschen befassen wollen, müssen wir die Frage nach seiner Sinnfähigkeit stellen und von ihr aus dem Vorwurf seiner angeblichen Totalitätsinkompetenz begegnen. Um eine angemessene Antwort auf diese Frage zu finden, müssen wir zugleich klären, was es mit seinem Sinnbedürfnis und überhaupt mit seinem Begehrungsvermögen auf sich hat. Dazu in den folgenden Blogposts mehr.<br/><br/>
Mit scheint eine gewisse Bescheidenheit angebracht zu sein, wenn wir uns mit der Frage nach dem Sinn des Lebens befassen. Jeder Versuch, den Sinn auf einen letzten Grund zurückzuführen oder ‒ was auf dasselbe hinausliefe ‒ ihn auf ein größeres Ganzes zu beziehen, das über die menschliche Lebenszeit hinausgeht, wird letztlich im Nichts münden; nämlich in einer Abstraktion. Und angesichts einer solchen Totalabstraktion erweist sich der Mensch tatsächlich nicht nur als totalitätsinkompetent, sondern eben auch als unfähig, seinem Leben einen Sinn zu geben.<br/><br/>
Fragen nach dem Sinn des Ganzen dürfen weder auf einen letzten Grund zurück- noch auch auf einen letzten Zweck vorausführen, sondern müssen sich auf die begrenzte Lebenszeit des Menschen beschränken.
Bei Nietzsche ist das anders. Er führt die „Gränze“ des perspektivischen, spezifisch menschlichen In-der-Welt-Seins nicht auf die begrenzte Lebenszeit zurück, sondern auf das alles Sein umfassende Nichts. (Vgl. Lütkehaus 1999, S.332) Er klammert den Menschen aus seiner Rechnung aus. Der Mensch ist nur noch das, was überwunden werden muß.<br/><br/>
Der Fehler in dieser Rechnung ist, daß sie nicht berücksichtigt, daß auch das menschliche Weltverhältnis für den Menschen ein Ganzes bildet, in dem er sich vorfindet als etwas, das allenfalls seinen Anfang kennt, aber nicht sein Ende, solange er lebt, bis zu dem Augenblick, wo er stirbt. Solange aber der Mensch sein Ende nicht kennt, solange er also lebt, bleibt ihm natürlich das Ganze seines Lebens, seiner Lebensführung, verborgen. Das hat aber nichts mit Inkompetenz zu tun. Es handelt sich vielmehr um eine anthropologische Grundbedingung der menschlichen Existenz. Das bedeutet wiederum nicht, daß der Mensch der Welt nicht exzentrisch gegenüber stehen könnte. Exzentrizität im Plessnerschen Sinne läuft nicht auf eine Entgrenzung der menschlichen Perspektive auf die Welt hinaus. Sie bedeutet lediglich die Nivellierung der Perspektive; eine Neutralität im Verhältnis zwischen Innen und Außen, der Welt in mir und der Welt mir gegenüber.<br/><br/>
Diese exzentrische Position ermöglicht dem Menschen ein Sinnverhältnis. Und zwar nicht zu einem Sinn für das Ganze, denn das kennt er ja nicht. Sondern zu einem Sinn im Rahmen seiner begrenzten Perspektive, also ,für sich‛. Das Für-sich ist die einzige Perspektive, in der die Frage nach dem Sinn Sinn macht und in der sie notwendig ist; lebensnotwendig. So lange wir nämlich leben und so lange wir unser Leben führen.<br/><br/>
Der Nihilismus kommt vom Leid und vom Mit-Leid. Jedes, auch das geringste Leid, rechtfertigt das Nichts. Die Lebensbejahung aber kommt vom Sinn. Jeder, auch der geringste Sinn rechtfertigt das Leben.<br/><br/>
Nur deshalb, vom Für-sich her, ist der Sinn so grundlegend für das menschliche Leben und für die menschliche Lebensführung. Sinnvolles Leben ist immer gerechtfertigt. Sinn überwindet das Leid. Innerhalb der Grenzen von Geburt und Tod überwindet Sinn auch das Nichts, aus dem wir kommen und in das wir gehen.<br/><br/>
Weil der Sinn ein Bewußtseinsbegriff ist, macht es auch keinen ,Sinn‛, ihn auf Größen wie den Weltraum, den Kosmos, zu beziehen oder ihn mit dem Nichts zu konfrontieren. Der Sinn ist selbst nichts außerhalb des subjektiven Bewußtseins und er ist für sich selbst ein Ganzes. Deshalb ist seine eigentliche Grenze auch nicht das Nichts, sondern die Sinnlosigkeit. Etwas als sinnlos zu empfinden und gar das eigene Leben als sinnlos zu erleben, ist die Bresche, durch die das Nichts an den Grenzen von Geburt und Tod mitten in unser Leben, in unser Bewußtsein hereinbricht.<br/><br/>
Die Welt des Menschen ist eine sinnhafte Welt. Sie ist eine Lebenswelt. Es gibt die Lebenswelt nur, weil wir ein subjektives Bewußtsein haben. Und Bewußtsein ist immer subjektiv. Die Lebenswelt ist nicht der Raum der Gründe, wie Habermas meint, sondern der Raum des Sinns; besser: der Raum der Sinnunbedürftigkeit. Sie ermöglicht es, daß wir weiterleben können, ohne nach dem Sinn fragen zu müssen. Sie bewahrt uns davor, daß wir bemerken, wie sinnlos unser Leben möglicherweise ist; nämlich sinnlos ,für mich‛. ,Für die Gesellschaft‛ kann mein Weiterleben durchaus äußerst sinnvoll sein. Sie verbraucht mich, so lange sie mich brauchen kann; so lange, bis ich ,für sie‛ unbrauchbar geworden bin. Aber da die Lebenswelt nichts anderes als subjektives, sowohl individuell wie kollektiv, Bewußtsein ist, ist wiederum die Gesellschaft in dem Moment, wo mein Leben für mich keinen Sinn mehr macht, selber sinnlos und deshalb nichtig.<br/><br/>
Hier kann der Nihilismus, der keine Annihilation ist, tatsächlich zu einer Befreiung werden. Wir können in einer Krise aus unserer Lebenswelt herausfallen. Eine solche Krise kann einen neuen Anfang ermöglichen. Denn in dem Moment, wo ich mir der Nichtigkeit meiner Lebensführung bewußt werde, kann ich mich auch neu orientieren. In welche Richtung auch immer.Detlef Zöllnerhttp://www.blogger.com/profile/13781633811318837703noreply@blogger.com0tag:blogger.com,1999:blog-2586555323621430111.post-28686553838355004502024-03-03T00:30:00.021+01:002024-03-03T14:30:38.580+01:00„Das Sein kann und will von sich nicht lassen.“1. Mißbrauchserfahrungen<br />
2. Der Schein und die Phänomenologie<br />
<b>3. Bewußt-Sein</b><br />
4. Menschenfreundschaft<br />
5. Grundloser Wille<br />
6. Ich = Du<br /><br />
Neben der Unterscheidung zwischen einem minderen und einem höheren, eigentlichen Sein gibt es noch die zwischen einem Für-sich-Sein und einem An-sich-Sein, mit der Sartre arbeitet. (Vgl. Lütkehaus 1999, S.448ff.) Dabei steht das An-sich für die „volle Positivität“ der Wirklichkeit: „Das Sein ist an sich. Das Sein ist das, was es ist.“ (Lütkehaus 1999, S.48). Das Für-sich steht hingegen für das Bewußtsein, also für das Subjekt, für das alles Wirkliche fraglich ist: „Das radikal verschiedene Sein des ,Für-sich‛ hingegen, ebenso scharf wie bei Heidegger das ,Dasein‛ von allem anderen Seienden unterschieden, läßt sich hingegen definieren ,als das seiend, was es nicht ist, und als nicht das seiend, was es ist‛ (). Es ist ein Sein von gebrochener Identität, stets Abstand haltendes Bewußtsein.“ (Lütkehaus 1999, S.449)<br /><br />
In seinem Sartre-Kapitel (vgl. Lütkehaus 1999, S.432-473) hebt Lütkehaus hervor, daß es vor allem Sartre war, der die Heideggersche Ontologie zu einem Existenzialismus subjektiviert hat, indem er den Fokus vom Sein weg auf eine zentrale Emotion verschob: auf den Ekel. Indem er die Dimension des Für-sich ‒ und gerade der Ekel ist ein höchst intensives Für-sich (Menschen unterscheiden sich u.a. darin von anderen Menschen, wovor sie sich jeweils ekeln) ‒ ins Zentrum stellte, war es nicht mehr das Sein des Seienden, sondern das Bewußt-Sein des Existierenden, um das es von nun an philosophisch ging.<br /><br />
Der Ekel ist der negative Pol unserer Begierden. Wo das Begehren nach Berührung verlangt, nach gegenseitiger Durchdringung und Einverleibung, ist der Ekel durch eine Kontaktaversion gekennzeichnet. Was Allergien für den Körper sind, ist der Ekel für das Bewußtsein. Das ist der Grund, warum Sartre den Menschen vom Ekel her denkt. Dem Ekel der Übersättigung, wenn uns alles zu viel wird. Zu viel Welt, zu viel Menschen, zu viel Sex, zu viel Reichtum ‒ es gibt eigentlich nichts, vor dem wir uns nicht ekeln könnten, wenn es uns über alles Maß hinaus bedrängt und es uns zum Ersticken zu eng wird.<br /><br />
Lütkehaus ist das alles zu subjektiv, vor allem was die erotischen Implikationen des Ekels betrifft. Er wirft Sartre eine „geradezu leidenschaftliche Seinsbegierde“ vor und mokiert sich über die erotischen „Paarmetaphern“ (vgl. Lütkehaus 1999, S.471), deren sich Sartre bedient, über ihre mal süßlich-eklige, mal wieder vom Ekel freie erotische Dimension (vgl. Lütkehaus 1999, S.440, 445, 473). Damit wird er aber dem subjektiven Charakter eines Bewußtseins nicht gerecht, das in einer ambivalent empfundenen Welt ,existiert‛.<br /><br />
Sartre universalisiert also das Ekelgefühl zu einem umfassenden Weltverhältnis. Es richtet sich gegen die gleichermaßen aufdringliche wie kontingente Übermacht des Faktischen, des An-sich, das dem menschlichen Bewußtsein, so Sartre, zu viel wird. Lütkehaus schreibt: „Das ,Bewußtsein‛ drückt das mit ,anthropomorphen Begriffen‛ in der Sprache des ,Ekels‛ so aus, daß es ,zu viel‛ sei.“ (Lütkehaus 1999, S.448)<br /><br />
Zu viel also der Positivität im An-sich-sein aller Dinge. Das Für-sich des menschlichen Bewußtseins kann diese von ihm unabhängige Positivität nur negieren. Gleichzeitig aber kann es sich selbst nicht positivieren. Es negiert alles, aber es selbst wird für sich dadurch nicht zu etwas Positivem. Auch in diesem Unvermögen dem Positiven gegenüber wurzelt der Ekel.<br /><br />
Zugleich aber wurzelt darin auch unsere Freiheit, insofern der Ekel für das Bewußtsein einen Raum schafft, in dem es Abstand zu den Dingen in ihrem An-sich halten kann. (Vgl. Lütkehaus 1999, S.452) Letztlich erfüllt der Ekel bei Sartre eine ähnliche Funktion für das Bewußtsein, wie sie bei Plessner das scheiternde Begehren innehat. Weckt bei Plessner allererst das unbefriedigte Begehren ein Bewußtsein unserer selbst, so schafft bei Sartre der Ekel einen Freiraum, einen Spielraum, in dem sich dieses Selbst entfalten und zur Welt auf Distanz gehen kann.<br /><br />
Aber ähnlich wie das mindere Sein des falschen Scheins bei den Ontologen steht das Bewußtsein bei den Vertretern der Kritischen Theorie in Verruf. Für die Kritische Theorie ist „Bewußtseinsphilosophie“ ein Schimpfwort. Für sie hat der Mensch ein Gesellschaftswesen zu sein. Ich halte dagegen, daß die Philosophie entweder Bewußtseinsphilosophie ist oder sie ist keine Philosophie.<br /><br />
Wenn wir uns dem Bewußtsein zuwenden, müssen wir uns mit diesem Für-sich, wie es im Ekel zum Ausdruck kommt, auseinandersetzen. Es macht keinen ,Sinn‛, das Bewußtsein auf Größen wie den Weltraum, den Kosmos, zu beziehen oder es mit dem Nichts zu konfrontieren. Im Positiven wie im Negativen ist beides zu viel. Der Sinn unseres Lebens, unserer Lebensführung (Existenz), ist für sich selbst ein Ganzes. Er macht, daß sich Bruchstücke, Episoden in ihm zusammenfügen. Was getrennt zu sein schien, wird durch ihn als Zusammenhang empfunden. Er ist immer auf die eine oder andere Weise, individuell oder kollektiv, subjektiv.<br /><br />
Deshalb ist unsere eigentliche Grenze auch nicht das Nichts, sondern die Sinnlosigkeit. Etwas als sinnlos zu empfinden und gar das eigene Leben als sinnlos zu erleben, ist die Bresche, durch die das Nichts an den Grenzen von Geburt und Tod mitten in unser Leben und in unser Bewußtsein hereinbricht.<br /><br />
Davor schützt die Lebenswelt. Für die Kritischen Theoretiker: die Lebenswelt ist mehr oder weniger das, was ihr Gesellschaft nennt. Aber sie ist durch und durch ein Bewußtseinsbegriff. In den folgenden Blogposts soll es deshalb vor allem um die Sinnfrage gehen; auch dies wieder in einer Gegenwendung zu Lütkehausens Position.Detlef Zöllnerhttp://www.blogger.com/profile/13781633811318837703noreply@blogger.com0tag:blogger.com,1999:blog-2586555323621430111.post-42806131941837490422024-03-02T00:30:00.029+01:002024-03-02T00:30:00.167+01:00„Das Sein kann und will von sich nicht lassen.“1. Mißbrauchserfahrungen<br/>
<b>2. Der Schein und die Phänomenologie</b><br/>
3. Bewußt-Sein<br/>
4. Menschenfreundschaft<br/>
5. Grundloser Wille<br/>
6. Ich = Du<br/><br/>
Das mindere Sein ist also der Schein, der von der europäischen Metaphysik und der Ontologie des 20. Jhdts. in platonischer und christlicher Tradition gegenüber dem eigentlichen, verborgenen, göttlichen Sein abgewertet wird. Dafür steht insbesondere auch Heideggers „Seinsvergessenheit“. Seit Schopenhauer wird der Scheincharakter der Welt auch mit dem Schleier der Maya aus den Upanishaden gleichgesetzt. Auf den letzten Seiten von Hermann Hesses „Glasperlenspiel“ (verschiedene Fassungen von 1934-1977) heißt es über Dasa, den Protagonisten des indischen Lebenslaufs, der gerade aus einem langen intensiven Traum über ein mit Gattin, Sohn und Herrscherwürden ausgestattetes Leben erwacht. Der Traum endet mit einer Schlacht, in der Dasa Frau und Kind und seine Herrscherwürde verliert und gefangen genommen wird. Erwachend stellt er fest:<br/>
