„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Donnerstag, 4. Januar 2018

Jürgen Oelkers, Eros und Herrschaft. Die dunklen Seiten der Reformpädagogik, Weinheim/Basel 2011

1. Prolog: Begriffe und Tatsachen
2. Komplexe Mißbrauchssysteme
3. Strukturmerkmale einer Vorzeigeschule: Abbotsholme
4. Knabenliebe und pädagogischer Eros
5. Fluktuation von Personal und Klientel
6. Gesellschaftliche Verantwortung

Während meines Studiums hörte ich in einer Vorlesung zur Geschichte der Pädagogik zum ersten Mal vom „pädagogischen Eros“. Der Professor beschrieb das Verhältnis zwischen Lehrern und Schülern im antiken Griechenland am Beispiel von Sokrates, der für schöne junge Knaben schwärmte. Liebesdienste dieser Knaben bezeichnete Sokrates als angemessene Gegengabe für seine Weisheiten, die er mit ihnen teilte. Der Professor verwies auf den damaligen gesellschaftlichen Kontext, in dem niemand auf die Idee gekommen wäre, darin etwas Unanständiges zu sehen, und so nahm auch ich es achselzuckend zur Kenntnis, aufgrund meiner eigenen multikulturellen Weltanschauung gewohnt, die Sitten und Gebräuche anderer Länder und anderer Zeiten zu respektieren. Ich akzeptierte sogar, daß es auch in der modernen Pädagogik eine eigene Tradition des pädagogischen ‚Eros‘ gab, die aber – angeblich – nichts mit Sexualität zu tun habe. Tatsächlich ginge es dabei, so der Professor, um eine besondere Sensibilität des Pädagogen für seine Zöglinge, die es ihm ermögliche, diese in ihrer Individualität wahrzunehmen und zu fördern.

1989 kam der Film „Der Club der toten Dichter“ mit Robin Williams als Englischlehrer in die deutschen Kinos. Der Film spielt in einem konservativen US-amerikanischen Internat. Der Englischlehrer bricht in seinem Unterricht die autoritären und prüden Strukturen des Internats auf und animiert seine Schüler, ihren eigenen Verstand zu gebrauchen und ihre Gefühle durch das Lesen von Gedichten und mit Theaterspielen zu entdecken und ihnen Ausdruck zu verleihen. Zu den Dichtern, die die Jungen lesen, gehört auch Walt Whitman, auf den ich schon im letzten Blogpost mit Bezug auf Cecil Reddie und die „Love of Comrades“ zu sprechen gekommen bin. Diese ‚Kameradenliebe‘ ist Teil der Liedersammlung „Leaves of Grass“ (Whitman, 1855). Ein Gedicht in dieser Sammlung trägt den Titel „O Captain! My Captain!“.

Wenn ich mich recht erinnere, ermuntert der Englischlehrer alias Robin Williams seine Schüler, ihn so anzusprechen. Als einer seiner Schüler im Laufe der folgenden Skandalisierung seines Englischunterrichts durch Eltern und Kollegen Selbstmord begeht und der Englischlehrer entlassen wird, springen seine Schüler in der letzten Unterrichtstunde auf die Schultische und verabschieden ihren Lehrer mit „O Captain! My Captain!“.

Robin Williams spielt den Englischlehrer großartig, und sein Umgang mit den Schülern geht einem unter die Haut. So einen Unterricht und so einen Lehrer hätte man selbst gerne gehabt. Erst sehr viel später wurde mir klar, daß in diesem Film eine reformpädagogische Urszene reproduziert wurde: der Pädagoge, der ja wortwörtlich ein ‚Knabenführer‘ ist, wird zur Führerpersönlichkeit stilisiert, der die Schüler in Praktiken und Rituale der Selbstbefreiung einführt. Und das Wort ‚Führer‘ – in diesem Fall eben Captain – ist hier ganz wörtlich zu nehmen. Man denke z.B. an Gustav Wyneken (1875-1964), der, angeklagt wegen sexuellen Mißbrauchs, sich 1921 vor Gericht mit dem pädagogischen Eros verteidigte. In dem, was ihm vorgeworfen wurde, nämlich zwei Jungen in seiner ‚Kameradschaft‘ geküsst und nachts zu ihnen aufs Zimmer gekommen und ins Bett gestiegen zu sein, konnte er nichts Falsches erkennen. Der pädagogische Eros sei nichts anderes als der „natürliche() Ausdruck eines sehr innigen Liebesbundes eines Führers mit seiner Jugend“. (Vgl. Oelkers 2011, S.244)

In dieser kruden Rechtfertigung Wynekens kommen gleich zwei hochproblematische Momente zum Ausdruck: zum einen die Gemengelage von pädagogischer Professionalität, pädagogischem Pathos und unterdrückter Sexualität und zum anderen ein gleichermaßen unreflektierter wie rücksichtslos umgesetzter Machtanspruch, der gelegentlich sogar – im Falle Paul Geheebs (1870-1961) – über Leichen ging. Damit kommen wir zu den hochproblematischen Charakteren der Gründerpersönlichkeiten Hermann Lietz, Gustav Wyneken und Paul Geheeb.

