„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Mittwoch, 21. Juni 2017

Anmerkungen zu Axel Meyers „Adams Apfel und Evas Erbe. Wie die Gene unser Leben bestimmen und warum Frauen anders sind als Männer“ (München 2015)

Axel Meyer ist Evolutionsbiologe. Ihm geht es seinen eigenen Worten zufolge um die Macht der Gene und um ihre Grenzen. (Vgl. Meyer 2015, S.16) Hinsichtlich der Intelligenz hält Meyer fest:
„Erblichkeitsberechnungen der Variation von Intelligenz reichen von 30 Prozent bis zu 80 Prozent. ... Im Detail hängt die Größe dieses Wertes davon ab, welcher Aspekt von Intelligenz gemessen wird, in welcher (sozialen) Population dies geschieht und vor allem in welchem Lebensalter die Erblichkeit errechnet wurde. Denn interessanterweise steigt die gemessene Erblichkeit mit dem Lebensalter an.“ (Meyer 2015, S.256)
Es ist also offensichtlich, gerade was den Hinweis auf die Altersabhängigkeit betrifft, daß wir es bei der Intelligenz, was genau sie im Einzelfall auch immer sein mag, mit einem komplexen Persönlichkeitsmerkmal zu tun haben. Und genau mit diesen komplexen Persönlichkeitsmerkmalen machen es sich Evolutionsbiologen wie Axel Meyer gerne leicht. Das zeigt sich z.B. bei der Erblichkeit von Krankheiten, wo er sich zu folgender Aussage versteigt:
„Aber auch ein noch so gesunder Lebenswandel wird uns nicht retten können, wenn unsere Gene uns für eine Krankheit prädisponieren.“ (Meyer 2015, S.19)
Gerade lese ich ein Buch von Peter Spork: „Gesundheit ist kein Zufall“ (2017), mit dem bezeichnenden Untertitel: „Wie das Leben unsere Gene prägt“. Dieser Untertitel bildet Sporks zentrale These. Nicht die Gene prägen uns und unser Leben, sondern wir prägen mit unserem Leben die Gene! Gesundheit ist für Spork deshalb auch weder Schicksal noch Zufall:
„Die Gesundheit eines Menschen ist nicht die bloße Summe beider voneinander unabhängiger Komponenten (Erbe und Umwelt – DZ), sondern viel viel mehr. Sie ist das Produkt des beständigen, teils hochdynamischen, teils lang anhaltenden Zusammenwirkens von Erbe und Umwelt. Und das heißt eben auch: Unser Handeln wirkt. Immer!“ (Spork 2017, S.48f.)
Mit ,Produkt‘ meint Spork die Multiplikation, nicht die Summe dreier Faktoren: Genetik, individuelles Handeln und Umwelt. Wenn einer der drei Faktoren auf Null gesetzt wird, ist das Gesamtergebnis Null. Die Gesundheit ist deshalb nicht das Gegenteil von Krankheit, sondern ein ständiger Anpassungsprozeß an die Lebensumstände eines Individuums, wozu auch die Krankheit gehört:
„Gesundheit ist nicht das Gegenteil von Krankheit. Sie ist ein Prozess. Sie ist Anpassungsfähigkeit, geglückte Prägung und Widerstandskraft, resultiert aus einer ausgeglichenen Persönlichkeit und bewirkt diese zugleich.“ (Spork 2017, S.328)
Obwohl Spork sich auf dieselben genetischen Erkenntnisse bezieht wie Axel Meyer, kommt er zu völlig gegenteiligen Schlußfolgerungen; vor allem, weil er im Unterschied zu Meyer die Epigenetik einbezieht, das biologische Substrat der individuellen Persönlichkeit eines Menschen. Durch die „perinatale Prägung“, also durch die epigenetische Prägung des Erbguts während der Schwangerschaft und der ersten Monate nach der Geburt (vgl. Spork 2017, S.140ff.) entsteht eine individuelle Persönlichkeit, die auch ihr ganzes weiteres Leben hindurch durch ihr Handeln die Aktivierbarkeitsmuster ihrer Gene modifiziert. Denn im Unterschied zur DNA ist die Epigenetik reversibel. (Vgl. Spork 2017, S.351f.)