<blockquote>„Er hatte weder eine Schlacht noch einen Sohn verloren, er war weder Fürst noch Vater gewesen; wohl aber hatte der Yogin seinen Wunsch erfüllt und ihn über Maya belehrt: Palast und Garten, Bücherei und Vogelzucht, Fürstensorgen und Vaterliebe, Krieg und Eifersucht, Liebe zu Pravati und heftiges Mißtrauen gegen sie, alles war Nichts ‒ nein, nicht Nichts, es war Maya gewesen! Dasa stand erschüttert, es liefen ihm Tränen über die Wangen, in seinen Händen zitterte und schwankte die Schale, die er soeben für den Einsiedler gefüllt hatte, es floß Wasser über den Rand und über seine Füße.“ („Das Glasperlenspiel“, 1996, S.603)</blockquote>
Hier ist der Kern dessen zusammengefaßt, was die Abwertung des Scheins beinhaltet, nämlich die Abwertung aller Begierden einschließlich des Begehrens als eines Nichts, mit dem nicht etwa das Nichts der Versenkung und der Bedürfnislosigkeit gemeint ist, sondern das nichtige Sein.<br/><br/>
Nun gibt es aber eine geistige Disziplin, die genau diesen Schein ins Zentrum ihres Denkens stellt: die Phänomenologie. Zwar hatte noch Edmund Husserl in der Nachfolge von Hegels „Phänomenologie des Geistes“ und Kants transzendentaler Vernunftkritik den verschiedenen Erscheinungen ein Wesen zugeschrieben, das sich uns in der Meditation einzelner Phänomene erschließt. Aber der Schein ist hier nicht mehr das Falsche im Widerspruch zum wahren, eigentlichen Wesen dieser Phänomene. Dieser Schein ist vielmehr die Weise, wie sich diese Phänomene einem Bewußtsein ,geben‛. Der Schein ist das Für-sich des Bewußtseins. Aber das An-sich der Phänomene ist offenbar und nicht mehr verborgen. Sie zeigen sich. Der Schein ist die Weise, in der sie sich zeigen.<br/><br/>
Ich ziehe es inzwischen vor, auch nicht mehr vom ,Wesen‛ zu sprechen, denn Husserl wollte damit das menschliche Bewußtsein und die damit zusammenhängenden Begierden und Begehrungen einklammern. Er interessierte sich mehr für ein Bewußtsein überhaupt, das über konkrete Bewußtseinsformen wie das des Menschen hinausgeht. Auch darin liegt eine Abwertung, zumindestens in dem Sinne, daß für ihn das menschliche Bewußtsein für eine philosophische Reflexion nicht in Betracht kam. Metaphysik war ihm trotz seines Aufrufs „Zurück zu den Sachen!“ wichtiger.<br/><br/>
Lütkehaus ergreift in seinem Buch Partei für ein unschuldiges Nichts, das nichts gemein hat mit einer minderen Seinsform. Dabei geht er so weit, seinerseits jede „Wertlehre“, die höhere Güter gegen geringere Güter abwägt, als bloß „ontomorph“ abzuwerten. (Vgl. Lütkehaus 1999, S.642) Letztlich aber verweisen Begriffe wie Moral, Mitleid oder Wille (ebenda) immer auch auf konkrete menschliche Bedürfnisse, die berechtigte Ansprüche an unsere Urteilskraft stellen. Wir dürfen sie nicht einfach als ontomorphe Kategorien des Seins abtun, denn sie bestimmen im vielfältigen Motivgefüge des Menschen das Humanum, das für jede substanzielle Menschenfreundschaft unverzichtbar ist. Dieses Humanum hat auch mit einem abstrakten, dem Nichts gegenübergestellten Sein, das genauso abstrakt ist wie dieses Nichts, nicht das geringste zu tun. Mit Moral, Mitleid und Begehren geht es um konkrete Menschlichkeit. Wir befinden uns mit diesen Begriffen auf der subjektiven Ebene des Scheins: der Empfindsamkeit.<br/><br/>
Wenn Helmuth Plessner für seine philosophische Anthropologie Nietzsches Begriff der zweiten Naivität in Anspruch nimmt, dann u.a. weil mit ihr der Scheincharakter des menschlichen Weltverhältnisses rehabilitiert wird. Auch Lütkehaus findet im langen Nietzschekapitel (vgl. Lütkehaus 1999, S.274-381) Formulierungen, die auf eine zweite Naivität verweisen, in der das gebrochene menschliche Bewußtsein in ein neues Verhältnis zur Welt eintritt: „Wenn die Wahrheit und zumal diese Wahrheit Verzweiflung, Tod und Vernichtung bedeutet, dann werden allein Kunst, Illusion, Wahn, selbst Lüge ‒ alle Formen des Scheins werden von Nietzsche angesichts der Wahrheits- als Todesdrohung zusammengefaßt ‒ zum Garanten des Lebens. ... Dann muß der ,Wille zum Schein, zur Illusion, zur Täuschung‛, ja zur ,Unwissenheit, Ungewißheit, Unwahrheit () für ,tiefer und ursprünglicher‛ als der ,Wille zur Wahrheit, zur Wirklichkeit‛ gehalten werden ().“ (Lütkehaus 1999, S.314)<br/><br/>
Wenn man mal von dem Plädoyer für Unwissenheit absieht, entspricht diese zweite Naivität dem, was ich in Abgrenzung zu Husserl als Phänomenologie der Unwesentlichkeit oder schlichter als unwesentliche Phänomenologie bezeichnen möchte. Plessner sah in dieser Naivität eine positive Möglichkeit des Menschseins, daß wir nämlich im Wissen um die Illusionen diese Illusionen transformieren können. Es geht dann nicht mehr darum, ob sie wahr sind, sondern ob sie Sinn machen.<br/><br/>
Lütkehaus bezweifelt hingegen mit seinem Verweis auf Nietzsche, daß man „im Wissen um die Illusionen für die Illusionen sprechen (kann)“. (Vgl. Lütkehaus 1999, S.316) Ich glaube aber mit Plessner, daß sie uns tatsächlich die Chance bieten, uns mit ihrer Hilfe, im Sinne eben einer zweiten Naivität, uns in einer Welt einzurichten, die ‒ obwohl Bewußtseinskorrelat und deshalb ,für uns‛ ‒ ,an sich‛ nicht länger unsere Heimat ist.<br/><br/>
Eine Phänomenologie der Unwesentlichkeit führt den Schein auf ein Subjekt zurück, das um den von ihm selbst produzierten Scheincharakter der Welt, um ihr Für-sich, weiß. Dieses Subjekt wird nicht länger versuchen, auf der Objektseite ein an sich seiendes Wesen ausfindig zu machen. Es wird das Fürs-Bewußtsein-sein der Objekte, ihr Für-sich, als Gabe verstehen, die es ihm erlaubt, in einer fremden Welt sein Leben zu führen.Detlef Zöllnerhttp://www.blogger.com/profile/13781633811318837703noreply@blogger.com0tag:blogger.com,1999:blog-2586555323621430111.post-51430481130613629502024-03-01T00:30:00.023+01:002024-03-01T00:30:00.139+01:00„Das Sein kann und will von sich nicht lassen.“<b>1. Mißbrauchserfahrungen</b><br/>
2. Der Schein und die Phänomenologie<br/>
3. Bewußt-Sein<br/>
4. Menschenfreundschaft<br/>
5. Grundloser Wille<br/>
6. Ich = Du<br/><br/>
Dieser Satz, daß das Sein von sich nicht lassen kann und will (vgl. Lütkehaus 1999, S.722), enthält die gleichermaßen dringliche wie verfehlte Fragestellung des Buchs „Nichts“ (1999) von Ludger Lütkehaus. Zum einen wird das Sein in diesem Satz als ein bedürftiges Subjekt inszeniert, das weder von sich lassen kann noch will. Zum anderen aber ist das Sein in seiner durch Hamlet geprägten Fragestruktur „Sein oder Nicht-Sein?“ und als seit Leibniz verschieden variierte „Grund-Frage“: Warum ist überhaupt etwas und nicht Nichts?, nur ein Abstraktum, so wie auch das Nichts nur ein Abstraktum ist.<br/><br/>
Je nach Profession bildet dabei mal das Sein (Ontologen) und mal das Nichts (Nihilisten) die höchste Form der Abstraktion, als „Totalabstraktion“, die von allem abstrahiert: auch vom konkreten bedürftigen Subjekt. (Vgl. Lütkehaus 1999, S.522f., 607, 661) Wenn etwas nicht von sich lassen kann und will, ist es gewiß nicht das ,Sein‛ und schon gar nicht das ,Nichts‛, demgegenüber, als Nicht-Sein, das Sein nur als Nicht-Nichts minimalbestimmt ist, sondern eben jenes bedürftige Subjekt.<br/><br/>
Warum also diese seltsame Formulierung, in der Lütkehaus dem Sein Prädikate zuweist, die ihm gar nicht zukommen, als könnte es Akte verzweifelter Selbstbehauptung vollziehen, wie wir sie nur von einem um seine Existenz ringenden Shakespeareschen Hamlet kennen? Die Antwort liegt wohl, wie ich vermute, in Lütkehausens eigener Biographie, und diese Antwort liefert zugleich das Grundmotiv für das 758 Seiten starke Buch, das im Titel den „Abschied vom Sein“ mit der Hoffnung auf ein „Ende der Angst“ verknüpft.<br/><br/>
Elf Jahre vor dem Mißbrauchsskandal in reformpädagogischen und kirchlichen Einrichtungen läßt Lütkehaus eigene Mißbrauchserfahrungen zu Wort kommen: „Am gnadenlosesten aber hat das Christentum sich hier an denen vergangen, von denen es behauptete, daß sie ihm am meisten am Herzen liegen: den Kindern. Das, um für einen Moment ganz unchristlich zu sprechen, ist dem Christentum nicht zu verzeihen.“ (Lütkehaus 1999, S.33)<br/><br/>
Zunächst ist diese Bemerkung noch so allgemein gehalten, daß sie bloß als ein historischer Hinweis auf eine verhängnisvolle Seite des Christentums zu verstehen sein könnte, das mit seiner Erbsündenlehre sogar unschuldigen Neugeborenen mit ewigen Höllenstrafen droht, worauf ja auch Lütkehaus selbst viele hundert Seiten später gegen Ende des Buchs noch einmal explizit hinweist:<br/>
<blockquote>„Ja, dem Gottesfreund Augustinus ist so sehr an der Bevölkerung, wenn nicht Überbevölkerung der real existierenden Hölle gelegen, daß er selbst die früh verstorbenen Kinder, die nicht getauft wurden, nicht getauft werden konnten: die tatsächlich nur von einem Mangel, einem Glaubensmangel, einem privaten Nichts geschlagen sind, den ewigen Höllenstrafen überantwortet.“ (Lütkehaus 1999, S.705)</blockquote>
Doch tatsächlich bezieht sich Lütkehaus nicht einfach nur auf historische Daten, sondern er besteht darauf, daß wir es hier mit persönlichen Erfahrungen eines heutigen Zeitgenossen zu tun haben. Denn wer, wie Lütkehaus schreibt, „zu so harschen Urteilen“ über das Christentum gelangt, „wird wohl seine Ursachen, wenn nicht Gründe dafür haben ‒ nur daß eben alles Denken seine Genealogie hat, nicht als Jungfernzeugung eines Heiligen Geistes entsteht, ja gerade aus seiner Genealogie seine Legitimität bezieht: Wovon man sprechen will, darüber muß man eine Erfahrung haben. ... Begriffe ohne Anschauungen bleiben nun einmal leer ‒ wie freilich auch persönliche Anschauungen ohne korrektive Begriffe blind.“ (Lütkehaus 1999, S.33f.)<br/><br/>
Gleich zwei philosophische Autoritäten, Wittgenstein und Kant, zieht Lütkehaus heran, um die Dimension der Erfahrung als unverzichtbare Grundlage aller unserer Urteile ins Spiel zu bringen. Hier spricht ein Zeuge; ein Augenzeuge. Womöglich gar ein Opfer.<br/><br/>
Dabei kann ruhig offen bleiben, worin genau die Mißbrauchserfahrung von Lütkehaus besteht; ob sie ,nur‛ eine geistig-seelische oder auch eine körperliche Dimension hatte. Wer wie der Autor von „Nichts“, der sich mit einem „Abschied vom Sein“ das „Ende der Angst“ erhofft, in einem engen katholischen Milieu aufgewachsen ist, wird sehr wohl auch dann, wenn er vom priesterlichen Zugriff auf den Körper von Kindern beiderlei Geschlechts verschont geblieben ist, gelernt haben, was es bedeutet, unter ständigem Sündenverdacht zu stehen. Dazu reichte schon ein Blick in den Beichtspiegel, den jedes Kind in seinem Gebetsbuch einsehen konnte, wenn es zur Beichte ging, um daraus zu lernen, was es zu beichten hatte. Denn von sich aus konnte es das ja nicht wissen. Das richtige Sündenbewußtsein mußte ihm erst beigebracht werden.<br/><br/>
Wovon kann und will es also nicht lassen, das ,Sein‛, über das sich Lütkehaus beschwert, dabei sehr wohl wissend, wessen Diktion er hier reproduziert? Dieses Sein, das bedauerlicherweise einfach nicht lassen kann von dem, was ist, ist sündhaft, denn was <b>ist</b>, ist schlecht. Es kann nicht lassen von dem, was <b>lebt</b>. Aber alles animalische Leben ist <b>Fleisch</b> (obwohl die christlichen Fastenregeln das anders sehen); und Fleisch ist Begierde, Geilheit, der ewigen Höllenstrafe verfallen. Ja, so ist es: <b>wir selbst</b> sind es, die vom Fleisch, das wir sind, nicht lassen können! Davon ist hier die Rede, von uns, von unserem Fleisch, wenn vom Sein die Rede ist.<br/><br/>
Der Mensch, der in seinem Sein ursprünglich gottgleich, Gottes Ebenbild gewesen ist und keine Krankheit, keinen Tod kannte, ist mit seiner Vertreibung aus dem Paradies zu einem Sein minderer Qualität verurteilt worden. Das eigentliche Sein ist von nun an bei Gott, der das mindere Sein gnädigerweise kontinuierlich mit Seinem Sein umfaßt. Die Ebenbildlichkeit des Menschen degeneriert zum Schein. Sie ist nur noch das minderwertige Abbild des göttlichen Originals.<br/><br/>
Das ist also der Kern der Mißbrauchserfahrung, die Lütkehaus als tägliche Erfahrung seinem Begriff vom „Nichts“ zugrundelegt. Deshalb kann er vom Sein und vom Nichts, vom Sein als Nicht-Nichts und vom Nicht-Sein des Nichts philosophieren, weil er nämlich diese Anschauung als gelebte Praxis der christlichen Erbsündenlehre vor Augen hat. Als die reinen Abstrakta, die Sein und Nichts für sich genommen sind, als Totalabstraktionen von allem, was das Verhältnis von Mensch und Welt konkret bedeutet, gäbe es weder Grund noch Anlaß, nur einen Tag oder auch nur eine Stunde, geschweige denn ein solches dickes Buch darauf zu verschwenden. Erst der kirchliche Mißbrauch gibt diesen Begriffen Bedeutung.<br/><br/>
Auch deshalb unterscheidet Lütkehaus zwischen Nihilismus und Annihilismus. Das Christentum ist nicht einfach nihilistisch. Es annihiliert!<br/><br/>
Denn dieses mindere Sein, das der Mensch ist, will trotzig an sich festhalten. Es will seltsamerweise einfach nicht von sich lassen, von sich und seinem Elend. Es zieht die Misere seines Fleisches der Heimkehr ins göttliche Sein vor. Irgendwas stimmt also nicht mit der christlichen Lehre von der Erlösung. Was hat es mit dem falschen Schein einerseits und mit dem wahren Sein andererseits tatsächlich auf sich? Darum soll es in den folgenden Blogposts gehen.Detlef Zöllnerhttp://www.blogger.com/profile/13781633811318837703noreply@blogger.com0tag:blogger.com,1999:blog-2586555323621430111.post-14193929590425074182024-02-19T00:30:00.002+01:002024-02-19T06:39:39.821+01:00Gebetsfahnen<div><br /></div><div style="text-align: center;">Flatternde Bänder greifen ins Leere,<br />