Beginnen wir mit Hermann Lietz (1868-1919), den Oelkers als „Aristokrat“ mit „ausgeprägte(m) Nationalismus und Antisemitismus“ beschreibt (vgl. Oelkers 2011, S.81 und S.98), dessen „Moral für ihn einfach von selbst evident (war), ohne ‚eines weiteren Beweises‘ zu bedürfen“ (vgl. Oelkers 2011, S.98). Gelegentliche Unzufriedenheiten mit einzelnen Schülern brachte er nicht verbal, sondern durch demonstratives Ignorieren zum Ausdruck:
„Jeden Abend nach der ‚Abendkapelle‘ erfuhren die Schüler, ob Lietz mit ihnen zufrieden war oder nicht, was sie ablesen konnten an der Art, wie er sie beachtete oder über sie hinwegsah.“ (Oelkers 2011, S.98)
Seine Lehrkräfte betrachtete Lietz als „Handlanger“, die er auch gerne Schülern gegenüber menschlich herabsetzte:
„Er achtete sie (seine Lehrkräfte – DZ) gering, kümmerte sich kaum um sie und ignorierte manche sogar völlig. Seine Urteile über sie waren oft entwertend und kamen Demütigungen gleich, er kündigte rasch und vertraute nur seinen Lieblingen unter den Schülern ... .“ (Oelkers 2011, S.105)
Lietzens Besonderheit im Vergleich zu den anderen Gründerpersönlichkeiten – gewissermaßen seine persönliche Version des pädagogischen Eros – bestand in einem militärisch geprägten Nationalismus:
„In allen drei Landerziehungsheimen, die Lietz bis 1904 gründete, gab es eine geregelte Schießausbildung und in Haubinda existierte sogar ein eigenes Regiment, in dem militärisch exerziert wurde und Angriffsübungen der deutschen Infanterie einstudiert werden konnten ... .“ (Oelkers 2011, S.109f.)
Während sich die Schulbehörden für Lietzens Landerziehungsheime nicht weiter interessierten, war das deutsche Militär sehr von ihnen angetan. (Vgl. Oelkers 2011, S.110) Zum ersten Weltkrieg setzte Lietz seinen ganzen pädagogischen Einfluß ein, um seine Schüler dazu zu bringen, sich freiwillig für den Kriegsdienst zu melden. Letztlich meldeten sich insgesamt 150 ehemalige Schüler zum Kriegsdienst, einschließlich Lietz selbst. (Vgl. Oelkers 2011, S.111) Viele von seinen Schülern starben, und Lietz ‚tröstete‘ die Mütter damit, daß „ein solches ‚Schicksal‘ ... für eine ‚treue, hingebende, echte, deutsche Mutter‘ niemals ‚sinnlos‘ oder ‚trostlos‘ sein“ dürfe. (Vgl. Oelkers 2011, S.112) Für Lietz selbst erfüllte sich seine pädagogische Arbeit in der „Bereitschaft“ seiner Schüler, „sich im ‚großen Kampf‘ zu opfern“. (Vgl. Oelkers 2011, S.111)

Noch wenige Wochen vor Kriegsende veranlaßte Lietz einige Schüler, „ein Telegramm an Feldmarschall Paul von Hindenburg zu schicken“. (Vgl. Lietz 2011, S.116) Darin erklärten sie ihren festen Willen, den Krieg weiter fortzuführen, „zu jedem Opfer bereit“. Oelkers hält dazu lakonisch fest:
„Neu ist, dass der Leiter einer Reformschule seine Schüler, für die er auch den Eltern gegenüber Verantwortung übernommen hat, in einem längst verlorenen Krieg als ‚Kanonenfutter‘ anbietet.“ (Oelkers 2011, S.116)
Von Gustav Wynekens Strafprozeß wegen sexuellen Mißbrauchs war schon die Rede gewesen. Wyneken war Oelkers zufolge der „zentrale Verfechter des pädagogischen Eros in der deutschen Reformbewegung“. (Vgl. Wyneken 2011, S.149) Schon Wyneken nutzte den pädagogischen Eros auch als Rechtfertigung für sexuelle Übergriffe gegenüber seinen Schülern. (Vgl. Wyneken 2011, S.244) Diesem Muster folgten auch andere entsprechend veranlagte Lehrer wie etwa Otto Kiefer, ein bekennender Pädophiler, der von 1918 bis 1935 an der Odenwaldschule arbeitete; was an sich schon ein beachtlicher Zeitraum ist angesichts der generell hohen Fluktuationsrate in der Lehrerschaft an Landerziehungsheimen: „...  nur wenige Lehrerinnen und Lehrer blieben solange wie etwa Otto Kiefer.“ (Oelkers 2011, S.161)