Insbesondere komplexe Persönlichkeitsmerkmale sind Spork zufolge niemals das Ergebnis des Genoms, sondern des Epigenoms, das die Gene zu komplexen Genaktivierbarkeitsmustern zusammenfügt, die sich von Mensch zu Mensch unterscheiden, ohne daß sich an der eigentlichen DNA irgendetwas ändert. Gesundheit ist ein ähnlich komplexes Persönlichkeitsmerkmal wie übrigens auch die Intelligenz:
„Intelligenz ist ebenso wie Gesundheit eines der komplexesten Merkmale überhaupt. Es setzt sich aus dem Zusammenspiel einiger tausend() Gene mit den entsprechenden Anweisungen zur Genregulation zusammen: Bildung, sozialer Status, Wohlstand, psychische Stabilität, Zugang zu Medien und vieles mehr mischen hier entscheidend mit.“ (Spork 2017, S.74)
Schon aufgrund der simplen Tatsache, daß wir Menschen miteinander mehr als 99 % des Genoms gemeinsam haben, möglicherweise sogar 99,9 %, kann ein so komplexes Merkmal wie ‚Intelligenz‘, bei dem mehrere tausend komplex verschaltete Gene zusammenspielen müssen, nicht auf Unterschiede im Genom zurückgeführt werden. Führt man sich vor Augen, daß wir mit Schimpansen mehr als 98 % des Erbguts teilen (vgl. Spork 2017, S.74f.), dann wird vollends klar, daß die (relativ) großen phänotypischen Unterschiede zwischen ihnen und uns auf anderem Wege zustandekommen.

Was den Menschen betrifft: Setzt man im Dreiklang aus Erbe, Umwelt und individuellem Handeln die Umwelt konstant – also gleiche Eltern, gleiche Bildung, gleiche Kultur etc. – dann macht das Genom nur noch einen Unterschied von maximal fünf Punkten auf der IQ-Skala:
„Nur wenn die Umweltbedingungen zweier Menschen ähnlich sind und ähnlich waren, steigt der messbare genetische Anteil am verbleibenden Intelligenz-Unterschied zwischen ihnen also tatsächlich auf jene 30 bis 80 Prozent, die aktuelle Zwillingsstudien als Wert angeben. ... Diese maximal 80 Prozent machen dann aber absolut gesehen nur wenige IQ-Werte aus, vielleicht drei bis fünf, und dieser Unterschied ist letztlich belanglos.“ (Spork 2017, S.79f.)
Wer sein Buch aufmerksam gelesen habe, so Spork, sei auf einem „aktuelleren Stand der Wissenschaft als die meisten Gesundheitsfachleute“. (Vgl. Spork 2017, S.329) Ich füge hinzu: die Leserin, der Leser seines Buches ist auch auf einem aktuelleren Stand der Wissenschaft als bei der Lektüre von Axel Meyers Buch, das ich vor einiger Zeit in diesem Blog besprochen habe. (Vgl. meine Posts vom 25.10. bis 01.11.2015)

Peter Sporks Buch liefert eine Fülle von Material zum Zusammenhang zwischen den verschiedenen Entwicklungsebenen, die den Menschen ausmachen: Biologie, Kultur bzw. Umwelt und Individuum. Es legt den Gedanken nahe, daß der Anachronismus zwischen den Entwicklungsebenen vor allem ein Ergebnis der letzten 10.000 Jahre ist, während der Steinzeitmensch über Jahrhunderttausende hinweg mit seiner Biologie im Einklang lebte. Eine ausführlichere Besprechung von Sporks Buch mit einer neuen Graphik zu den Entwicklungsebenen habe ich für Anfang September geplant.

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Samstag, 17. Juni 2017

Skulptura Münster 2017

1. ‚Noch nicht‘
2. Weitere Suchbewegungen
3. Wem gehört der common ground?

Am Samstagmorgen las ich in der WN, die zwei ganze Doppelseiten und die Titelseite der Skulptura widmete, daß der westfälische Rhythmus darin bestehe, daß alle zehn Jahre etwas passiert. Das gefällt einem unverbesserlichen Technologiekritiker wie mir ungemein gut: Wer also Smartphone oder Handy nicht zehn Jahre benutzt, bevor er sich ein neues zulegt, ist kein richtiger Westfale.

Immerhin hat sich der westfälische Rhythmus damit erheblich beschleunigt, wenn man bedenkt, daß früher Jahrhunderte hatten vergehen müssen, damit Ereignisse wie die Wiedertäufer oder der westfälische Frieden stattfinden konnten.