als wäre das Flattern selbst schon ihr Sinn.<br />
Immer schon fehlt mir, was ich begehre;<br />
unerfüllt bleibt so das, was ich bin.</div>
<br />Detlef Zöllnerhttp://www.blogger.com/profile/13781633811318837703noreply@blogger.com0tag:blogger.com,1999:blog-2586555323621430111.post-63422743882134928142024-01-17T15:26:00.014+01:002024-01-19T08:34:07.763+01:00Die AfD und der NihilismusEs ist natürlich zu einfach, die AfD mit dem Nihilismus gleichzusetzen. Natürlich ist alles etwas komplizierter.<br /><br />
Zunächst aber ist diese Partei ein guter Aufhänger dafür, um zu erklären, was Ludger Lütkehaus in „Nichts“ (1999) den Annihilismus nennt, im Unterschied zum Nihilismus. Die AfD ist auf Vernichtung aus (Annihilation), während das eigentliche Nichts nur der Gegensatz zum Sein ist und weder selbst als etwas Böses bewertbar ist, noch anderes als etwas bewertet, das vernichtet werden müßte. Das Nichts ist nicht <b>gegen</b> das Sein. Und das Sein ist auch nicht <b>besser</b> als das Nichts. Das Nichts ist einfach nur nichts.<br /><br />
Die AfD ist also auf Vernichtung aus, behaupte ich, und ist deshalb annihilistisch im Sinne von Lütkehaus. Nehmen wir die neueste Etappe in ihrer zunehmend Fahrt aufnehmenden Drift in den Faschismus: die ,Remigration‛, um die es in einem Geheimtreffen von Rechtsextremisten unter Beisein von AfD-Politikern ging. Schon der Gedanke einer Unterscheidung zwischen ,Deutschen‛, die nach Deutschland gehören, und ,Deutschen‛, die hier nicht hingehören und in ein phantasiertes ,Nichts‛ zurückwandern sollen, birgt ein solches annhihilistisches Potential, eine solche Vernichtungswut, daß allein dies schon den Annihilismus der AfD belegt.<br /><br />
Natürlich weisen Vertreterinnen und Vertreter der AfD diese ,Unterstellung‛ empört zurück, indem sie auf die Verfassungskomformität ihres Parteiprogramms verweisen. Das ist eine weitere Ebene, auf der sich der Annihilismus der AfD betätigt. Die Vernichtungswut dieser Partei richtet sich auch auf die Sprache, wie ja schon das Wort ,Remigration‛ belegt, das es jetzt zum Unwort des Jahres 2023 geschafft hat. Die AfD-Demagogen scheren sich einen Dreck darum, ob ihre Worte ihren Taten und umgekehrt ihre Taten ihren Worten entsprechen. Da ist keine Integrität, die für die ausgesprochenen, die niedergeschriebenen Wörter einstünde. Sie sind allesamt Wortverdreher und Lügner. Was sie sagen, hat Null-Bedeutung. Was sie sagen ist nichtig. Nicht einfach nur nichtig im Sinne des unschuldigen Nichts, sondern als eine Form der Vernichtung von Sprache und Kommunikation. Ihr Parteiprogramm? Es taugt nicht mal mehr als Lachnummer.<br /><br />
Deshalb also ist die AfD annihilistisch. Wer sie wählt, wählt die Vernichtung und wird vermutlich selbst zu einem ihrer Opfer.<br /><br />
So einfach zunächst. Aber dann eben doch etwas komplizierter. Wenn Lütkehaus vom Annihilismus spricht, denkt er weit zurück. Er denkt zurück bis zur Erschaffung der Welt durch einen Gott, der diese aus dem Nichts heraus erschafft und dann wegen eines konstruierten Sündenfalls seinen Ebenbildern, den Menschen, die Unsterblichkeit, die ihnen zugleich mit ihrer Erschaffung zueigen war, wieder nimmt. Unter dem Vorwand der Erbsünde hat er sie dem Tod ausgeliefert, der Vernichtung. Sie wurden sozusagen mit dem Nichts geimpft. Sie <b>sind</b> zwar, aber sie sind zugleich auch nicht. Seiend sind sie nichtig. Das ihnen von ihrem Gott geschenkte Sein ist, so Lütkehaus, als ein Nicht-Nichts zu kennzeichnen.<br /><br />
Der Nichtigkeit des Menschen stand das ewige Sein Gottes gegenüber. Auf Seiten des Menschen stand nur der Fortpflanzungsersatz: in seinen Kindern weiterzuleben. Oder auch in seinen Werken weiterzuleben. Oder zuletzt: möglicherweise nach dem Tod weiterzuleben, wenn man sich denn darauf verlassen wollte, daß es diesen ewig seienden Gott auch gibt und der einen nach dem Tod nicht einfach fallen läßt.<br /><br />
Was das Diesseits betrifft, wissen wir ja, worauf alles hinausläuft. Auf Fortpflanzung und auf Schaffensfreude. Neues Sein, neue Dinge in die Welt zu bringen, war für den nichtigen Menschen zur einzigen Sinnerfüllung geworden, vom Verbot der Abtreibung bis hin zur fortgesetzten Steigerung von Wohlstand und unbegrenztem Wirtschaftswachstum.<br /><br />
Wohin das alles letztlich führen mußte, wissen wir heute. Wir leben auf einem begrenzten Planeten mit nahezu vollständig vernichteten Ressourcen und grassierendem Artenschwund. Diese pathologische Fixierung auf das (menschlich-übermenschliche) Sein war vor allem Sache des christlichen Abendlands, während fernöstliche Weisheitslehren nicht vergessen hatten, woher wir kommen und wohin wir gehen, nämlich aus dem Nichts und in das Nichts. Allerdings gibt es da auch diese Wiedergeburtslehren, wie man sie u.a. aus dem Hinduismus kennt, deren wiederum pathologische Fixierung aufs Sein in Form des Kastenunwesens ebenfalls annihilistisch ist.<br /><br />
Mit anderen Worten: Der westliche Kapitalismus mit seiner Technologieorientierung, unsere ach so fortschrittliche Lebensführung, ist gleichbedeutend mit Vernichtung, mit der Vergiftung von Böden und Wasser, mit dem Anhäufen von Müllbergen, mit der Verwüstung des Planeten.<br /><br />
Täuschen wir uns also nicht: die AfD ist Fleisch von unserem Fleische.Detlef Zöllnerhttp://www.blogger.com/profile/13781633811318837703noreply@blogger.com0tag:blogger.com,1999:blog-2586555323621430111.post-11832367041041336862023-12-31T00:00:00.017+01:002023-12-31T00:00:00.243+01:00Womit Silvester drohtDem Guten eines Jahrs: Verfall!<br/>
Von allen Feiertagen bester<br/>
ist ganz bestimmt nicht der Silvester.<br/>
Im Gegenteil! Der hat nen Knall.Detlef Zöllnerhttp://www.blogger.com/profile/13781633811318837703noreply@blogger.com0tag:blogger.com,1999:blog-2586555323621430111.post-48671555522886982212023-12-22T15:58:00.018+01:002023-12-28T09:06:50.393+01:00Alle Jahre wieder ...<div>... und wieder und immer wieder kommt das Christuskind. Weihnachten, das Fest des Friedens und der Liebe. Und den Weihnachtsmann, den gibt es natürlich auch. Mit der Konsumfreude der Verbraucher und mit den Profiten im Einzelhandel und bei Amazon, die anschließend zum Jahresende in Zahlen gefaßt verkündet werden, hat das natürlich nicht das Geringste zu tun.<br /><br />
Geräuschkulisse: süßliche Weihnachtslieder, Glöckchengebimmel.<br />
Geruchskulisse: süßlich gewürzter Glühwein und Zimtgebäck.<br />
Das wird sich über die eigentlichen Feiertage noch zu einem dicken Brei verdichten, mit Fernsehsendungen, Weihnachtsfilmen und Geschenkideen via Werbung auf allen Kanälen. Warum müssen es eigentlich zwei Feiertage sein? Dies Jahr sind es sogar drei hintereinander. Und in dieser Zeit wird auf allen Kanälen nichts anderes laufen als Weihnachten. Alle anderen Sendungen, insbesondere Nachrichten, Reportagen, Informationssendungen, werden suspendiert, so als fände nirgendwo auf der Welt was anderes statt. Überall Weihnachtslieder und Friedhofsruhe.<br /><br />
Dann folgen ein paar Tage mit vereinzelten Bölleraktionen verstreuter Kinder- und Jugendbanden, die zu Silvester, mit nun veränderter Geräuschs- und Geruchskulisse, mit Pulvergestank, Raketenpfiffen und Böllergeknalle in einen kleinen Bürgerkrieg mit Raketenangriffen auf Feuerwehrleute, Sanitäter und Polizeibeamte übergehen. Flankiert wird das Ganze vom Putinschen Angriffskrieg in der Ukraine und dieses Jahr, wenn man den Warnhinweisen glauben darf, gemixt mit islamistischem Terror. Von den anderen kriegerischen Anlässen, den Himmelsraum und die Straßen mit Lichtern, Blitzen und Explosionen verschiedener Art zu erfüllen, ganz zu schweigen.<br /><br />
Die Tierwelt zieht sich fiepend und jaulend in häuslicher Umgebung unter Tische und Betten und in natürlicher Umgebung unter Büsche und in Erdlöcher zurück.<br /><br />
Kein Fleckchen in Deutschland, keine Insel in Nord- oder Ostsee, um dem zu entkommen.<br /><br />
Die Polizei, so heißt es, sei auf alles vorbereitet. Sie rechnet wohl mit dem Schlimmsten.<br /><br />
Volkskundlich gesehen hat die Silvesterknallerei einen guten Sinn: böse Geister und Dämonen werden vertrieben. Das läßt sich auf heute übertragen. Der Pulvergestank vertreibt Gewürz- und Glühweinseligkeit und ersetzt Glöckchengeklingel durch Böller und Knallfrösche. Lärm und Gejohle verdrängen Weihnachtslieder. Silvester vertreibt Weihnachten.<br /><br />
So willkommen geheißen und dem alten Jahr das Licht ausgeblasen, kann das neue Jahr beginnen. Verkatert und leer.<br /><br />
Wie jedes Jahr. Wieder und immer wieder.<br /><br /></div><div style="text-align: center;">
* * *<br /><br />
</div><div style="text-align: right;"><span>Als Gegengift zu diesem Blogpost empfehle ich</span><br /><span>
<a href="https://www.youtube.com/watch?v=b3a1yCaYpZY&pp=ygU-VmVybnVuZnQgYnJlaXRldCBzaWNoIGF1cyDDvGJlciBkaWUgQnVuZGVzcmVwdWJsaWsgRGV1dHNjaGxhbmQ%3D">„Vernunft breitet sich aus über die Bundesrepublik Deutschland“</a></span><br /><span>
von Reinhard Mey.</span></div>Detlef Zöllnerhttp://www.blogger.com/profile/13781633811318837703noreply@blogger.com0tag:blogger.com,1999:blog-2586555323621430111.post-46230315247421342552023-11-29T10:54:00.002+01:002023-11-29T10:54:40.574+01:00Definiere ,Volk‛Söder fordert die Ampel auf, dem „deutschen Volk“ die Vertrauensfrage zu stellen.<br/>
Ich fordere ihn auf: definiere ,Volk‛.Detlef Zöllnerhttp://www.blogger.com/profile/13781633811318837703noreply@blogger.com1tag:blogger.com,1999:blog-2586555323621430111.post-26798878968674104892023-11-25T11:37:00.007+01:002023-11-26T12:31:22.333+01:00Verzicht auf BösewichterIn seinem Nachwort zu „Der Weg der Wünsche“ (2023) erörtert Patrick Rothfuss die Rolle von ausgemachten Bösewichtern in Fantasyromanen und kommt dabei auf ein Grundprinzip seiner eigenen Romane zu sprechen. Er verzichtet auf von Grund auf schlechte Protagonisten und will so zeigen, daß es Spannung auch ohne Feindseligkeit geben kann.<br /><br />
Zu der Liste von Schrecknissen, auf die er bislang verzichtet habe ‒ Schwertkämpfe, Koboldarmeen und Apokalypsen ‒, kommt auch noch Folgendes: „Niemand zerstörte irgendetwas in einem Vulkan und vernichtete damit die gesamte Magie, so dass die Elben auf ewig so traurig waren, dass sie für alle Zeit aus dieser Welt abhauten.“ (Rothfuss 2023, S.211)<br /><br />
Das ist eigentlich eine recht gute Zusammenfassung vom „Herrn der Ringe“.<br /><br />
Tatsächlich kommen in „Der Weg der Wünsche“ drei Anwärter auf das Prädikat „böse“ vor: Jessom, Rike und der verrückte Martin. Von diesen drei Anwärtern ist aber nur einer richtig böse. Jessom verprügelt regelmäßig seinen Sohn. Jemand, der das tut, kann einfach nicht gut sein!<br /><br />
Rothfuss’ Philosophie unterscheidet sich von der von Erich Kästner. In einem seiner Kinderbücher schreibt Kästner über einen Jungen, einen richtigen Widerling, daß es Kinder gebe, die von Anfang an schlecht seien und sich dann auch nicht mehr ändern. Sie seien wie Fernrohre, die man auseinanderziehen kann. Sie würden zwar immer länger, blieben aber immer ein Fernrohr.<br /><br />
Gut, daß es Autoren wie Patrick Rothfuss gibt.Detlef Zöllnerhttp://www.blogger.com/profile/13781633811318837703noreply@blogger.com3tag:blogger.com,1999:blog-2586555323621430111.post-84198693308059006122023-11-19T10:26:00.011+01:002023-11-19T19:23:20.572+01:00Wie erkenne ich einen Antisemiten?Jemand erklärte, woran man einen Antisemiten erkenne. Man frage einfach, wer am Klimawandel schuld sei: Juden oder Radfahrer? Angeblich antworten 9 von 10 darauf: „Warum Radfahrer?“<br/><br/>
Ich habe diese an einen schlechten Witz erinnernde Frage schon öfter gehört. Mir selbst hat sie noch keiner gestellt. Aber ich stelle mir vor, mir würde sie gestellt und ich hätte sie noch nie gehört und würde damit in einem Moment überrascht, in dem ich mit so einer Frage überhaupt nicht rechne.<br/><br/>
Was würde mir als erstes durch den Kopf gehen? Ich würde wahrscheinlich denken, daß der Fragesteller mit mir ein Gespräch über Antisemitismus führen will. Aber in einem Gespräch über Antisemitismus haben Radfahrer nichts zu suchen. Meine Antwort auf diese Frage wäre also ein verwundertes: „Warum Radfahrer?“<br/><br/>
Und schon hätte ich mich als Antisemit geoutet.<br/><br/>
Ein ähnliches Ergebnis hätten wir, wenn in meinem Kopf vor allem das Wort ,Klimawandel‛ hängengeblieben wäre, nach dessen Verursachung, zumindest in der Version, in der ich sie kenne, gefragt wird. So aus allen meinen Gedanken herausgerissen, in denen gerade Antisemitismus überhaupt keine Rolle gespielt hatte, würde ich möglicherweise denken, daß alle Menschen mehr oder weniger schuld daran sind, am wenigsten aber die Radfahrer.