Lehrer und Erzieher konnten nach allgemeiner Auffassung in den Landerziehungsheimen „gar nicht genug ‚erotisch‘ veranlagt()“ sein. (Vgl. Oelkers 2011, S.140) Zwar wurde dabei – zumindest theoretisch – streng zwischen Sexualität und Eros unterschieden. Aber der praktische Effekt war lediglich, daß nun der ganze pädagogische Umgang in den Landerziehungsheimen – sexuell oder nicht – unterschiedslos als ‚erotisch‘ klassifiziert wurde. Pädophil veranlagte Lehrer konnten also sicher sein, daß sie, gleichgültig was sie taten, immer auf der sicheren Seite standen. So verteidigt z.B. Alfred Andreesen (1886-1944), Nachfolger von Hermann Lietz, einen wegen sexuellen Mißbrauchs angeklagten ehemaligen Mitarbeiter aus Haubinda mit einem Gutachten, das dem Mitarbeiter bescheinigte, daß alle seine Handlungen nur dem pädagogischen Eros verpflichtet gewesen seien:
„In dem Gutachten findet sich wiederum die Unterscheidung zwischen Sexualität und pädagogischem Eros, die gemäß Andreesen ... ‚nichts miteinander‘ zu tun hätten, womit den Tätern ein Passepartout für Übergriffe jeglicher Art geliefert wurde, weil sie sich wie Wyneken vor Gericht immer auf den ‚pädagogischen Eros‘ berufen konnten. Andreesen toleriert in seinem Gutachten Zärtlichkeiten mit Schülern, den nackten Umgang mit ihnen und selbst das Küssen von Schülern gilt als Ausdruck pädagogischer Zuneigung.“ (Oelkers 2011, S.271)
Für Gustav Wyneken war im Sinne dieses pädagogischen Eros eine pädophile Veranlagung auf Seiten des Erziehers geradezu eine Voraussetzung, um in seiner Freien Schulgemeinde Wickersdorf gute pädagogische Arbeit leisten zu können. Er hielt die „‚echte und edle Paiderastia‘ für den anzustrebenden Idealfall der Erziehung“. (Vgl. Oelkers 2011, S.247) Damit vertrat Wyneken durchaus keine Einzelmeinung. In einem Buch über „Freundschaft und Sexualität“ (1927) findet sich die bemerkenswerte Aussage eines Lehrers:
„Die Pädagogik ist das eigentümlichste Feld des Päderasten“. (Zitiert nach: Oelkers 2011, S.148)
Paul Geheeb galt im Unterschied zu Lietz und Wyneken als geborener Charismatiker, dem es leicht fiel, sofort Kontakt insbesondere zu Kindern und Jugendlichen zu finden:
„Er ist der einzige der vier Schulleiter, Cecil Reddie eingeschlossen, dessen Herrschaftsformen nicht Furcht oder Arroganz waren, sondern dem subtilere Mittel zur Verfügung standen.“ (Oelkers 2011, S.129)
Aber es gibt auch andere Beschreibungen von Geheeb, in denen er als gleichermaßen „entrückt“ wie „unheimlich“ dargestellt wird. (Vgl. Oelkers 2011, S.134) Tatsächlich waren die Bindungen, die Geheeb zwischen sich und seinen Mitmenschen zu stiften verstand, sehr einseitig und erinnern an das Gebaren eines Gurus, der völlige Hingabe an seine Person einfordert, selbst aber völlig unberechenbar in seinem Verhalten gegenüber von ihm abhängigen Menschen ist. In einem Extremfall führte das zum Selbstmord von Geheebs Sekräterin, Lily Schäfer, mit der er neben seiner Ehe mit Edith Geheeb (geb. Cassirer) ein Verhältnis hatte, das er abrupt, ohne jede Erklärung abbrach. (Vgl. Oelkers 2011, S.158 und 200f.)