Am Abend vorher hatte ich in den münsterländischen Fernsehkanälen Bilder von Ausstellungsbesuchern gesehen, die über das Hafenbecken wandelten. Das hatte mich so beeindruckt, daß ich heute da unbedingt hinwollte. Als ich meinem Vater das sagte, meinte er: „Das würde ich auch tun!“ – Aber mit seiner geschwollenen Backe, die er von einer Zahnextraktion zurückbehalten hatte, war er momentan nicht besonders unternehmungslustig.

Ich hatte mich mit Annette und Heinz für den Vormittag zu einer Skulpturenbesichtigung verabredet. Unsere erste Station war das Pumpenhaus. Dort befand sich eine weitere Skulptur von Aram Bartholl: „5 Volt“. Vor einem Holzfeuer saß ein Student und hielt einen an einer Rute befestigten Thermogenerator über das Feuer. Im Hintergrund waren noch zwei weitere Thermogeneratoren an einer Mauer angelehnt. Eine Ausstellungstouristin hatte gerade eben die Rute, die sie zwischendurch hatte halten dürfen, an den Studenten zurückgegeben und machte jetzt ein Detailphoto von den am hinteren Ende der Rute angebrachten USB-Anschlüssen, mit denen man dank der 5 Volt Handy, Smartphone oder Tablet aufladen konnte. Der Student erklärte uns, daß der Künstler auf die ursprünglichste Form der Energienutzung, das Feuer, aufmerksam machen und eine Linie zur modernen Technologie ziehen wolle.

Als weitere Grüppchen ausländischer Touristen mit asiatischem Aussehen auftauchten, setzte der Student seine Erläuterungen auf Englisch fort. Es wurde fleißig geknipst. Heinz war von den Sprachfertigkeiten des Studenten beeindruckt.

Wir setzten unseren Weg fort, und ich führte meine Freunde am Tattoogeschäft am Hansaring vorbei zum Hafen. Dort fanden wir eine Gruppe von Skulpturtouristen an einer improvisierten Treppe, von der eine Doppelreihe von Ballons zur anderen Seite des Hafenbeckens führte. Auf der Wasserfläche befand sich nur ein einzelner Mann in orangefarbener Weste.

Wir stellten unsere Fahrräder ab und näherten uns der Treppe. Vor der Treppe war eine Kette gespannt, und die Leute warteten offensichtlich darauf, daß irgendjemand die Kette abnahm und den Weg freimachte. Im Hafenbecken hatte die Künstlerin Ayse Erkmann wenige Zentimeter unterhalb der Wasseroberfläche eine Brücke anbringen lassen, die von weitem den Eindruck erweckt, daß die Leute, die darüber gehen, über das Wasser wandeln. Ich hatte mir sogar eigens für dieses Skulpturprojekt ein Handtuch mitgenommen, um mir hinterher die Füße abzutrocknen.

Jetzt aber ging nur dieser Mann in der orangenen Weste über die Brücke, von Ballon zu Ballon, und drückte die Ballons unter die Brücke. Die Ballons waren wohl nur der Sicherheit halber angebracht und gehörten nicht zum Projekt. Der Security-Mann, wie Heinz ihn nannte, kam mit seiner Arbeit so enervierend langsam voran, daß ein Ende seiner anscheinend hochwichtigen Tätigkeit nicht so bald abzusehen war. Gelegentlich flutschte ihm ein Ballon aus der Hand, und man wünschte sich beim Zuschauen sehnlichst, daß er diesen verdammten Ballon endlich richtig zu fassen bekam und verstaute, damit er zum nächsten Ballon auf der anderen Brückenseite waten konnte usw. Die Brücke und unsere Aufmerksamkeit gehörten ihm! Zumindestens so lange es noch Ballons zu versenken gab.

Die Zuschauer waren schon ganz unruhig und wollten unbedingt endlich auf die Brücke. Heinz meinte zu mir, ich sollte die Kette ignorieren und den Anfang machen. Es gab einen kleinen Wortwechsel zwischen uns, in dem ich auf meine gute Erziehung verwies und Heinz damit konterte, daß Kunst darin bestünde, Normen zu verletzen. Schließlich gab ich nach, zog Sandalen und Socken aus, nahm die Kette ab und stieg zur Brücke runter.

Ich schaffte es, ein paar Meter unbemerkt vom Security-Mann auf der Brücke durch das Wasser zu waten. Dann aber bekam ich von ihm die erwartete Abfuhr: Es sei, so wurde ich ärgerlich belehrt, noch nicht erlaubt, die Brücke zu betreten.