Einmal innerlich bis zehn gezählt und dann noch einmal auf die Frage geschaut, hätte ich aber mit Sicherheit gemerkt, daß es sich um eine Fangfrage handelt. Wer aber tut das schon?<br/><br/>
Auf diese Art funktionieren alle Fangfragen. Eine Frage, auf die man naiv wie auf jede einfache Frage reagiert, entpuppt sich plötzlich als Trick. Sie kann als bloßer Scherz gemeint sein oder auch auf eine nicht besonders nette Unterstellung abzielen.<br/><br/>
Tatsächlich habe ich den Eindruck, daß ein nicht geringer Teil der derzeitigen Antisemitismusdebatte auf diesem Niveau verläuft. Diese Frage wurde in einem Interview in der heutigen DLF-Sendung von „Informationen und Musik“ ernsthaft als Antisemitismustest vorgeschlagen. Man solle sie beliebigen Menschen, wo sie gerade „stehen, sitzen oder liegen“, stellen. Aber inzwischen ist diese spezielle Fangfrage wohl allgemein so bekannt, daß sich keiner mehr von ihr überrumpeln läßt.<br/><br/>
Wo es um etwas geht, mit dem es uns wirklich ernst ist, sollten wir deshalb auf rhetorische Tricks aller Art verzichten.Detlef Zöllnerhttp://www.blogger.com/profile/13781633811318837703noreply@blogger.com3tag:blogger.com,1999:blog-2586555323621430111.post-77838174720346717102023-11-17T19:33:00.010+01:002023-11-18T13:51:15.972+01:00Die Wertegemeinschaft und das Grundgesetz
Die islamistische Hizb ut-Tahrir, die „Partei der Befreiung“, bezeichnet die westlichen Demokratien als „Wertediktatur“. Daß diese Kombination aus den Begriffen ,Werte‛ und ‚Diktatur‛ eine gewisse Plausibilität hat, liegt an einem weitverbreiteten Mißverständnis. Dieses Mißverständnis hängt mit dem dieser Tage in der Politik wiedermal besonders gern verwendeten Appell an die westliche „Wertegemeinschaft“ zusammen.<br /><br />
Ich habe mich schon <a href="https://erkenntnisethik.blogspot.com/2022/03/unsere-werte-und-putin.html" target="_blank">an anderer Stelle</a> dazu geäußert und will das jetzt nicht nochmal im Detail aufdröseln. Letztlich geht es beim Begriff der Wertegemeinschaft darum, daß in der Politik gerne die gemeinsamen Werte demokratischer Staaten, insbesondere diesseits und jenseits des Atlantiks, hervorgehoben werden. Aber tatsächlich unterscheiden sich die jeweiligen Werte und die Staatsverfassungen in den USA, Kanada, Südamerika, Afrika, Asien, Australien und Europa zum Teil erheblich, so daß eigentlich nur von einer weitläufigen Verwandtschaft in den Wertesystemen gesprochen werden kann.<br /><br />
Was die bundesdeutsche Verfassung betrifft, das Grundgesetz, haben wir es nicht etwa mit konkreten Werten zu tun, die für alle verbindlich sein sollen, sondern mit formalen Regeln, die es gerade ermöglichen sollen, daß alle Bürger dieses Staates nach ihren eigenen Werten leben können. Grundrechte wie die Meinungsfreiheit und das Recht auf freie Persönlichkeitsentfaltung sind, was konkrete Werte betrifft, völlig inhaltsleer. Nur deshalb kann ich freimütig gestehen, daß ich eben <b>nicht</b> dieselben Werte habe wie die FDP oder die CDU. Wäre ja noch schöner, wenn die mir vorschreiben könnten, was ich für richtig und was ich für falsch zu halten habe und wie ich mein Leben zu führen habe!<br /><br />
Ich habe auch <b>nicht</b> dieselben Werte wie große Teile der Bevölkerung, denen das Schicksal des Planeten und kommender Generationen am Arsch vorbeigeht, weil sie sich noch möglichst viel von den letzten Krümeln des längst aufgefressenen Kuchens sichern wollen, bevor alles zuende ist.<br /><br />
Ha! ‒ Es tut richtig gut, sich das mal wieder von der Seele kotzen zu können.<br /><br />
Aber das wars dann auch schon. Ich gehe eben nicht hin, um meine lieben Mitbürger zu ihrem Glück zu zwingen. Sie haben das Recht auf ihre bescheuerte Meinung. Auf ihr verkorkstes Leben. Und es ist eben letztlich eine Sache der Politik, also eine Sache, die uns alle angeht, aus dieser Gemengelage etwas zu machen.<br /><br />
Ich verhalte mich also, wie es uns das Grundgesetz auferlegt, und respektiere die Freiheit des Andersdenkenden. Denn nur wenn die anderen anders denken dürfen, kann auch ich anders denken. Und vielleicht auch anders leben. So gut es die Verhältnisse eben zulassen. Und vielleicht ändern die sich dann auch. Wenns geht hoffentlich zum Guten.<br /><br />
Das jedenfalls ist es, was das Grundgesetz ermöglichen möchte. Dafür wurde es vor 66 Jahren geschaffen.<br /><br />
Wir dürfen unser Leben an unterschiedlichen Werten orientieren, ohne uns dem Zwang einer Wertegemeinschaft unterwerfen zu müssen. Denn wäre es nicht so, hätten wir eine Wertediktatur.Detlef Zöllnerhttp://www.blogger.com/profile/13781633811318837703noreply@blogger.com0tag:blogger.com,1999:blog-2586555323621430111.post-57421678745151988812023-11-12T09:54:00.013+01:002023-12-25T21:19:00.417+01:00Hört Radio<div>Angesichts der Debatte um den Terrorüberfall der Hamas in Israel und dem Krieg in Gaza empfehle ich, auf das Radio zurückzugreifen. Insbesondere im Deutschlandfunk wird noch differenziert recherchiert, berichtet und diskutiert.<br /><br /></div>
Folgende Sendungen haben mich überrascht und gefreut:<br /><ul style="text-align: left;"><li>
Das <a href="https://www.deutschlandfunk.de/esther-dischereit-ueber-offene-briefe-nach-dem-hamas-terror-dlf-613fda26-100.html" target="_blank">Interview mit Esther Dischereit</a> im Büchermarkt (DLF), in dem sie den Sinn und Nutzen der Unbedingtheit von Solidaritätsbekundungen in Frage stellt.</li><li>
Der<a href="https://www.deutschlandfunk.de/kommentar-israelkritik-antisemitismus-100.html" target="_blank"> Kommentar (DLF) von Stephan Detjen</a>, in dem er eine kontroverse Debatte zum israelbezogenen Antisemitismus anmahnt.</li><li>
Das <a href="https://download.deutschlandfunk.de/file/dradio/2023/11/11/fokus_nahost_empathie_aber_wie_dlf_20231111_1700_7d8138f0.mp3" target="_blank">Interview (Der Tag, DLF) von Ann-Kathrin Büüsker</a> mit dem Deutsch-Palästinenser Aref Hajjaj und dem Journalisten Moritz Behrendt, in dem es um eine ungeteilte Empathie geht.</li><li>
Das <a href="https://www.deutschlandfunk.de/der-terror-und-die-macht-der-bilder-gerhard-paul-historiker-dlf-0d5f258a-100.html" target="_blank">Interview mit dem Historiker Gerhard Paul</a> in Informationen und Musik (DLF), das die Macht der Bilder thematisiert; Gerhard Paul plädiert für mehr Radio hören.</li><li>
Das <a href="https://www.deutschlandfunk.de/laesst-sich-ueber-den-krieg-friedlich-reden-michael-andrick-philosoph-dlf-21835a02-100.html" target="_blank">Interview mit Michael Andrick</a> in den Informationen und Musik (DLF), in dem der Philosoph sich dagegen ausspricht, Kulturschaffende pauschal auf Solidaritätsbekundungen zu verpflichten und sie dann abzustrafen, wenn sie es nicht tun.</li></ul>Detlef Zöllnerhttp://www.blogger.com/profile/13781633811318837703noreply@blogger.com0tag:blogger.com,1999:blog-2586555323621430111.post-55773665723159958502023-11-05T15:32:00.028+01:002024-01-20T14:32:45.223+01:00Betroffenheitspflicht und DenkverbotImmer wieder habe ich mich seit dem 7. Oktober gefragt, warum ich mich in meinem Blog bislang nicht zu den Vorgängen in Israel geäußert habe. Ich bin sonst immer schnell bereit, politisch Stellung zu beziehen. Es gibt eigentlich kein Thema, zu dem ich keine Meinung habe. Und gerade den Antisemitismus empfinde ich als eines der größten historischen Übel, das längst hätte überwunden sein müssen und das es eigentlich gar nicht mehr geben dürfte. Mit antisemitischen Einstellungen kann es keine politischen und keine zivilgesellschaftlichen Kompromisse geben!<br /><br />
Erst mit einem <a href="https://download.deutschlandfunk.de/file/dradio/2023/10/30/esther_dischereit_ueber_offene_briefe_nach_dem_hamas_terror_dlf_20231030_1620_613fda26.mp3" target="_blank">DLF-Interview mit Esther Dischereit (30.10.2023)</a> ist mir das eine oder andere über meine eigenen inneren Widerstände klar geworden. Der zentrale Punkt, den Dischereit anspricht, ist die staatlich und zivilgesellschaftlich geforderte bedingungslose Solidarität mit Israel. Diese Solidarität, so Dischereit, kann sich eigentlich nur auf das Existenzrecht des israelischen Staates beziehen. Dieses Existenzrecht allein ist es, das uneingeschränkt anerkannt werden muß. Die Bedingungslosigkeit einer generellen Solidarität impliziert hingegen immer auch Solidarität mit der jeweiligen Regierung inklusive ihrer Politik, was angesichts einer, wie es immer so schön heißt, „in Teilen“ rechtsextremen Regierung, nicht in Frage kommen kann.<br /><br />
Das Existenzrecht allein ist es, das uneingeschränkt anerkannt werden muß. Darüber hinausgehende Solidaritätsansprüche sind, auch angesichts der komplexen, widerspruchsvollen Historie des Nahostkonflikts, unangebracht.<br /><br />
Mein Versuch, immer sorgfältig zwischen dem Staat und den Menschen zu unterscheiden und meine Solidarität hauptsächlich auf die Menschen in diesem Staat zu beziehen, richtet sich auf alle Staatsformen, also auch auf Demokratien. Denn alle wahlberechtigten Bürger eines Staates sind der Willkür des Wahlverhaltens einer jeweils aktuellen Mehrheit ausgeliefert und dann Opfer einer von ihnen abgelehnten Politik. Das gilt insbesondere für einen Staat, der zwar eine Demokratie ist, aber über keine geschriebene Verfassung verfügt, die Rechtsstaatlichkeit und Minderheitenschutz garantiert.<br /><br />
Meine Solidarität gilt nun vor allem auch den Menschen des Landes, in dem ich lebe. Der plötzlich wieder offen zutage tretende Antisemitismus zeigt, wie sehr gerade elementare Ansprüche auf menschlichen Umgang wieder einmal in Deutschland mit Füßen getreten werden. Was zur Zeit in Deutschland geschieht, hat zwei Gesichter. Da sind die täglichen Übergriffe auf jüdische Mitbürger, die sich nicht mehr trauen, auf der Straße ihre Kippa zu tragen oder sich den Davidstern umzuhängen. Und da sind die Haßausbrüche auf pro-palästinensischen Demonstrationen. Hier, im täglichen Umgang mitten in Deutschland, ist es für jeden anständigen Mitbürger klar, wie sie oder er dazu zu stehen hat: gegen den Haß und die Menschenverachtung, die hier zum Ausdruck kommen.<br /><br />
Das andere Gesicht ist ein politisches; ein staatspolitisches und auch ein zivilgesellschaftliches. Hier wird von ,oben‛ herab, also von Instanzen mit gesellschaftlicher Autorität, ein allgemeines Betroffenheitsgebot ausgesprochen, das mit einem konkreten Denkverbot einhergeht. Geradezu pedantisch, bis hin zur schematischen Vorgabe korrekter Formulierungen, werden potenzielle und tatsächliche Grenzüberschreiter zur Unbedingtheit proisraelischer Solidaritätsbekundungen ermahnt.<br /><br />
Jeder Versuch einer Differenzierung wird als ,Ja-Aberismus‛ diffamiert. Das Wort „aber“ ist regelrecht auf den Index gesetzt worden. Wer aber nicht mehr aber sagen darf, darf eben auch nicht mehr denken. Nichts braucht das Denken mehr als das Wörtchen „aber“. Denken heißt differenzieren. Differenzieren heißt, daß es zu jeder These eine Anti-These gibt und zu jedem Standpunkt ein „aber“.<br /><br />
Betroffenheit ist wichtig. Als ich in den ersten Tagen nach dem 7. Oktober ‒ für mich ist das Radio die wichtigste Informationsquelle, nicht das Fernsehen und auch nicht die sozialen Medien ‒ von dem Überfall der Hamas auf beliebige, unbeteiligte Menschen in Israel erfuhr, hatte ich noch keine Vorstellung davon, was da wirklich passiert war. Erst im Verlauf der Woche erfuhr ich von Details, die mir dann wirklich unter die Haut gingen; die mich fassungslos machten.<br /><br />
Noch einmal: Betroffenheit ist wichtig! Aber wie lange hat sie anzudauern? Ab wann darf man wieder denken und damit zwangsläufig relativieren? Wer verfügt über das Recht, dem Denken eine Frist zu setzen; bis wann es unpassend ist und ab wann wieder erlaubt?<br /><br />
Es gibt keinen Staat auf diesem Planeten, auch nicht der, dessen Bürger ich bin, der einen Anspruch auf meine bedingungslose Solidarität hat. Aber alle Staaten haben ein Existenzrecht. Und alle Menschen haben das Recht, sich staatlich zu organisieren. Dieses Recht gilt uneingeschränkt.Detlef Zöllnerhttp://www.blogger.com/profile/13781633811318837703noreply@blogger.com0tag:blogger.com,1999:blog-2586555323621430111.post-22556271641346985232023-11-03T16:04:00.013+01:002023-11-03T20:02:46.180+01:00ChatGPT leidet unter Kryptomnesie<div>Oder anders ausgedrückt: ChatGPT ist quellenblind. Ein Bekannter erzählte mir, daß er vergeblich versucht habe, ChatGPT dazu zu bringen, Auskunft über die in den von dieser KI generierten Texten verwendeten Quellen zu geben. Die einzige Antwort, die er erhalten hat, war, daß das alles „allgemein bekannt“ sei.<br /><br />
Mich wundert das nicht. Denn um Quellen zu beurteilen, muß man zwischen seriösen und unseriösen Quellen unterscheiden können. Woher sollte eine KI diese Fähigkeit haben? Zu den von mir aufgestellten Kriterien, inwiefern sich KI und menschliche Intelligenz unterscheiden, gehört die Fähigkeit, zwischen Innen und Außen, zwischen Fiktion und Realität zu differenzieren. Dafür fehlt jeder denkbaren KI, buchstäblich, das ,Sensorium‛.<br /><br />
Für eine KI sind alle Informationen einander gleichartig. Es gibt keine Qualitätsunterschiede. Lügen sind genauso Informationen wie Wahrheiten.<br /><br />
Es ist also kein Wunder, daß eine KI, wenn sie beim Generieren von Texten ihre eigenen Produkte konsumiert, verblödet. Mit anderen Worten: je mehr ChatGPT-Texte in Umlauf kommen, um so weniger intelligent fallen sie aus.<br /><br />