Genauso skrupellos verhielt sich Geheeb auch Schülern gegenüber:
„‚Eros‘ signalisiert Nähe, aber was Geheebs Beziehungen konkret gestaltet hat, war strategisches Verhalten, innere Distanz und Kälte. Er half, wo es ihm nützlich war, brach Beziehungen abrupt ab und war ein blendender Selbstdarsteller, der sich nicht scheute, sein Charisma für seine Zwecke einzusetzen. Geheeb war weder naiv noch selbstlos.“ (Oelkers 2011, S.182)
Geheebs Rücksichtslosigkeit zeigt sich in dem Fall einer achtzehnjährigen Schülerin, deren Mutter gestorben war und die schon längere Zeit den Halt verloren hatte. Geheeb übernahm das Mädchen in seine Obhut und sie blühte unter seinem Einfluß auf und fand wieder Freude am Leben. Dann ließ er auch sie abrupt fallen und entließ sie von einem Moment auf den anderen aus der Odenwaldschule:
„Was genau vorgefallen war, lässt sich wohl nicht mehr rekonstruieren. Odas Tante Gerda Schottmüller war von 1917 bis 1925 Mitarbeiterin der Odenwaldschule und wurde so Zeugin der Vorfälle. In einem Brief an Geheeb stellte sie ihm die ‚bange Frage‘, warum er die Verantwortung gegenüber Oda so unmittelbar vor dem Abitur ‚von sich gelegt‘ habe ..., obwohl Oda nur deswegen an die Odenwaldschule gekommen war, weil er persönlich die ‚volle Verantwortung für ihre hiesige Existenz – speziell in menschlicher Beziehung‘ übernommen hatte ... . Das Versprechen war ihm offenbar egal. ... er entzog ihr seine Gunst und strafte sie mit Liebesentzug, und dies vor dem Hintergrund eines von ihm selbst diagnostizierten ‚labilen‘ Charakters.“ (Oelkers 2011, S.194f.)
Der pädagogische Eros beruhte der Theorie nach auf einer besonderen pädagogischen Bindung zwischen Erziehern und Zöglingen. Tatsächlich war die damit verbundene Loyalität immer nur eine Einbahnstraße, da die Gründerpersönlichkeiten und auch einige ihrer pädagogischen Mitarbeiter nur ihre eigene Veranlagung im Blick hatten, die sie auf Kosten ihrer von ihnen abhängigen Klientel auslebten. Der Verdacht ist nicht von der Hand zu weisen, daß die Gründung der Landerziehungsheime und ihre Entwicklung in den ersten 40 Jahren ihres Bestehens keinem anderen Zweck als den egoistischen Interessen ihrer Gründer dienten. Mit Pädagogik hatte das gar nichts zu tun, und mit Reformpädagogik erst recht nicht.

Aus heutiger Perspektive ist es unfaßbar, daß viele Generationen von Pädagogen überzeugt gewesen waren, daß pädagogischer Eros auf platonische Weise gelebt werden könne und mit ‚unedlem‘ Sex nicht verwechselt werden könne. Das konnte so weder für die Jugendlichen, die in der Pubertät besonders verletzlich und für verdeckte und verdrängte sexuelle Avancen aller Art extrem empfänglich sind, noch für Erwachsene gelten, die vehement auf der Trennung von Eros und Sexualität bestehen, aber seltsamer Weise behaupten, daß eine pädophile Veranlagung für die pädagogische Arbeit hilfreich sein könne. Und das zu einer Zeit, wo ein Sigmund Freud die vielen verschiedenen sexuellen Äußerungsformen und Verdrängungsweisen in der menschlichen Entwicklung analysierte und offenlegte.

Für Pädagogen darf nichts anderes gelten als für Ärzte, Anwälte und Therapeuten: ihre persönlichen Motive welcher Art auch immer dürfen in der Arbeit mit ihren Klienten keinerlei Rolle spielen. Das ist der Kern jeder Professionalisierung. Wer dazu nicht fähig ist, sollte sich an den Rat von Pink Floyd halten: „Leave them kids alone!“

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2 Kommentare:

  1. Vor einiger Zeit führte ich eine Debatte über den pädagogischen Eros und entdeckte den Blog von Therese Kosowski "Wie Platon missbraucht wurde"
    http://blog.therese.kosowski.net/2010/05/21/wie-platon-missbraucht-wurde-2/
    Dort findet sich auch ein Beitrag über Janusz Korczak und die andere Reformpädagogik
    http://blog.therese.kosowski.net/2010/05/08/janusz-korczak-2/

    Damals fand ich noch eine Magisterarbeit von Franziska Timm, in der 2007 vor dem Odenwald-Skandal auch ein Kapitel über Gustav Wyneken enthalten ist.

    Vielleicht interessiert es dich.
    Noch ein Frohes Neues Jahr 2018

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    1. Vielen herzlichen Dank für die Links und für die Grüße!

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