Als ich wieder zum Hafenrand raufstieg, fragte mich eine junge Frau, was der Mann gesagt habe und äußerte dann die Vermutung, daß die Brücke freigegeben werde, wenn alle Ballons unter der Brücke verstaut wären. Wir drei jedenfalls gingen jetzt erstmal in eins der Hafen-Cafés und suchten uns dort einen Platz mit Blick über den Hafen. Heinz erzählte von seinem Freund Abdul, der sich immer darüber wundere, daß man in Deutschland für alles eine Erlaubnis brauche. In Marokko könne man sich einfach irgendwo an die Straße stellen und selbstgemachte Pasteten verkaufen, wenn einem der Sinn danach stünde. Vielleicht kommt mal ein Polizist vorbei und verlangt Geld. Aber nicht wegen des ungenehmigten Pastetenstands, sondern weil Polizisten in Marokko das einfach immer tun. In Marokko käme ein Polizist niemals auf die Idee, einem irgendwas zu verbieten.

Inzwischen hatte der Security-Mann die Brücke freigegeben und ein Trupp Touristen war auf der Brücke. Also machte auch ich mich nochmal auf den Weg und wandelte über das Wasser. Aber als das Gitter der Brücke unter meinen nackten Fußsohlen zu schmerzen begann, war’s das erstmal für mich.

Die nächste Station, zu der ich meine Freunde führte, war „Nietzsches Rock“ von Justin Matherly. Als Heinz damit begann, etwas über aus der Mode geratene Herrenmäntel zu erzählen, unterbrach ich ihn und wies ihn auf den Felscharakter der Skulptur hin. Bei der Skulptur angekommen geriet Heinz in Entzücken. Er schwärmte von der Erhabenheit des Felsens und brachte emphatisch seine Begeisterung zum Ausdruck. Ich war zunächst etwas irritiert, aber dann begriff ich, daß er uns nur ein Beispiel für westfälische Ironie bot: Der Westfale an sich ist generell unbeeindruckt. Wenn er doch mal Begeisterung an den Tag legt, dann ist das meistens Ironie.

Am Servatiiplatz befand sich gerade eine Gruppe von Ständen zum Thema ‚umweltfreundliches Essen‘. Annette war die ganze Zeit eher still gewesen. Im Café hatte sie sich den Katalog der Skulptura angeschaut, aber sonst hatte sie eher wenig von ihren Eindrücken preisgegeben. Der Anblick der Stände zauberte ein Lächeln auf ihr Gesicht. Sie schlug mit leuchtenden Augen vor, uns da mal ein wenig umzuschauen. Anschließend gingen wir zu Feldmann und aßen zu Mittag.

Danach trennten wir uns. Annette und Heinz radelten nach Hause, und ich suchte die dritte Skulptur von Aram Bartholl auf: „3 Volt“. Die Skulptur befand sich im Fußgängertunnel am Schloßplatz und bestand aus zwei oder drei LED-Leuchtern. Unter den LEDs waren brennende Teelichter angebracht, deren Wärmeenergie in Strom umgewandelt wurde. Als ich den Fußgängertunnel betrat, ging gerade eine junge Frau mit der Leiter zu einem der Leuchter, um ein ausgebranntes Teelicht auszutauschen. Ein Ausstellungsbesucher hielt seine Kamera möglichst tief am Boden senkrecht nach oben gerichtet unter einen der anderen Leuchter, um eine Aufnahme zu machen, die möglicherweise den künstlerischen Wert der Installation durch ein aus einer ungewöhnlichen Perspektive gemachtes Photo etwas aufwerten sollte, oder vielleicht auch um ein Rätselbild zu erstellen, das er dann Freunden und Verwandten zeigen konnte, um sie raten zu lassen, was er da wohl photographiert haben könnte.