Das ist meine ultimative Liste von Fähigkeiten, über die nur ein menschliches und bei einigen Punkten auch animalisches Bewußtsein verfügt:<br /></div><ol style="text-align: left;"><li>Der Mensch ,apperzipiert‛. Einfach gesagt: er denkt bei allem, was er tut, mit; bis hin zu unseren Wahrnehmungen, die wir bewußt erleben, also mit Denken begleiten. Die KI kann nur rechnen. Sie kann noch nicht mal ihr Rechnen mit Rechnen begleiten, geschweige denn mit einem Denken.</li><li>Die menschliche Wahrnehmung (und das Bewußtsein) basiert auf Gestaltwahrnehmung und nicht auf Informationsverarbeitung. Wir können Vordergründe aus Hintergründen herausfokussieren, ohne dabei den Hintergrund zu wechseln. Wenn mehrere Menschen ein Bild wahrnehmen, sieht jeder etwas anderes. Und wir können dieselbe Figur (Vordergrund) vor wechselnden Hintergründen wiedererkennen. Mit Gestaltwahrnehmung hat die KI erhebliche Probleme. Wird sie auch immer haben.</li><li>
KI ist gut in Performanz (im stupiden Ausführen von Algorithmen), aber schlecht in Kompetenz. Beim Menschen ist das umgekehrt.</li><li>
Menschliches Bewußtsein basiert auf Kommunikation, KI auf Statistik. Deshalb ist es auch verhängnisvoll, von Maschinenkommunikation zu reden. Maschinen kommunizieren nicht. Sie interagieren. Das ist auch schon alles, was sie können.</li><li>
Das menschliche Bewußtsein basiert auf der Unterscheidung zwischen Innen und Außen: innen = Bewußtsein, außen = Wirklichkeit. Dazu gehört die Fähigkeit, zwischen Fiktion und Realität unterscheiden zu können. Keine KI ist dazu fähig. Für sie ist alles Information. Sie kennt keinen Unterschied zwischen Einhörnern und einem Verkehrsunfall. Ihre eigenen Rechenprozesse sind ihr nicht innerlich, sondern äußerlich. Alles ist außen, alles ist Information.</li><li>
Das menschliche Bewußtsein ist substratabhängig. Seine Basis ist die Biochemie des menschlichen Körpers. KI ist substratunabhängig. Folglich ist menschliches Bewußtsein auch nicht auf eine Festplatte hochladbar. Oder runterladbar? Egal. Geht einfach nicht!</li><li>
Das über unseren ganzen Körper und auch im Inneren unseres Körpers und seiner Organe verteilte multimodale Tastsinnessystem ist ständig aktiv und beansprucht, beim Wachen und beim Schlafen, jederzeit 100 Prozent der Gehirnaktivität. Auf diese Weise vermittelt uns das Tastsinnessystem, als ständiges Hintergrundrauschen, unsere Existenzgewißheit.</li></ol>Detlef Zöllnerhttp://www.blogger.com/profile/13781633811318837703noreply@blogger.com3tag:blogger.com,1999:blog-2586555323621430111.post-20003451983862093702023-10-27T11:40:00.007+02:002023-10-27T11:45:47.986+02:00Ein Comic-RätselIch habe gestern „Die Bestie 2“ (2023) von Frank Pé und Zidrou gelesen. Ein Panel auf S.43, 2. Reihe Mitte, es zeigt eine lächelnde Jeanne, erinnerte mich an das Lächeln von Manon im 3. Band von „Zoo“ (2008), ein Comic von Frank Pé und Philippe Bonifay. Das besagte Panel auf Seite 53, im oberen Drittel, Mitte, erinnert mich an das Lächeln der Mutter von Franz; also von Jeanne.<br/><br/>
Zwar haben Manon und Jeanne zwei verschiedene Gesichter, aber es ist derselbe Ausdruck in diesem Lächeln, und ihre Augen liegen ähnlich weit, ungewöhnlich weit, auseinander.<br/><br/>
Wenn wir davon ausgehen könnten, daß der Zeichner von beiden derselbe ist, dann handelte es sich vielleicht um eine unvergessene Liebe, der er in diesem Lächeln ein Denkmal setzt. Ähnlich wie bei dem Lehrer von Franz, Boniface benamt, der einerseits eine Hommage auf André Franquin ist, andererseits mit seinem Namen an den des Zeichners Bonifay erinnert. Und wo wir schon mal dabei sind: soll ,Franz‛ vielleicht auf ,Frank‛ hindeuten, also auf den Autor? Denn die Liebe zu den Tieren ist bei beiden dieselbe.<br/><br/>
Dann wäre die unglückliche Liebe des Lehrers zur Mutter von Franz möglicherweise eine weitere Parallele zur Person des Autors? Denn Jeanne entscheidet sich schließlich nicht für den Lehrer, sondern für den Polizeileutnant. Auch Manon hatte sich zwar für den Bildhauer entschieden. Einer weiteren Personifikation des Autors, der ja nicht nur Texter, sondern auch Zeichner ist? Trotzdem endet diese Liebe unglücklich.<br/><br/>
Leider funktionieren alle diese Verbindungen nicht so einfach, denn Frank Pé ist nicht der Zeichner, sondern Bonifay und Zidrou, und deshalb können die beiden einander so ähnlichen Panels in „Zoo“ und in „Die Bestie 2“ nicht über ein und dieselbe Person, den Autor, vermittelt sein.<br/><br/>
Alles paßt so schön zusammen. Nur die Verschiedenheit der Autorenschaft verhindert die Zusammenschau dieser Verbindungen. Schade.<br/><br/>
Immerhin: in den Comicalben werden die Funktionen von Frank Pé, Zidrou und Bonifay nicht aufgeschlüsselt. Wie weit sich die drei auf ihre jeweiligen Funktionen beschränken lassen, wird offengelassen.Detlef Zöllnerhttp://www.blogger.com/profile/13781633811318837703noreply@blogger.com0tag:blogger.com,1999:blog-2586555323621430111.post-68021867157166321662023-10-24T16:57:00.018+02:002023-12-13T21:41:05.910+01:00 „Triggerpunkte“1. Methoden und Begriffe<br/>
<b>2. Ekel und Lebenswelt</b><br/><br/>
An zentraler Stelle in dem Kapitel zu den „Triggerpunkten“ (Mau u.a. 2023, S.244ff.) treten bei den Diskussionsteilnehmerinnen und -teilnehmern Ekelgefühle zutage. Ekel ist ein starker Affekt, der großenteils lebensweltlich bedingt ist. In verschiedenen geschichtlichen Epochen und in verschiedenen Kulturen ekeln sich Menschen vor unterschiedlichen Dingen. Beim Ekel bewegen wir uns in einem Bereich, wo uns keine Statistik weiterhilft.<br/><br/>
Daß wir es hier mit einem Phänomen der Lebenswelt zu tun haben, zeigt sich auch an der Zuordnung zu den Normalitätserwartungen der Diskutanten. („Normalitätsverstöße“: vgl. Mau u.a. 2023, S.253ff.) Der Begriff der „Normalität“ wird von den Autoren vorzugsweise in Zusammenhängen verwendet, die ich der Lebenswelt zuordne. Dieser Begriff vermittelt in gewisser Weise zwischen Statistik (Normalverteilungen) und Phänomenologie (Lebenswelt). Aber anders als der statistische Begriff reicht der Lebensweltbegriff weit in die Tiefen (Sedimente) des individuellen und des Kollektivbewußtseins hinab.<br/><br/>
Vor allem zwei Bereiche unserer kulturell geprägten Körperlichkeit erzeugen auf individuell verschiedene Weise Ekel: alles was mit dem Magen-Darmtrakt zusammenhängt und die Sexualität. Vor allem das Umschlagen von Sexualität in Ekel weist noch einmal auf den engen Zusammenhang mit kulturellen, sich in der individuellen Ontogenese niederschlagenden Prägungen hin.<br/><br/>
Bevor Kinder in die Pubertät kommen, im Alter zwischen sechs und zwölf Jahren, bevor irgendwer erkennen kann, am wenigsten sie selbst, in welche Richtung sich ihre Sexualität entwickelt wird, durchlaufen sie eine Phase der Latenz, in der sie sich nicht für das Geschlecht, ihr eigenes oder von andern, ,interessieren‛. So kann man es bei Freud und bei Wikipedia nachlesen. Tatsächlich geht es weit über Desinteresse hinaus. Alles was mit sexuellem Verhalten zu tun hat, erzeugt bei Kindern in diesem Alter vor allem Ekel. Ich habe in dem Alter, vorm Fernseher sitzend, immer die Augen zugemacht, wenn die spannende Filmhandlung durch, wie ich fand, überflüssige Küsserei unterbrochen wurde. Entsprechendes Ekelverhalten kann man immer wieder bei Kindern in diesem Alter beobachten.<br/><br/>
Mit dem Eintritt in die Pubertät kippt Ekel in Begehren um. Fortan begleitet uns oder die meisten von uns dieses Umkippen von Erotik in Ekel und von Ekel in Erotik den Rest unseres Lebens.<br/><br/>
Sexualität und Ekel sind wie ein Kippbild aneinander gebunden. Ludwig Wittgenstein hatte sich von der Hase-Ente-Täuschung davon überzeugen lassen, daß seine im „Tractatus“ vertretene Sprachphilosophie, nach der jedes Zeichen nur eine Bedeutung haben kann, falsch ist. Zeichen konnten zwei Bedeutungen haben, so wie dasselbe Bild mal eine Hase und mal eine Ente sein konnte. Aus diesem Grund entwickelte er seine Philosophie des Sprachspiels, in dem Sprachzeichen erst durch die Art ihrer Verwendung eine Bedeutung erhalten.<br/><br/>
Auch das Verhältnis von Sexualität und Ekel ist so ein Hase-Enten-Kippbild, in dem ein und derselbe Vorgang zwei völlig konträre Bedeutungen haben kann. Unabhängig von der hauptsächlichen sexuellen Orientierung verlieben sich Menschen nicht einfach in jede Vertreterin, jeden Vertreter des bevorzugten Geschlechts. Im Gegenteil kann die Vorstellung, mit einen bestimmten Menschen Sex zu haben, Ekel auslösen, während dieselbe Vorstellung bei einem anderen Menschen desselben Geschlechts Schmetterlingsgefühle im Bauch erzeugt.<br/><br/>
Das kann uns sogar mit unserem Lebenspartner passieren. Die Menschen entwickeln sich, auch ihre Gefühle ändern sich, und es kann der Zeitpunkt kommen, wo wir mit dem einst geliebten Menschen keine erotischen Affekte mehr verbinden und entsprechende Avancen seinerseits sogar nur noch Ekel auslösen.<br/><br/>
Die Plötzlichkeit, mit der aus Erotik Ekel und umgekehrt aus Ekel Erotik werden kann, macht aus dem Verhältnis von Sexualität und Ekel ein Vexierbild, so wie die Hase-Enten-Täuschung. Genauso wie bei einem Vexierbild können wir Erotik und Ekel nie gemeinsam empfinden. So wie wir entweder den Hasen oder die Ente sehen, aber nie beides gemeinsam, verhält es sich auch bei Erotik und Ekel. Der Sexualität liegt immer nur mal der eine oder mal der andere Affekt zugrunde.<br/><br/>
Was die Diskutanten in dem Buch von Mau u.a. betrifft, ist der Ekelaspekt von Sexualität an verschiedenen Stellen offensichtlich. Auch an anderen Stellen als dem erwähnten Kapitel, in denen es um Pädophilie und um öffentliches Küssen geht. (Vgl. Mau u.a. 2023, S.177/180) An diesen Stellen wird das Küssen in der Öffentlichkeit als „aufdringlich“ oder als „zu weit gehend“ bewertet. (Vgl. Mau u.a. 2023, S.177) Ein Diskussionsteilnehmer beschwert sich: „Das sind teilweise Anblicke, die finde ich dann schon wieder ...“. Und eine Diskussionsteilnehmerin ergänzt: „zu drüber.“ (Vgl. Mau u.a. 2023, S.180)<br/><br/>
Die Autoren kommentieren diese Äußerungen als „Homophobie“: „Die Grenzen ostentativer körperlicher Zuneigung werden anders gezogen als bei Heterosexuellen.“ (Mau u.a. 2023, S.180) ‒ Es mag sein, daß homophobe Motive bei dem zitierten Wortwechsel mitspielen. Darum geht es mir hier nicht. Es geht mir darum, inwiefern Ekelgefühle bei Fragen erlaubter und verbotener Sexualität unvermeidlich immer mitspielen. Denn ich denke, daß es den beiden Diskutanten nicht um den Begrüßungskuß auf beide Wangen, wie er in Frankreich üblich ist, geht. Es ist wohl eher der öffentlich zur Schau gestellte, mit dem Austausch von Körperflüssigkeiten verbundene Zungenkuß gemeint.<br/><br/>
Der Ekel, der hier bei Passanten, die sich beim ersten Hingucken schnell abwenden, erzeugt wird ‒ so geht es zumindestens mir bei solchen Gelegenheiten ‒ und erstmal haften bleibt, weil man das, was man gesehen hat, nicht mehr ignorieren oder verdrängen kann, geht auf einen Intimitätsbruch zurück. Um solche Einbrüche in die Intimität unserer Mitmenschen zu vermeiden, gab es früher im gesellschaftlichen Umgang den ,Takt‛. Taktvoll ist ein Verhalten in der Öffentlichkeit, das genau solche Intimitätsbrüche vermeidet. Takt ist das, was ich im Unterschied zu den Autoren „Respekttoleranz“ nennen würde. Die Autoren nennen es bloß „Erlaubnistoleranz“. (Vgl. Mau u.a. 2023, S.173ff.)<br/><br/>
In dem jetzt mehrfach erwähnten Kapitel zu Normalitätsverstößen problematisiert ein Diskussionsteilnehmer die Umgangsformen in Umkleidekabinen im Schwimmbad. (Vgl. Mau u.a. 2023, S.254). Dabei beschwört er Phantasien von Vergewaltigung und vom Rumwedeln mit dem Penis vor den Augen seiner zwölfjährigen Nichte herauf. In diesem Zusammenhang betont er dann auch, daß er was gegen „Pädophilie“ hat. Die Autoren bewerten die Stellungsnahme des Diskussionsteilnehmers entsprechend: sie sprechen von der selektiven Vergrößerung eines „Problems weit über seine tatsächliche Relevanz“ hinaus. (Vgl. ebenda)<br/><br/>
Sehen wir einmal von dem wirren Sammelsurium von Ekelszenarien ab, die der Diskussionsteilnehmer hier zusammenstellt, kann ich nicht erkennen, inwiefern die Verurteilung von Pädophilie einer „selektiven Aufmerksamkeit“ (ebenda) geschuldet sein soll. Die Sorge, daß Kinder überall in unserer Gesellschaft dem übergriffigen Verhalten von Erwachsenen weitgehend schutzlos ausgeliefert sind und daß gerade im Bereich der Umkleidekabinen und Gemeinschaftsduschen von öffentlichen Schwimmbädern besondere Gefährdungen bestehen, hat sich nicht erst in den letzten Jahren vielfach als begründet erwiesen. Wo für sexuelle Orientierungen aller Art Toleranz und Respekt eingefordert wird und dabei der Mißbrauchsaspekt unterbelichtet bleibt, verlieren wir die Sensibilität für Formen übergriffiger Sexualität in unserer alltäglichen Umgebung.<br/><br/>
Aus den Sedimenten unseres Bewußtseins dringen, kollektiv verharmlost und individuell verdruckst, Motive herauf, die in unserem alltäglichen Umgang als Macht und als Ohnmacht, als Täterschaft und als Passion auf ungleiche Weise zur Ausführung kommen. Diese Ungleichheitsverteilung bildet eine Diskriminierung, die sich quer zu den jeweiligen sexuellen Orientierungen verwirklicht.<br/><br/>
