„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Donnerstag, 3. August 2017

Aleida Assmann, Formen des Vergessens, Göttingen 2016

1. Zusammenfassung
2. Gestaltwahrnehmung
3. Palimpsest-Städte
4. gebrochene Biographien
5. Breite Gegenwart

Aleida Assmann bezeichnet Städte wie Danzig, Wrozlaw, Riga oder Vilnius als „exemplarische Palimpsest-Städte“ (vgl. Assmann 2016, S.120), weil sie im Laufe ihrer Geschichte von verschiedenen Völkern für sich beansprucht wurden, von denen sich bis heute sichtbare und verborgene Spuren im Stadtbild bzw. im wörtlich zu nehmenden ‚Untergrund‘ erhalten haben. Dabei verwendet Assmann den philologischen Begriff des Palimpsests als geologische, psycho-historische, kulturpolitische und städtebauliche Metapher für einen historischen Schichtungsprozeß (vgl. Assmann 2016, S.119), der mich sehr an mein anthropologisches Modell des Menschen als einem Anachronismus erinnert. Darauf möchte in diesem Post näher eingehen.

Die Stadt bildet in dem umfassenden Sinn der Palimpsestmetapher den dreidimensionalen Speicherraum einer „historische(n) Komplexität“, die die jeweiligen Bewohner bzw. die Mehrheitsbevölkerung oder auch ganz konkret die gerade herrschende Machtelite in ihrem Sinne zu dominieren versucht:
„Die verräumlichte Geschichte hat eine durch Überbauung und Ablagerung kultureller Restbestände ‚gewachsene‘ Struktur, zumal auf dem Balkan, wo die Kulturen und Gruppen in einer ‚tausendjährigen gegenseitigen Durchdringung‘ existieren.()“ (Assmann 2016, S.121f.)
Aleida Assmann faßt die Erkenntnisse aus dem Buch „Architektur der Erinnerung“ (1994) von Bogdan Bogdanović, dem ehemaligen Bürgermeister von Belgrad, folgendermaßen zusammen:
„Diese historische Komplexität zu zerstören und ihre eigene Geschichte absolut zu setzen, sei das Ziel der nationalistischen Städtezerstörer gewesen.“ (Assmann 2016, S.121f.)
Solchen politischen Überschreibungen unbequemer Erinnerungszeichen entspricht der Begriff des Palimpsests: schon beschriebene Pergamente werden ausradiert, um sie neu verwenden zu können. Es wird also eine tabula rasa geschaffen, so als habe es vor den aktuellen Besatzern niemanden in den eroberten Städten gegeben. Die tabula-rasa ist neben dem Palimpsest die häufigste von Assmann verwendete Metapher. (Vgl. Assmann 2016, S.57ff., 143, 159f. u.ö.) Wir kennen sie in diesem Blog schon aus meiner Auseinandersetzung mit der schwarzen Pädagogik von John Locke. (Vgl. meine Posts vom 15.03. bis zum 17.03.2012)

Am Beispiel der israelischen Initiative „Zochrot“ (‚wir erinnern uns‘) zeigt Assmann, wie eine 2002 gegründete NGO mit Hilfe von Touristenführungen in israelischen Nationalparks auf ehemalige palästinensische Dörfer aufmerksam macht, die durch Umbenennungen von Orten, Plätzen und Straßen „ins Vergessen abgesenkt werden“ sollten (vgl. Assmann 2016, S.164f.):
„Aus diesem Kampf gegen das Vergessen ist die Praxis der Stadtführungen hervorgegangen, die diese Gruppe in Jerusalem und anderen Städten regelmäßig anbietet.“ (Assmann 2016, S.165f.)
Aber abgesehen von solchen Widerstandsformen bildet die Stadt selbst in ihrer Komplexität einen Widerstandsraum gegen alle Versuche der Unterdrückung von Erinnerungen. Bogdan Bogdanović verweist auf die Dauerhaftigkeit von alten städtischen Siedlungen gegenüber der Kurzlebigkeit von „Sprachen und Nationen“. (Vgl. Assmann 2016, S.121) Die Stadt bildet, wie Assmann schreibt, eine „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“, also einen lebendigen Anachronismus:
„Im Stadtraum ist Geschichte oft geschichtet und heterogen, durchkreuzt und verdichtet in den Besiedlungsphasen unterschiedlicher Bevölkerungsgruppen.“ (Assmann 2016, S.119)
Man könnte vielleicht sogar sagen, daß selbst die völlige Zerstörung einer Stadt ihr nur eine weitere neue Erinnerungsschicht hinzufügt.

Aleida Assmanns Beschreibung der Stadt hat einige Parallelen zu meinem anthropologischen Modell des Individuums als einem Knoten- und Transformationspunkt verschiedener Entwicklungsprozesse. So wie die Stadt aus geologischen, architektonischen und kulturellen Schichten aus verschiedenen Epochen ihrer Geschichte besteht, die von jeder Generation neu ‚ausgegraben‘ und/oder ‚überbaut‘, also neu angeeignet und gedeutet werden muß, so reproduzieren sich in jedem Menschen auf je verschiedene Weise biologische und kulturelle Prozesse, und das Individuum ist gezwungen, sich zu ihren anachronistischen Entwicklungslogiken zu verhalten.

Assmann selbst verweist auf den spezifischen Charakter der kulturellen Reproduktion. Im Unterschied zur biologischen Reproduktion ist die kulturelle Reproduktion auf symbolische „Sicherungsformen der Wiederholung“ angewiesen:
„Die kulturelle Reproduktion, die ja nicht über die Gene weitergegeben wird, ist angewiesen auf Symbole, die über Institutionen wie Elternhaus, Schule und öffentliche Medien an nachfolgende Generation(en) weitergegeben, vermittelt und mit diesen immer wieder neu ausgehandelt werden.“ (Assmann 2016, S.206)
Sowohl die Stadt als auch die Individuen bilden schon auf der Ebene der kulturellen Reproduktion Schlachtfelder verschiedener Kulturen: „Kultur war von jeher ein Bestandteil des Krieges.“ (Assmann 2016, S.129) – Ins Extreme gesteigert betreiben die IS-Terroristen bei der Zerstörung menschheitlicher Kulturstätten keine Überschreibung mehr, sondern nur noch die völlige Vernichtung jeder kulturellen Erinnerung überhaupt. (Vgl. Assmann 2016, S.124ff.)

Beim menschlichen Individuum kommt noch die biologische Ebene als eigenständiger Entwicklungsprozeß mit seinen eigenen Rhythmen und Sicherungsformen hinzu, der nach einem Ausgleich mit den kulturellen Prozessen verlangt. Ähnlich wie bei der kulturellen Reproduktion haben wir es in der Biologie zwar nicht mit einem in Symbolen, sondern in ‚Genen‘ verankerten Gedächtnis zu tun, aber eben dennoch auch mit einem Gedächtnis, in das sich individuell und kulturell gefärbte Erinnerungen epigenetisch einschreiben, die sich wiederum auf die folgenden Generationen und ihre Lebensführung auswirken. Und auch hier ist es wieder an den Individuen, das Beste für sich daraus zu machen.

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