Nachdem ich den Spannungstiefpunkt der Skulptura erreicht hatte, machte ich mich auf den Weg zu Annette und Heinz. Auf der Promenade fuhr ich an einer Skulptur von Nicole Eisenmann vorbei, die ich nicht gesucht hatte, aber sofort als solche erkannte: fünf um ein rechteckiges, flaches Wasserbassin gruppierte, überlebensgroße Menschenplastiken. Es war schönstes Wetter, warm und sonnig, und auf dem Rasen waren viele Leute, die sich einfach nur erholten oder wegen der Skulptur da waren. Aber keiner kam auf die Idee, in das Bassin zu steigen und ein wenig zu kneipen. Ich war zu schnell vorbeigeradelt und kann deshalb nicht sagen, ob sich im Hintergrund irgendwo Security-Männer aufhielten, die das Betreten des Bassins verboten bzw. noch nicht freigegeben hatten.
Fazit: Ich schreibe hier immer „Skulptura“, aber eigentlich heißt es „Skulptur Projekte Münster“. Als Skulptura habe ich diese Skulpturprojekte 1987 kennengelernt. Das Wort gefällt mir besser. „Skulpturprojekte“: das klingt irgendwie unverbindlich, als handelte es sich nicht wirklich um Skulpturen, sondern eben um ‚Projekte‘, irgendwie um Skulpturen herum oder auf dem Weg dorthin. „Skulptura“ klingt wie ein Fanal, „Skulptur-Projekte“ klingt Wischiwaschi.
Gertrude Stein sagte einmal: „Eine Rose ist eine Rose ist eine Rose ...“ So sehe ich das auch. Skulpturen sind Skulpturen sind Skulpturen. Und Performance ist Performance. Beides ist nicht dasselbe. Die Münsteraner Skulptursommer hatten immer die Frage nach dem öffentlichen Raum gestellt. Angesichts der Security um die Brücke im Hafenbecken herum sollte man auch fragen: Wem gehört die Kunst?
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Freitag, 16. Juni 2017

Skulptura Münster 2017

1. ‚Noch nicht‘
2. Weitere Suchbewegungen
3. Wem gehört der Common Ground?

Am Freitag machte ich mich wieder auf den Weg nach Münster. Mittags sollte eine Pressekonferenz stattfinden, und ich ging davon aus, daß der Presse auch etwas zum Photographieren geboten würde und daß deshalb die Skulpturen inzwischen alle aufgestellt sein müßten. Inzwischen hatte ich auch gelesen, daß die von mir vermißte Skulptur von Michael Smith am Tattoo-Geschäft am Hansaring im Tattoo-Geschäft selbst bestand. Ich hatte es nur nicht als Skulptur erkannt.

Auch die Skulptur von Cosima von Bonin und Tom Burr hinter dem LWL, die ich am Mittwoch vermißt hatte, war schon dagewesen: sie hatte im Tieflader mit der leeren Kiste bestanden, so daß das am Boden befestigte Schild hinter dem Tieflader also völlig korrekt dort angebracht worden war, wo es hingehörte.

Immerhin können einem diese Schilder also bei der Suche nach den Skulpturen weiterhelfen. Außerdem befinden sich bei einigen Skulpturen für die Dauer der Ausstellung eigens dafür angestellte Studenten, die einem alles erklären, was, wie ich finde, durchaus nötig ist. Zwar behaupten die Ausstellungsverantwortlichen, daß man keinen Kunstverstand brauche, um die Skulptura zu besuchen; aber ich kann das nur so deuten, daß es dort, wo es nichts zu verstehen gibt, auch keinen Verstand braucht.

Das Kunstinteresse des Publikums scheint sich sowieso darin zu erfüllen, alles zu photographieren, was sich mit Hilfe von Studenten und Schildern als Skulptur auszuweisen vermag.

Ich machte mich also am frühen Vormittag ein weiteres Mal auf den Weg nach Münster und schaute zunächst am Kinderspielplatz beim Fernmeldeturm vorbei. Dort war am Eingang des Spielplatzes diesmal tatsächlich ein Schild angebracht und wies auf ein „12 Volt“ genanntes Projekt von Aram Bartholl hin. Ich suchte wieder den ganzen Spielplatz ab, fand aber nichts. Also fuhr ich weiter zur Andreas-Hofer-Straße, weil mein Vater mir am Abend zuvor von einer Lichtertafel und einer Klanginstallation an der ehemaligen Oberfinanzdirektion erzählt hatte. Ich hatte bei meinen Besuch am Tag vorher bei Annette und Heinz eine Sendung des Münsterlandfensters zu dieser Klanginstallation gesehen und wollte mir das ansehen. Ich fand aber nichts, weder die Installation noch die ehemalige OFD. Beides war nicht da: die eine noch nicht, die andere nicht mehr.