Es geht mir hier nicht darum, verschiedene Formen von Diskriminierung gegeneinander auszuspielen. Ich will hier nur Affekte ansprechen, um die man bei allen Diskussionen in der Wir-Sie-Arena wissen sollte, ehe wir die verschiedenen Argumente in die eine oder andere Richtung qualifizieren.<br/><br/>
Zum Schluß möchte ich gerne eine kleine Geschichte erzählen, die mir wiederum eine Freundin in den 1980er Jahren erzählt hat.<br/><br/>
Die Freundin erzählte mir, wie sie sich mit einem homosexuellen Bekannten über Sexualität unterhielt. Der Bekannte versuchte ihr zu beschreiben, warum Frauen für ihn keine erotische Anziehungskraft hatten. Er vermittelte ihr die anatomischen Besonderheiten, die er als abstoßend empfand, auf so lebhafte und bildreiche Weise, daß er sie dazu brachte, sich vor sich selbst zu ekeln.<br/><br/>
Als mir die Freundin das erzählte, hatte ich wiederum eine lebhafte Vorstellung von zwei Menschen, die eine Gemeinschaft des Sich-Ekelns bildeten. Zum ersten Mal entstand in mir auch der Gedanke, wie eng Erotik und Ekel zusammenhängen. Sich von der einen und dem anderen angezogen zu fühlen, impliziert irgendwie immer auch, sich von wiederum anderen in sexueller Hinsicht abzuwenden.<br/><br/>
Aber was mich an dieser Geschichte am meisten erstaunte, war die Freundin, die fähig war, den Ekel ihres Bekannten so zu reflektieren, daß sie sich über ihre eigene Körperlichkeit erheben und mit ihrem Bekannten eine paradoxe Gemeinschaft bilden konnte, die sie gleichzeitig einbezog und ausschloß.Detlef Zöllnerhttp://www.blogger.com/profile/13781633811318837703noreply@blogger.com0tag:blogger.com,1999:blog-2586555323621430111.post-27687406946884499372023-10-22T15:21:00.021+02:002023-10-24T16:58:15.101+02:00„Triggerpunkte“<b>1. Methoden und Begriffe</b><br/>
2. Ekel und Lebenswelt<br/><br/>
Ich kaufte mir das Buch „Triggerpunkte. Konsens und Konflikt in der Gegenwartsgesellschaft“ (2023) von Steffen Mau, Thomas Lux und Linus Westheuser, weil ich mir davon erhoffte, einiges über die Erzeugung und die Manipulation des Gruppenbewußtseins zu erfahren. Was das betrifft, wurde ich auch nicht enttäuscht. Darüberhinaus hatte ich beim Lesen aber auch wenig schmeichelhafte Begegnungen mit mir selbst. Man kann dieses Buch nicht lesen, ohne sich beim Lesen über das übliche Maß hinaus zu engagieren und sich zu identifizieren oder sich zu distanzieren, und sich immer wieder ,getriggert‛ zu fühlen.<br/><br/>
Bei mir war das insbesondere bei dem Abschnitt zu „Wir-Sie-Ungleichheiten“ der Fall (vgl. Mau u.a. 2023, S.158ff.), die die Autoren zu den ungesättigten Konflikten zählen, weil sie so neuartig sind, daß es für sie kaum oder keine etablierten Lösungsroutinen gibt. Dazu zählen insbesondere sexuelle Diskriminierungen und ihre Kategorisierung mittels sprachlich korrekter Formulierungen.<br/><br/>
Insgesamt zählen die Autoren vier verschiedene Triggerpunkte auf, „neuralgische Stellen, an denen Meinungsverschiedenheiten hochschießen, Hinnahmebereitschaft und Indifferenz in deutlich artikulierten Dissenz, ja sogar Gegnerschaft umschlagen.“ (Mau u.a. 2023, S.246) Bei diesen Triggerpunkten handelt sich um „spezifische Erwartungen der Egalität, der Normalität, der Kontrolle und der Autonomie“. (Vgl. Mau u.a. 2023, S.248) Wenn diesen Erwartungen widersprochen oder zuwidergehandelt wird, schießen die Emotionen über.<br/><br/>
Die vier Triggerpunkte verteilen sich über vier Konfliktfelder, und zwar trotz der Gleichzahl unabhängig vom jeweiligen Konflikt. Bei den vier Konfliktfeldern, die sich die Autoren aus vielen möglichen Konfliktfeldern ausgesucht haben, handelt es sich in ihrer Diktion um „Arenen der Ungleichheit“ (vgl. Mau u.a. 2023, S.37ff.): also um die Arena der Oben-Unten-Gleichheiten (Reichtumsverteilung), die Arena der Innen-Außen-Ungleichheiten (Inländer/Migranten), die Arena der Wir-Sie-Ungleichheiten (Anerkennung/Ablehnung) und die Arena der Heute-Morgen-Ungleichheiten (Ökologie). Letztlich handelt es sich also bei allen vier Triggerpunkten um Ungleichheitserfahrungen, auf die Menschen besonders empfindlich reagieren.<br/><br/>
Die Autoren zählen drei Methoden auf, mit denen sie ihr Thema bearbeiten. Sie greifen auf eigene empirische Arbeiten zurück und konsultieren darüberhinaus „Studien zur Konfliktstruktur westlicher Gesellschaften“. (Vgl. Mau u.a. 2023, S.51) Außerdem haben sie eine bundesweite repräsentative Umfrage zu „Ungleichheit und Konflikt“ erhoben, um mit „strukturentdeckenden statistischen Verfahren ... übergreifende() Einstellungskomplexe hinter den Antworten der Befragten“ offenzulegen. (Vgl. Mau u.a. 2023, S.51f.) Drittens haben sie anhand des Vier-Arenen-Schemas Gruppendiskussionen „mit Menschen aus unterschiedlichen sozialen Schichten und mit unterschiedlichen ideologischen Orientierungen“ durchgeführt. (Vgl. Mau u.a. 2023, S.52f.)<br/><br/>
Zwischen der zweiten und der dritten Methode gibt es, wie sich im Verlauf des Buches zeigt, konzeptuelle Unvereinbarkeiten, die etwas mit der methodischen Differenz zwischen Statistik und Phänomenologie zu tun haben. Wenn die Autoren von „strukturentdeckenden statistischen Verfahren“ sprechen, bewegen sich in einem Bereich, der sich, was die Motive betrifft, mit der Psychologie, und, was den Gestaltbegriff betrifft, mit der Phänomenologie überschneidet. Für sich genommen ist es durchaus legitim, mit Hilfe statistischer Methoden bislang unentdeckte Zusammenhänge zwischen scheinbar weit auseinanderliegenden Kontexten aufzuweisen. Mithilfe von Umfragen kann man Präferenzen und Einstellungen in der Bevölkerung belegen oder widerlegen, die für das politische Handeln bedeutsam sind.<br/><br/>
Problematisch wird das dann, wenn statistische Aussagen über die Zuordnung von Aussagen zu bestimmten Gruppen (Querdenker, AFD-Wähler, Konservative, Liberale, Ökos, Feministinnen etc.) auf das Diskussionsverhalten einzelner Menschen (Verwendung von Argumenten, Hochschießen von Emotionen) übertragen werden. Das zeigt sich gerade in der Auswertung der von den Autoren durchgeführten Gruppendiskussionen. Im letzten Blogpost habe ich schon auf das von einer Diskussionsteilnehmerin verwendete Argument verwiesen, daß Anders-Sein und Anders-Behandeltwerden zwei verschiedene Dinge sind. Die Diskussionsteilnehmerin führt dieses Argument nicht diskursiv, sondern in emotionalisierter Form aus: „Normal, jeder will akzeptiert werden. Das ist okay, finde ich gut. Aber nicht dieses, weil wir anders sind, wollen wir auch anders behandelt werden.“ (Vgl. Mau u.a. 2023, S.200)<br/><br/>
Die Emotionalisierung ist kein Grund den diskursiven Gehalt ihres Arguments abzuwerten, wie es die Autoren in der Folge machen. Sie nehmen die Äußerung der Diskussionsteilnehmerin als Beispiel für den Versuch, Abweichungen von der ,Normalität‛ abzuwehren. Es mag sein, daß dieses Argument statistisch gesehen bevorzugt von Menschen verwendet wird, die genau diese Absicht haben. Aber die Motive der Diskussionsteilnehmerin können anderer Art sein. Hinzu kommt, daß dieses Argument dem Artikel 3 des Grundgesetzes entspricht. Auch das Grundgesetz kann ein legitimes Motiv sein, sich so zu äußern.<br/><br/>
Worauf ich hinauswill, ist, daß in Gruppendiskussionen verwendete Äußerungen vielfältig motiviert sind und sich nicht statistisch hinsichtlich einer bestimmten Einstellung auflösen lassen. Diesen Umstand haben die Autoren des Buches bei ihrer Auswertung nicht berücksichtigt.<br/><br/>
Abgesehen von der Vereinbarkeit unterschiedlicher Methoden gehen die Autoren recht naiv mit grundlegenden Begrifflichkeiten um. Grundlegend für das Buch sind die Begriffe der Gleichheit und Ungleichheit. Diese Begriffe haben sehr unterschiedliche Inhalte, die von den Autoren nicht geklärt werden. Sie haben es versäumt, offenzulegen, in welcher Weise sie diese Begriffe verwenden wollen. Sie weisen zwar darauf hin, daß die verschiedenen Interessengruppen mit diesen Begriffen in sehr verschiedener Weise argumentieren: „Gerungen wird um die Ausdeutung dieser Egalitätserwartungen, die sowohl zur Untermauerung als auch zur Abwehr von Ansprüchen dienen können.“ (Mau u.a. 2023, S.252f.)<br/><br/>
Aber dieser Umstand veranlaßt die Autoren leider nicht dazu, grundsätzlich zu klären, auf welcher Ebene eigentlich von Gleichheit und auf welcher Ebene von Ungleichheit die Rede sein soll. Gleichheit kann sowohl auf der Ebene von gleichen Werten (also Gleichheit <b>innerhalb</b> von Gruppen) als auch auf der Ebene von ungleichen Werten (also Gleichheit <b>zwischen</b> verschiedenen Gruppen) die Rede sein. Außerdem kann es bei der Gleichheit um das Verhältnis von Individualrechten und von Gruppenrechten gehen. Das sind drei verschiedene Hinsichten, die die Diskussion um das Verhältnis von Gleichheit und Ungleichheit bestimmen können.<br/><br/>
Tatsächlich werden diese verschiedenen Ebenen aber immer vermengt, sowohl im Alltag als auch in der Wissenschaft, wie das vorliegende Buch belegt. Aber die aktuell schwerwiegendste Verwirrung besteht in der Ungleichheit der Identitätszuschreibungen und der Gleichheit des Umgangs miteinander. Wenn eine Gesellschaft nicht auseinanderbrechen soll, muß sie bei aller Vielfalt (Ungleichheit) die Gleichheit der Umgangsformen einfordern. Eine Sonderbehandlung aufgrund von Andersartigkeit funktioniert nicht.<br/><br/>
Das Beharren auf gleiche Umgangsformen hat nichts mit einem, wie die Autoren es pejorativ nennen, „restriktiv-universalistischen Verständnis von Gleichstellung“ zu tun (vgl. Mau u.a. 2023, S.203); und auch nichts mit einer, nicht minder pejorativ, „Gleichheitssemantik“ (vgl. Mau u.a.2023, S.251). Interessanterweise gibt es am Ende des Buches, buchstäblich auf der letzten Seite, eine Textstelle, wo die Autoren ein universalistisches Grundverhältnis von Gleichheit und Ungleichheit zum Ausdruck bringen. Sie beschreiben „Medien, die Kommunen, die Zivilgesellschaft und das Vereinswesen“ als Orte, an denen es sich entscheidet, „ob unterschiedliche Gruppen als gleichberechtigt und in ihrer je eigenen Lebensweise als gleichwertig angesehen werden“. Und weiter heißt es: „Hier gestaltet sich das <i>Miteinander der Unterschiedlichen</i> und hier wird die Frage (mit) entschieden, inwieweit aus Unterschiedlichkeit Ungleichheit oder sogar Unwertigkeit hervorgeht.“ (Mau u.a. 2023, S.420)<br/><br/>
Das ist die einzige Stelle in diesem Buch, die ich gefunden habe, in der die Gefahr angesprochen wird, die mit der Betonung der Unterschiedlichkeit für die Gleichheit des Umgangs miteinander verbunden sein kann.<br/><br/>
Damit komme ich zum Schluß nochmal auf die „Kategorien“ zu sprechen, mit denen wir andere und uns selbst etikettieren. Beim Gendern und beim Versuch, Rassifizierungen zu vermeiden, kommt heute alles darauf an, die korrekten Bezeichnungen zu verwenden. Nun gibt es natürlich Menschen, denen die Autoren „Kategorienblindheit“ vorwerfen (vgl. Mau u.a. 2023, S.193); anderen bescheinigen sie „Kategorienunsicherheit“ (vgl. Mau u.a. 2023, S.192). Die einen verweigern also ihren Mitmenschen den ihnen gebührenden Respekt („Respekttoleranz“; vgl. Mau u.a. 2023, S.181ff.), die anderen sind zu bedauern. Vielmehr fällt den Autoren nicht dazu ein.<br/><br/>
Interessanterweise wird diese hochpolitisierte Etikettierungsproblematik von den Autoren an anderer Stelle, wo sie mit Bezug auf „Sozialfiguren“ von einer „hochgradig verzerrte(n), ja ,schubladisierten‛“ Denkweise sprechen (vgl. Mau u.a. 2023, S.326), implizit in Frage gestellt. Der Zusammenhang mit der Kategorienproblematik beim Gendern und beim Vermeiden von Rassifizierungen wird von ihnen aber nicht explizit gemacht.<br/><br/>
Tatsächlich geht es hier um den Kern dessen, was wir unter Emanzipation verstehen sollen. War Emanzipation einmal mit einem Denken und mit einer Lebensführung verknüpft gewesen, die das Kategorisieren von Menschen und Gruppen vermeiden, so ist heute das Gegenteil der Fall. Es geht hier nicht einfach nur um Psychologie, also um die Frage, ob ich mich in meiner ,Haut‛ wohlfühle. Es geht vielmehr um die Frage, wieweit und aus welchen Gründen ich mich selbst und andere, qua Etikettierung, einzuschränken bereit bin.Detlef Zöllnerhttp://www.blogger.com/profile/13781633811318837703noreply@blogger.com0tag:blogger.com,1999:blog-2586555323621430111.post-26217565072868063072023-10-17T11:45:00.010+02:002023-10-18T08:39:42.892+02:00GG Artikel 3Ich lese zur Zeit das Buch „Triggerpunkte“ (2023) von Steffen Mau, Thomas Lux und Linus Westheuser. Bei den Triggerpunkten handelt es sich um neuralgische Umschlagpunkte, die Menschen in gesellschaftlichen Konfliktfeldern, die von den Autoren als „Arenen der Ungleichheit“ bezeichnet werden, dazu veranlassen, vom offenen Diskurs auf erbitterte Konfrontation umzuschalten. Wie die Bezeichnung schon verrät, geht es den Autoren in den verschiedenen Arenen um die erlebte Ungleichheit, die unabhängig vom jeweiligen Thema den eigentlichen Kern des Triggermoments bildet.<br /><br />
Damit werde ich mich in einem anderen Blogpost nochmal ausführlicher befassen. Für jetzt geht es mir um ein Argument, das im Zusammenhang von Diskussionen in der Wir-Sie-Arena (Mau u.a. 2023, S.158ff.) verwendet wird. Die Autoren führen dazu die Äußerung einer Teilnehmerin in einer Gruppendiskussion zur Diskriminierung von LGTBQ... an: „Normal, jeder will akzeptiert werden. Das ist okay, finde ich sehr gut. Aber nicht dieses, weil wir anders sind, wollen wir auch anders behandelt werden.“ (Vgl. Mau u.a. 2023, S.200)<br /><br />
Die Autoren interpretieren diese Äußerung als Versuch, „Abweichungen“ in der „Normalität“ des Alltags unsichtbar zu machen, so daß dieser „sich selbst dabei nicht merklich ändern muss“. (Vgl. Mau u.a. 2023, S.201) Sie bezeichnen diese Einstellung als „Erlaubnistoleranz“ (vgl. Mau u.a. 2023, S.173ff.), die von ihnen im Vergleich zur „Respekttoleranz“ als weniger progressiv gewertet wird. Diese Erlaubnistoleranz will ihrer Ansicht nach die eigene traditionelle Lebensform vor größeren Veränderungsansprüchen schützen und insbesondere sexuelle ,Auffälligkeiten‛ ins Private abdrängen; nach dem Motto: „Jeder nach seiner Fasson!“<br /><br />
Damit verbinden die Autoren eine von ihnen ebenfalls negativ bewertete „Kategorienblindheit“. (Vgl. Mau u.a. 2023, S.179 und S.193) Als kategorienblind gerieren sich ihrer Ansicht nach diejenigen, etwa alte weiße Männer, die auf der Gleichheit aller Menschen bestehen und damit, so die Autoren, vor allem sich selbst meinen. So wenig andere Menschen aufgrund ihrer Andersheit diskriminiert werden dürfen, so wenig dürften auch sie, eben als alte weiße Männer, diskriminiert werden. Die Autoren sprechen von einer „Schuldumkehr, der zufolge es das öffentliche Auftreten von Schwulen, Lesben und Transpersonen ist, das Intoleranz erst provoziert“. (Vgl. Mau u.a. 2023, S.179)<br /><br />
Wenn die Autoren aber Äußerungen wie jene der erwähnten Diskussionsteilnehmerin unter Diskriminierungsverdacht stellen, interpretieren sie etwas in diese Äußerungen hinein, das so gar nicht gesagt worden ist. Wenn die Diskussionsteilnehmerin nicht akzeptieren will, daß Menschen aufgrund ihrer Verschiedenheit auch verschieden behandelt werden müssen, dann steht sie damit auf dem Boden des Grundgesetzes. Ich zitiere:<br /><br />
GG Artikel 3:<br />
„(1) Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich.<br />
(2) Männer und Frauen sind gleichberechtigt. Der Staat fördert die tatsächliche Durchsetzung der
Gleichberechtigung von Frauen und Männern und wirkt auf die Beseitigung bestehender
Nachteile hin.<br />
(3) Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache,
seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen und politischen Anschauungen
benachteiligt oder bevorzugt werden. Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt
werden.“<br /><br />
Aus diesem Grundgesetzartikel geht eindeutig hervor, daß das Grundgesetz kategorienblind ist. <b>Alle Menschen sind gleich zu behandeln</b>. Das gilt sowohl für die <b>Benachteiligung</b> wie auch für die <b>Bevorzugung</b>. Laut Grundgesetz darf es also auch keine Überkompensation für vergangenes Unrecht, also für historische Diskriminierungen geben, im Sinne einer Umkehrung dieser Diskriminierungen, denn das würde der Gleichheit aller Menschen zuwiderlaufen. Da aber der Staat aktiv auf die „Beseitigung bestehender Nachteile“ hinarbeiten soll, sind bestimmte vorübergehende Sonderregelungen wie etwa die Quotenregelung durchaus grundgesetzlich erlaubt.<br /><br />
Wenn sich also die Diskussionsteilnehmerin gegen eine grundsätzliche Sonderbehandlung bislang diskriminierter Gruppen wendet, bewegt sie sich auf dem Boden des Grundgesetzes. Welche Motive die Diskussionsteilnehmerin für ihre Äußerung hat, ist dabei irrelevant. Diese Motive können verschieden sein. Für eine wissenschaftliche Studie ist es jedenfalls unangemessen, ihr ein bestimmtes Motiv zu unterstellen.<br /><br />
Ich persönlich finde es auch merkwürdig, wie sehr sich der Umgang mit Kategorien geändert hat. Ich kann mich noch an Zeiten erinnern, wo liberale, progressiv eingestellte Menschen bemüht gewesen waren, nicht in ,Schubladen’ zu denken. Auch bildete es einen wesentlichen Teil der eigenen Emanzipation, der ,Selbstverwirklichung‛, sich von allen einengenden Kategorien, die einen auf eine bestimmte Identität festzulegen versuchten, zu befreien. „Farbenblindheit“ galt als eine Grundvoraussetzung für die Überwindung rassistischer Vorurteile.<br /><br />
Wenn es um die Ermöglichung von Vielfalt und Verschiedenheit ging, galt Gleichheit mal als unverzichtbares Fundament für die Persönlichkeitsentfaltung und für die Verwirklichung von individuellen Lebensentwürfen. Mein eigenes Konzept, an dem ich in meinem Blog arbeite, Ich = Du, geht davon aus, daß Vielfalt nur auf der Basis von Gleichheit möglich ist.<br /><br />
Dieser Satz ist nicht umkehrbar. Vielfalt als Basis von Gleichheit funktioniert nicht. Der Krieg gegen jeden, der anders ist als ich, liegt unter der Voraussetzung von Vielfalt näher als der gesellschaftliche Frieden auf der Basis von Gleichheit.<br /><br />
Wilhelm von Humboldt hat das mal auf die Formel gebracht, daß eine Gesellschaft um so gebildeter ist, je mehr individuelle Verschiedenheit sie zulassen kann, ohne auseinanderzubrechen. Darin steckt positives und negatives: positiv ist die Wertschätzung von individueller Vielfalt. Negativ ist die Gefahr, die von der Vielfalt ausgeht. Eine Gesellschaft droht nämlich dort auseinanderzubrechen, wo sie nicht mehr der Raum ist, in dem sich die Verschiedenen als Gleiche begegnen können.Detlef Zöllnerhttp://www.blogger.com/profile/13781633811318837703noreply@blogger.com0tag:blogger.com,1999:blog-2586555323621430111.post-53526020787873434512023-10-05T13:44:00.020+02:002023-10-18T08:57:43.039+02:00Rassismus bei Michael Ende?In einem Beitrag zur DLF-Rubrik „Andruck“ rezensierte Jens Rosbach die Doktorarbeit von <a href="https://download.deutschlandfunk.de/file/dradio/2023/10/02/julian_timm_der_erzaehlte_antisemitismus_dlf_20231002_1930_2f5de87c.mp3" target="_blank">Julian Timm: „Der erzählte Antisemitismus“</a>. Darin wird Michael Endes Kinderbuch „Der Wunschpunsch“ vorgeworfen, daß es antisemitische Klischees enthalte. Dabei geht es, so weit ich es verstanden habe, nicht darum, daß Michael Ende bewußt jüdische Menschen oder vermeintlich jüdisch aussehende Menschen diffamiert, sondern darum, daß er solche Klischees verwende, ohne explizit einen solchen Bezug herzustellen. Es handelt sich also gewissermaßen um ,freischwebende‛ Klischees, zu denen man diesen Bezug auf Juden erst herstellen muß, um sie kenntlich zu machen.<br /><br />
Mit anderen Worten: der Autor Michael Ende unterschlägt den Bezug, was dann der Doktorand Julian Timm für ihn nachholt. Denn der weiß natürlich, was auf die ‚Juden‛ paßt und wie sie aussehen.<br /><br />
Ich kann mit solchen Verdachtskritiken nicht viel anfangen. Sie mögen zutreffen oder sie mögen nicht zutreffen. Was man davon zu halten hat, ist meist mehr oder weniger denen überlassen, die sich davon getriggert fühlen. Tatsächlich läßt Julian Timm offen, ob Michael Ende selbst überhaupt darum gewußt hatte, als er diese Klischees in seiner Erzählung verwendete. Darauf kommt es ihm nicht an. Es kommt einzig darauf an, daß man Ende so verstehen kann; ob es nun zutrifft oder nicht.<br /><br />
Es ist jedenfalls leicht, auf diese Weise überall fündig zu werden, wenn man nur entsprechend danach sucht. Was aus den Sedimenten der Lebenswelt in uns aufsteigt und auf die eine oder andere Weise schreibend oder sprechend in Worte gefaßt wird, haben wir nicht unter Dauerkontrolle. Nicht einmal Schriftsteller. Erst recht nicht, wenn andere ihren Texten einen Sinn unterlegen, den sie schreibend nicht zu antizipieren vermochten.<br /><br />
Jedenfalls nimmt Jens Rosbach Timms Buch zum Anlaß, um das ganze Werk von Michael Ende unter Rassismusverdacht zu stellen. Ein Verweis auf den „Jim Knopf“ liegt da nur allzunahe. Man denke nur an das N-Wort-Kind Jim Knopf. Diese Art von meist nicht weiter ausgeführten Andeutungen, mal eben so ad hoc in den Raum gestellt, erweist sich durchaus gelegentlich als unzutreffend. So ist es jedenfalls beim „Jim Knopf“.<br /><br />
Neben dem N-Wort ist Mandala ein weiterer Aufreger, das in früheren Ausgaben des „Jim Knopf“ noch „China“ genannt worden war. Übrigens durch Eingriff des Verlags. Michael Ende selbst hatte die von ihm beschriebene Phantasiewelt „Mandala“ von Anfang an nicht China, sondern eben Mandala genannt. Alle darin beschriebenen Merkwürdigkeiten spielen mit den entsprechenden Vorurteilen, die man damals so von China hatte. Aber sie <b>spielen</b> eben nur damit. Wie sich im weiteren Verlauf der Erzählung erweist, hat Michael Ende Mandalas eigentlichen Kern in etwas anderem gesehen. Und das hat nichts mit Rassismus zu tun. Aber um das zu verstehen, muß man den „Jim Knopf“ eben gelesen haben.<br /><br />
Noch einmal in aller Deutlichkeit: ich bin mir durchaus bewußt, ein alter weißer Mann zu sein, und ich kann mich nicht von Rassismen aller Art pauschal freisprechen. Ich betrachte es als eine Lebensaufgabe, diesen menschenverachtenden Einstellungen immer und überall auf die Spur zu kommen und sie zu kontrollieren. Die Sedimente, aus denen sowas kommt, sind tief.<br /><br />
Aber was ich nicht akzeptiere, ist das eilfertige Auffinden von vermeintlich anrüchigen Stellen in der Literatur, um sich auf diese Weise, wie ich den Verdacht habe, selbst reinzuwaschen. Wer den Rassismus bei anderen kenntlich machen kann, muß bei sich selbst nicht mehr so genau hinsehen. Das ist mir zu billig. Da mache ich nicht mit.Detlef Zöllnerhttp://www.blogger.com/profile/13781633811318837703noreply@blogger.com0tag:blogger.com,1999:blog-2586555323621430111.post-38549300824613274382023-10-01T00:00:00.129+02:002023-10-01T00:00:00.165+02:00Bilder, Zeichen, Wörter, PhänomeneDie ältere der beiden Traditionslinien, die die Semiotik Aleida Assmann zufolge bis heute bestimmen (vgl. „Im Dickicht der Zeichen“ (2023), S.14ff.), beruht auf dem Ähnlichkeitsprinzip und reicht in die Anfänge der Menschheitsgeschichte zurück (vgl. Assmann 2023, S.16). Zu diesen Traditionslinien siehe auch meinen Blogpost vom <a href="https://erkenntnisethik.blogspot.com/2023/09/semiotik-zur-bedeutungslosigkeit-von.html" target="_blank">03.07.2023.</a><br /><br />
Die ältere Traditionslinie brachte Schriftsysteme hervor, deren Zeichen Bilder sind, wie etwa die ikonischen Schriftzeichen der Chinesen und Japaner und andere ostasiatische Schriftsysteme. Die Hieroglyphen bilden einen Sonderfall, weil sie zwar auch aus ikonischen Schriftzeichen bestehen, die aber keine Bedeutungsträger sind, sondern Laute, insbesondere Konsonanten codieren. (Vgl. Assmann 2023, S.98f.) Wir haben es also eigentlich mit einer Konsonantenschrift zu tun.<br /><br />
Das Ähnlichkeitsprinzip, das den Zeichengebrauch im weitaus größeren Teil der Menschheitsgeschichte dominierte, bestand in einem tiefverwurzelten, noch heute virulenten Bedürfnis der Menschen, die Welt zu lesen. Die Welt so zu lesen bzw. zu deuten, daß wir etwas über unser unmittelbares Schicksal erfahren, was wir als nächstes tun sollen und wovor wir uns fürchten müssen.<br /><br />
Zeichen waren also anfangs Naturphänomene wie Wettererscheinungen, bestimmte Pflanzen und Tiere und dergleichen mehr. So ist es also kein Wunder, wenn zu den ersten kulturellen Zeugnissen kleine Skulpturen und Höhlenmalereien gehören. Diese Objekte und Bilder waren Zeichen, die Naturgegenstände abbildeten.<br /><br />
Günter Anders schreibt in seinem Buch „Die Antiquiertheit des Menschen“ (1956), daß anders als gesprochene Worte und geschriebene Texte Bilder ihre S/P-Struktur verbergen. Mit S/P-Struktur meint er die grundlegende Syntax von Sprache, die darin besteht, daß von etwas (dem Subjekt des Satzes) etwas (ein Prädikat) ausgesagt wird. Auf diese Weise, so Anders, wissen wir bei der Sprache immer, woran wir sind, nämlich daß sie sich nur auf die Wirklichkeit bezieht, aber diese Wirklichkeit nicht ist.<br /><br />
Bei Bildern hingegen ist die Ähnlichkeit zwischen Bild und Wirklichkeit, etwa bei einer Photographie, so groß, daß wir nicht mehr erkennen, daß wir es auch hier mit etwas zu tun haben, das die Wirklichkeit, also das Subjekt, um das es im Bild geht, nur prädiziert. Denn die Photographin wählt ihren Gegenstand und den Blickwinkel und die Blende etc. sehr genau aus, bevor sie auf den Auslöser drückt. Möglicherweise arrangiert sie sogar den Hintergrund so, daß ihr Gegenstand auf die von ihr erwünschte Weise zur Geltung kommt.<br /><br />
Bilder haben also eine S/P-Struktur, auch wenn wir sie nicht ohne weiteres erkennen wie bei der gesprochenen Sprache. Deshalb haben wir es bei Bildern auch mit Sprachzeichen zu tun, es sei denn wir haben es mit einem abstrakten Kunstwerk zu tun, in dem alles Gegenständliche aus der Komposition entfernt wurde und das der erklärten Absicht des Künstlers zufolge niemand mehr etwas ,sagen‛ will.<br /><br />
Zugleich wird noch etwas deutlich. Ich verstehe mich selbst als Phänomenologen. Für mein Denken sind Phänomene wichtig. Sie bilden die Grundlage meines Denkens. Durch die Lektüre von Assmanns Buch habe ich folgendes gelernt: Zeichen sind keine Wörter, und Bilder sind keine Phänomene.<br /><br />
Phänomene ,geben‛ sich. Das heißt: sie <b>zeigen</b> sich. Assmann nennt solche Phänomene „indexikalische Zeichen“. (Vgl. Assmann 2023, S.54) Wo sich was zeigt bzw. ,gibt‛, befinden wir uns im Bereich der Phänomenologie, und dieser Bereich bildet, richtet man sich nach Assmanns Definition, einen Teilbereich der Semiotik.<br /><br />