Dann fuhr ich ins Stadtzentrum und entdeckte am Servatiiplatz „Nietzsches Rock“ von Justin Matherly. Mit ‚Rock‘ ist nicht etwa ein altmodischer Herrenmantel gemeint, sondern ein Felsen bzw. ein Berggipfel in Sils Maria. Ich frage mich, ob Nietzsche, wenn er von seinem ‚Rock‘ gehört oder gelesen hätte, nicht vielleicht doch eher an seinen Mantel gedacht hätte. Der ‚Rock‘ befindet sich nur wenige Meter vom Einheitsdenkmal auf derselben Wiese entfernt: zwei aneinandergekettete Betonstücke. Felsen und Beton: da gibt es schon mal eine Gemeinsamkeit. Ob „Nietzsches Rock“ vielleicht auf diesen Aspekt der deutschen Geschichte hinweisen soll?

Ich kaufte mir in der Buchhandlung im ehemaligen Landesmuseum einen der gerade frisch gelieferten Kataloge für sehr preiswerte 15,--. Als ich nach einem Faltblatt mit den Standorten fragte, sollte ich dafür 3,-- zahlen. Nicht sehr günstig, und ich verzichtete auf das Faltblatt. Hätte ich ein Smartphone oder ein entsprechendes Handy gehabt, hätte ich mir die „Skulptur-Projekte App“ runterladen können. Aber da ich mich dieser Technologie verweigere, mußte ich weiterhin mit der schlechten Photokopie der WN-Seite klarkommen. Auch im Katalog befindet sich kein Lageplan. Übrigens bedürfen auch einige ‚Skulpturen‘ der Ergänzung durch ein Smartphone, ohne das einem der volle Kunstgenuß vom Künstler verweigert wird. Ich habe mich dieser Ausgrenzung gefügt und gar nicht erst nach ihnen gesucht.

Jedenfalls erfuhr ich über den Katalog, daß „Nietzsches Rock“ auf Gehhilfen gebaut ist, die unterhalb der Skulptur, die nicht direkt auf dem Rasen aufliegt, zu sehen sind. Der ganze Felsen erwecke so den Eindruck, als schwebe er. Von dem Einheitsdenkmal unweit der Skulptur ist keine Rede. Allerdings erwähnt der Katalog, daß der Felsen in Sils Maria Nietzsche zu dem Satz von der „ewigen Wiederkehr des Gleichen“ inspiriert habe. Man könnte also, schlußfolgerte ich, „Nietzsches Rock“ auch als Warnung vor der beständig drohenden Wiederkehr von totalitären Gesellschaftssystemen verstehen.

Ich war so sehr von mir und meinen inhaltsschweren Gedankengängen beeindruckt, daß ich beschloß, für diesen Tag genug gesehen und nachgedacht zu haben. Ich radelte zu Annette und Heinz, traf dort aber niemanden an. Also aß ich erstmal in der Warendorfer Straße ein Eis und fuhr dann zur Andreas-Hofer-Straße. Ich hatte dank des Katalogs jetzt eine genaue Adresse und wollte nochmal nach der Skulptur sehen, von der mein Vater mir berichtet hatte. An der betreffenden Stelle befiand sich dann aber keine Lichtertafel, geschweige denn eine Klanginstallation. Stattdessen stand da ein Gerüst mit einer Aussichtsplattform, die ich beim ersten Mal Vorbeifahren nicht beachtet hatte. Ich ging die Treppe rauf und blickte auf eine riesige Baustelle mit Baggern und Kränen: das Gelände der abgerissenen Oberfinanzdirektion. Als ich wieder runterging, stand da ein Rentner mit einem Smartphone und photographierte ein Detail der Treppe: das Geländer. Als er mich sah, sagte er:

„Da haben die Bauarbeiter doch wirklich gute Arbeit geleistet.“
„Mag sein!“, sage ich. „Aber wo ist die Skulptur?“
Der Mann zuckt mit den Schultern und zeigt dann auf die Baustelle: „Das ist die Skulptur.“
Dann lacht er freundlich und geht seiner Wege.
„Immerhin!“, dachte ich. „Das Geländer der Treppe zur Aussichtsplattform war ihm wohl ein Photo wert gewesen.“

Ich machte einen dritten und letzten Versuch, die Skulptur beim Fernmeldeturm zu finden. Als ich mein Fahrrad abgestellt hatte und im zunehmenden Nieselregen den Spielplatz betrat, forderte mich jemand am hinteren Rand des Platzes freundlich auf, näher heranzukommen. Ich ging zu den Büschen, hinter denen ich den unsichtbaren Sprecher vermutete, und tatsächlich stand dort ein Student mit Regenschirm und zeigte mir den kleinen versteckten Pfad, auf dem ich zu ihm herunter kommen konnte.

Als ich bei ihm ankam, sah ich einen Grill, auf dem sich ein Wärmeenergieumwandler befand. Von diesem Wärmenergieumwandler führte ein Kabel zu den Büschen, von den Büschen zu einer Stange und von der Stange zu dem Fernmeldeturm, an dem auf halber Höhe ein Router angebracht war. Der Student erklärte mir alles detailliert und wies darauf hin, daß der Router einen Zugang zu einer Website ermögliche, auf der erklärt werde, wie man offline geht.

Wir kamen miteinander ins Gespräch. Ich erzählte ihm von meinen bisherigen Bemühungen, Skulpturen zu entdecken und zu besichtigen. Außerdem versuchte ich, ein, zwei Kriterien aus dem Ärmel zu schütteln, anhand deren man ein Kunstwerk erkennen kann: „Kunst“, postuliere ich, „muß etwas mit Können und mit Erkennen zu tun haben!“
Der junge Mann, Student und Künstler aus Düsseldorf, nickt und meint: „Meine Mutter denkt auch so über Kunst!“
Ob ich denn wisse, fragt mich der Student, was eine Performance sei.
Da wurde mir deutlich, daß er mich zur älteren Generation zählte. Dabei hatte ich mich, in Erinnerung an meine eigene Studentenzeit, gleich mit ihm solidarisch gefühlt, als er sagte, er verdiene sich hier auf der Skulptura etwas dazu, indem er täglich fünf Stunden bei dem Grill ausharre.

Ich bin also so eine Art Rentner auf Skulpturensuche. Zwar noch nicht direkt Rentner, aber immerhin auf dem Weg dorthin.

Als mein Vater mir am nächsten Tag die WN auf den Frühstückstisch legte, fand ich darin eine ausgiebige Berichterstattung zur Skulptura. Unter anderem las ich dort einen Satz von Johann Nestroy: „Kunst ist, wenn man’s nicht kann. Denn wenn man’s kann, ist es keine Kunst.“

Und ansonsten kann man ja auch die Schilder lesen oder einen Studenten fragen.

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Donnerstag, 15. Juni 2017

Skulptura Münster 2017

1. ‚Noch nicht‘
2. Weitere Suchbewegungen
3. Wem gehört der Common Ground?

Ich hatte letzte Woche frei und wollte das unbedingt für einen Besuch der Skulptura in Münster nutzen. Entsprechend enttäuscht war ich, als Annette mir mitteilte, daß die Skulptura erst am Wochenende begann. Das verkürzte die vier Tage, die ich vorgesehen hatte, auf den Samstag, denn am Sonntag war die Rückreise geplant.

Dann dachte ich mir aber, daß die Skulpturen ja schon in den Tagen vorher aufgestellt werden würden. Schließlich konnte man das wohl kaum an einem Tag bewerkstelligen. Da hatte ich allerdings noch ein relativ naives Verständnis von Skulpturen: einigermaßen kompakte Gebilde, die auf festgefügten Fundamenten verschraubt werden und die man gleich als solche erkennt. Ich stellte mir vor, daß ein ganzer Fuhrpark von LKWs und Kränen und Baggern nötig sei, um die 35 Objekte zu installieren.

Ich machte mich also am Mittwoch von meiner ‚Basis‘ aus, mein Elternhaus in der Nähe von Münster, mit meinem Fahrrad auf den Weg, in der Tasche die Photokopie eines Skulpturenplans aus der WN. Ich hatte mir einige Skulpturen auf meiner Route am südöstlichen Rand von Münster ausgesucht und wollte mich von dort aus in das Stadtzentrum vorarbeiten. Als ich mich der Stadtgrenze näherte, begegnete ich auffällig vielen großen blonden Frauen auf großen Fahrrädern, und ich spielte vergnügt mit dem Gedanken, ob sie wohl schon zur Skulptura gehörten, nicht ahnend, was mir bevorstand.