Bilder hingegen sind, so Assmann, „Repräsentationen“. Sie zeigen <b>etwas</b>, statt <b>sich</b>. Bilder hat jemand gemalt oder photographiert, um etwas zu zeigen. Sie sind „ikonische Zeichen“. (Vgl. Assmann 2023, S.54f.) Assmann zufolge wären also ikonische Zeichen, Bilder, keine Phänomene.<br /><br />
Inwiefern aber können Zeichen Symbole sein? Sie sind es so wenig, wie sie Wörter sind. Symbole können sowohl Wörter wie Bilder sein. Aber immer haben wir es bei Symbolen mit Sprachzeichen zu tun. Denn Bilder sind, obwohl sie ihre S/P-Struktur verbergen, Sprachzeichen. Im Grunde ist alles ein Symbol für irgendetwas, wie wir es von der älteren Traditionslinie der Semiotik kennen: alles hat Bedeutung, vom einfachen Kieselstein bis hin zu den vertracktesten kulturellen Ritualen. Auf sprachlicher Ebene sind Symbole Metaphern. Auf nicht-sprachlicher Ebene kann sich alles in ein Symbol verwandeln, sobald wir etwas in der Natur und in unserer Umwelt mit einer Bedeutung versehen.<br /><br />
So sehe ich das. Aber Assmanns Definition von Zeichen und Symbolen ist das genaue Gegenteil meiner Definition. Assmann dekretiert: „Ihre (die Symbole ‒ DZ) Verbindung zur Sache, die sie vertreten, ist intransparent und beruht ausschließlich auf einem stabilen Code.“ (Assmann 2023, S.55) ‒ Die Bedeutungsebene vom Bild weg auf einen abstrakten Code zu verlagern, entspricht nicht mehr der älteren Traditionslinie, sondern der jüngeren, insbesondere seit dem linguistic turn. Nur Zeichen, nicht Symbole, werden ausschließlich durch Codes begründet, die keinen Referenten mehr haben. Bedeutungen werden hier durch die arbiträre Logik der Zeichendifferenz generiert.<br /><br />
Der Begriff des Symbols, als eine Verbindung zwischen verschiedenen Bedeutungsebenen (symbállein: zusammenwerfen, vergleichen), enthält immer einen Sinnbezug und ist deshalb referenziell. Das Symbol ist deshalb in erster Linie ein Sprachzeichen und kein Schriftzeichen. Auf der Ebene der Sprache sind Symbole Wörter bzw. Metaphern. Ansonsten sind sie alles, was für uns Bedeutung hat.<br /><br />
Horkheimer/Adorno bringen in der „Dialektik der Aufklärung“ (1947/69/88) das semiotische Zeichenkonzept in folgendem Zitat auf den Punkt: „Je vollkommener nämlich die Sprache in der Mitteilung aufgeht, je mehr Worte aus substantiellen Bedeutungsträgern zu qualitätslosen Zeichen werden, je reiner und durchsichtiger sie das Gemeinte vermitteln, desto undurchdringlicher werden sie zugleich.“ (DA, S.173)<br /><br />
Mit „Mitteilung“ spielen Horkheimer/Adorno auf den kybernetischen Informationsbegriff an. Sie warnen also vor der Gefahr, daß die Sprache in Informationsverarbeitung aufgeht.<br /><br />
Das ist das Problem mit den Semiotikern und übrigens auch mit den digitalen Technologien bis hin zur KI. Die Semiotiker zweckentfremden Begriffe, die bislang ganz wesentlich als Bewußtseinsbegriffe gedacht gewesen waren, um sie auf bewußtseinsfremde, mechanische Funktionen zu übertragen. So sollen Computerfunktionen eine Semantik haben. Und Computer ,kommunizieren‛ miteinander. Und Algorithmen bestehen plötzlich nicht mehr aus ganz auf ihre logische Funktion beschränkten, bedeutungsleeren Zeichen, sondern aus Symbolen.<br /><br />
Dies jedenfalls habe ich aus meiner Lektüre von Assmanns Buch gelernt: Zeichen sind keine Wörter, und Bilder sind keine Phänomene.Detlef Zöllnerhttp://www.blogger.com/profile/13781633811318837703noreply@blogger.com0tag:blogger.com,1999:blog-2586555323621430111.post-68618188770004155522023-09-22T11:58:00.012+02:002023-11-01T16:33:45.434+01:00Dialektik und RessentimentIn seinem Buch „Auch eine Geschichte der Philosophie“ (2019, 2 Bde.) macht Habermas ein überraschendes Eingeständnis. Er habe, so schreibt er, das „Thema der Unvernunft in der Geschichte“ bislang vernachlässigt. Im selben Buch, in dem er dieses Eingeständnis macht, zeichnet Habermas dennoch unverdrossen eine Vernunftsgeschichte nach, trotzig beteuernd, daß er auch weiterhin keine Geschichte der Unvernunft schreiben wolle.<br /><br />
Wenn Habermas von einer Unvernunft in der Geschichte schreibt, denkt man als Leserin oder Leser und vor allem er selbst als Vertreter der „Kritischen Theorie“ sogleich an die „Dialektik der Aufklärung“ (1944/69/88) von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno, die das Umschlagen von Vernunft und ihrer Geschichte in Unvernunft beschreiben. Als eine Freundin sah, wie ich in die „Dialektik der Aufklärung “ vertieft war, sprach sie ihren Respekt für dieses Buch aus, als einem Grundlagenwerk für kritisches Denken. Ich gestand, daß ich wegen einiger Textstellen, auf die ich gestoßen war, einige Zweifel hätte, die sie aber souverän beiseite wischte. Natürlich, meinte sie, sei das damals eine andere Zeit gewesen und deshalb auch kein Wunder, wenn da jetzt nicht alles politisch korrekt sei.<br /><br />
Deshalb möchte ich jetzt vor allem über die von mir inkriminierten Stellen berichten, ungeachtet des überwiegenden Großteils dieses Buches, das auch einem unverbesserlichen Fortschrittsoptimisten wie Habermas, sollte er es noch einmal lesen, ins Grübeln bringen könnte. Das erste, was mir auffiel, ist das Ressentiment, das Horkheimer/Adorno gegen den Jazz entwickelt haben. (Vgl. DA, S.135, 140, 144, 157, 162f. u.ö.) Der Jazz ist für sie eine Fortsetzung des Industriekapitalismusses, insofern er den Rhythmus von Fließband und Akkord auf die Freizeitaktivitäten der Ausgebeuteten überträgt und sie so fügsamer und brauchbarer macht für die Maximierung des Profits.<br /><br />
Von einem Ressentiment zu reden, scheint mir angemessen zu sein, denn die Ablehnung des Jazz durch die Faschisten war sicher auch den beiden Autoren nicht unbekannt. Und wohl auch nicht, daß damit unmittelbar ein gegen dunkelhäutige Menschen gerichteter Rassismus verbunden gewesen war.<br /><br />
Dazu paßt ein weiteres Ressentiment, das sich direkt gegen die „Neger in Harlem“ richtet, wobei es mir weniger um die Verwendung des N-Wortes geht, als vielmehr um die Unterstellung, es handele sich bei ihnen um „gierige Nachläufer“, ohne irgendein aufklärendes Wort zu den Umständen, die Horkheimer/Adorno dazu veranlaßten, so ein Urteil zu fällen. (Vgl. DA, S.179)<br /><br />
Insgesamt steht der Jazz für Kulturindustrie, wie übrigens auch das Kino und der Film, gegen die Horkheimer/Adorno ebenfalls ein Ressentiment entwickelt haben, gewissermaßen eine „Idiosynkrasie“, ein Wort, das die beiden insbesondere im Antisemitismus-Fragment immer wieder verwenden. Das Fragment zur Kulturindustrie (vgl. DA, S.128ff.) ist jedenfalls auch ressentimentgeladen. Die Kulturindustrie läßt den beiden Autoren zufolge als Totalität der individuellen Rezeption keine Chance.<br /><br />
Orson Welles werfen sie z.B. vor, daß alle seine „Verstöße gegen die Usancen des Metiers“ doch nur „als berechnete Unarten die Geltung des Systems um so eifriger bekräftigen“. (Vgl. DA, S.137) Dabei lassen sie beflissen unter den Tisch fallen, daß Orson Welles’ souveränes Spiel mit den Möglichkeiten des Films einen intellektuellen und ästhetischen Freiraum schafft, der der geistigen Beweglichkeit durchaus förderlich ist. Einmal in Bewegung gesetzt, kann sich diese Beweglichkeit auf alles richten: auch auf bzw. gegen die Kulturindustrie. Kein Wort auch zu Orson Welles‛ „Krieg der Welten“ (1938), mit dem er dem Radiopublikum seine unreflektierte Radiogläubigkeit vorhielt. Aufklärung im besten Sinne! Adorno und Horkheimer schweigen dazu.<br /><br />
Da ist es schon wieder amüsant, zu lesen, wie widerwillig Horkheimer/Adorno der künstlerischen Leistung in der Filmindustrie ihre Anerkennung zugestehen müssen. Wenn Horkheimer/Adorno einigen Produkten der Filmschaffenden „so feine Nuancen“ bescheinigen, „daß sie fast die Subtilität der Avantgarde erreichen“, dann ist dieses „fast“ vor allem ihrem Ressentiment geschuldet. Und wenn es ein Vorwurf sein soll, daß die Filmsprache sich an der „Alltagssprache“ orientiert, dann kann auch der Vorwurf der Nähe zum „logischen Positivismus“ nicht den Verdacht abwehren, daß hier jemand nicht begriffen hat, daß die Sprache immer und zuallererst Alltagssprache ist, und alle unsere ach so kulturell wertvollen geistigen Leistungen sich ihr verdanken. Letztlich müssen Horkheimer/Adorno den „Spezialisten“ ‒ gemeint sind die Experten der Filmproduktion vom Ton- und Bildtechnik über die Drehbuchautoren bis hin zur Requisite und Schnitt ‒ auch noch einen „letzte(n) Rest sachlicher Autonomie“ bescheinigen, wenn diese mit ihrem „Renommee“, gemeint ist wohl Kompetenz, der „Geschäftspolitik der Kirche oder des Konzerns“ Widerstand leisten. (Alle Zitate in DA, S.137)<br /><br />
Selbst eine der großen Kritiken, deren sich die „Kritische Theorie“ mit Recht rühmen darf, ihre Kritik am Patriarchat und an der damit verbundenen Unterdrückung der Frauen (vgl. DA, S.10, 17, 23, 29f., 37, 39, 57, 65, 72f., 79ff., 82f. 114, 117ff., 120, 184, 195, 223, 264ff., 269), ist bei Horkheimer/Adorno mit Ressentiments gegen die Frauen durchsetzt. So halten sie es für unwahrscheinlich, daß ein Mann seine Ehe zerstören würde. Die Schuld läge doch eher „bei der Frau“. (Vgl. DA, S.256)<br /><br />
An anderer Stelle, wo es um die Deformationen der Frauen geht, die sie durch das Patriarchat erleiden, heißt es: „Der Blutdurst des Weibes im Pogrom überstrahlt selbst den männlichen.“ (DA, S.267) ‒ Wie kommen Horkheimer/Adorno darauf? Welche Statistik liegt ihrer Aussage zugrunde? Soll man aus dem Blutdurst der Frauen vielleicht schließen, daß das Patriarchat die Männer friedliebender und konfliktscheuer gemacht hat?<br /><br />
Eine weitere durch das Patriarchat verursachte Deformation machen die beiden Autoren tatsächlich an dem Umstand fest, daß die Frauen neuerdings sozial und politisch aktiver werden: „Als soziale Hyäne verfolgt sie kulturelle Ziele. ... sie (die weibliche Opposition ‒ DZ) wird zur pervertierten Aggression des social work und des theosophischen Klatsches, zur Betätigung der kleinen Ranküne in Werktätigkeit und Christian Science.“ (DA, S.267)<br /><br />
Das Patriarchat hat aber noch weitere, insbesondere sexuelle Deformationen zur Folge. Dazu gehört die Homosexualität, gegen die Horkheimer/Adorno anscheinend ebenfalls ein Ressentiment haben. Um ihr negatives Urteil zu begründen, greifen Horkheimer/Adorno auf die Psychoanalyse zurück, was gerade aufgrund der dialektischen Methodik des Buchs keine gute Idee ist. Wenn die Dialektik psychoanalytisch zu argumentieren beginnt, verwandelt sie sich von einem Organ des Denkens in ein Organ des Verdachts. Und Denken, dessen Aufmerksamkeit durch einen Verdacht belastet ist, verwandelt sich leicht in Paranoia. Jedenfalls ist es wohl nach Ansicht der beiden Autoren psychoanalytisch gerechtfertigt zu behaupten, daß das „in Aggression umgesetzte Verpönte“ angeblich „meist homosexueller Art (ist)“. (Vgl. DA, S.201)<br /><br />
Natürlich ist auch die Psychoanalyse eine Form des Denkens. Aber Denken wiederum ist auch noch etwas anderes als Psychoanalyse. Wenn es anfängt, die Phänomene, die sich ihm geben, nicht mehr als solche ernstzunehmen, sondern sie grundsätzlich unter den Verdacht stellt, etwas anderes zu sein, hört es auf, Denken zu sein. Das „Verpönte“, also Ressentiment, ist das eine. Aber Homosexualität ist etwas ganz anderes. Eins hat mit dem anderen nichts zu tun.<br /><br />
Ganz zum Schluß heißt es dann nochmal: „Im faschistischen Kollektiv mit seinen Teams und Arbeitslagern ist von der zarten Jugend an ein jeder ein Gefangener in Einzelhaft, es züchtet Homosexualität.“ (DA, S.269)<br /><br />
Ich finde es schade, daß die wirklich lesenswerte Kritik an Kollektiven aller Art, die ich ebenfalls zu den großartigen Kritiken in dem Buch zähle, die uns auch heute, in Zeiten der Wiederkehr des Faschismusses, wieder viel zu sagen hat, durch solches Ressentiment desavouiert wird.<br /><br />
Aber Horkheimer/Adorno haben eine Entschuldigung. Die „Wahrheit“, so schreiben sie zu der 1969 erschienenen Neuausgabe ihres Buchs, also 22 Jahre nach seiner Ersterscheinung, habe einen „Zeitkern“, so daß manches von dem, was sie geschrieben haben, inzwischen als veraltet gelten müsse. (Vgl. DA, S.IX) Sie wollen das Buch deshalb als Dokument verstanden wissen. Außerdem, so heißt es an anderer Stelle: „... unfertig zu sein und es zu wissen, ist der Zug auch jenes Denkens noch und gerade jenes Denkens, mit dem es sich zu sterben lohnt.“ (DA, S.261)<br /><br />
Der Satz vom unfertigen Denken ist auf jene Intellektuellen gemünzt, die bereit sind, den Tod eines zum Strang Verurteilten mit der Begründung hinzunehmen, daß sein Denken fehlerhaft gewesen sei. (Vgl. DA, S.261) Unfertiges Denken ist fehlerhaft. Und da Denken immer unfertig ist, ist es auch immer fehlerhaft.<br /><br />
Insofern hat also meine Freundin recht. Die „Dialektik der Aufklärung“ ist ein Buch aus einer anderen Zeit und als solches kein Gegenstand der Bewertung im Rahmen einer ebenfalls zeitgebundenen political correctness. Es bleibt aber weiterhin die Aufgabe einer kritischen Auswertung, den bleibenden Einsichten in ihm auf die Spur zu kommen. Und zwar, gerade auch gegen Habermas, als eine nicht nur das Buch selbst betreffende Analyse einer Geschichte der Unvernunft.Detlef Zöllnerhttp://www.blogger.com/profile/13781633811318837703noreply@blogger.com0