Das erste Objekt, das ich aufsuchte, war noch nicht aufgestellt. Es befand sich noch nicht am Fernmeldeturm, den ich ein paar Mal umradelte, ohne irgendetwas Skulpturenähnliches zu entdecken. Auf der photokopierten WN-Seite war ein Hinweis auf einen Kinderspielplatz, den ich erst fand, als ich eine in der Nähe gärtnernde Einheimische danach fragte. Auf dem Kinderspielplatz befanden sich zwar einige Skulpturen, aber ich bezweifelte, daß Schaukel, Klettergerüst und Rutsche einzeln oder im Verbund etwas mit der Skulptura zu tun hatten.

Die nächste Skulptur, die ich aufsuchte, befand sich am Hansaring. Beziehungsweise sie befand sich ‚noch nicht‘ am Hansaring, wie ich dachte, denn als ich vor dem Tattoo-Geschäft stand, war nichts Skulpturähnliches zu entdecken. Und auch am Hafen, dem nächsten Standort, war weit und breit keine Skulptur, weder diesseits noch jenseits des Hafenbeckens. Am Albersloher Weg erspähte ich auf einer Industriebrache eine Betonkonstruktion, die durchaus eine Skulptur von Oscar Tuazon hätte sein können; allerdings hätte sie genauso gut ein natürlicher Bestandteil der Industriebrache sein können, und es war mir dann zu mühsam, mich über das unwegsame Gelände zu kämpfen, nur um genau das festzustellen.

Da sich die meisten Skulpturen im Zentrum innerhalb des Promenadenrings befinden sollten, machte ich mich dann dorthin auf den Weg. Am ehemaligen Landesmuseum, dem LWL, sollten laut Photokopie gleich drei Skulpturen installiert sein. Ich radelte also zum Domplatz und erkundete die LWL-Fassade sowie den Vorplatz, ohne fündig zu werden. An einem Straßenschild war etwas Undefinierbares angekettet, das durchaus als Skulptur in Betracht kam. Ich stellte also mein Fahrrad ab, um hinzugehen und es genauer zu inspizieren, als mich ein Museumsangestellter aufhielt. Er wies mich darauf hin, daß ich das Fahrrad da nicht stehen lassen könne, weil sonst die Studenten auf die Idee kämen, ebenfalls ihre Fahrräder dort abzustellen. Verständlicherweise, wie ich fand, denn wo sollten die Studenten ihre Fahrräder auch sonst hinstellen: vor dem Fürstenberghaus gegenüber dem LWL hatten sich in früheren Zeiten hunderte und möglicherweise sogar tausende von abgestellten Fahrrädern geballt. Jetzt befand sich da nur noch eine Baustelle und kein einziges Fahrrad mehr.

Aber der Museumsangestellte war so nett und wies mich auf eine Skulptur an der Fassade des LWL von John Knight hin, die ich als solche nicht erkannt hatte: drei in einem Metallrahmen untereinander gruppierte Wasserwaagen an der rechten, schiffsbugähnlich vorspringenden Gebäudekante des LWL. Ich hatte sie als natürlichen Bestandteil der Fassade wahrgenommen. Auch jetzt, nach dem Hinweis des Museumsangestellten, fiel es mir schwer, sie als eigenständige Skulptur zu erkennen.

Auf der anderen Seite des LWL stand ein großer Tieflader mit einem schwarzen Kasten auf der Ladefläche. Am hinteren Teil des Tiefladers war ein Bauarbeiter damit beschäftigt, ein Schild auf dem Pflaster zu verschrauben. Das Schild wies auf eine Skulptur von Cosima von Bonin und Tom Burr hin, die sich an dieser Stelle (noch nicht) befand. Ich linste vorsichtig in die schwarze Kiste auf dem Tieflader, die halb geöffnet war, konnte aber in der schwarzen Dunkelheit nichts entdecken. Sie schien leer zu sein. Auf dem Platz hinter dem LWL befindet sich noch eine andere Skulptur, die ich schon von früher kannte, und ich fragte mich, ob Kiste und Tieflader wohl dafür bestimmt waren, diese Skulptur wegzuschaffen, um sie dann durch die aktuelle Ausstellungsskulptur zu ersetzen, auf die das neue Schild hinter dem Tieflader hinweisen sollte. Allerdings befand sich das Schild an der falschen Stelle des kleinen Platzes, und beide, die mir schon bekannte Skulptur und das Schild, schienen nichts miteinander zu tun zu haben.

Ich machte mich also frustriert wieder auf den Heimweg. Für den Donnerstag verzichtete ich auf weitere Skulpturbesichtigungen und besuchte stattdessen Freunde in Münster und in meinem Heimatdorf.

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Samstag, 3. Juni 2017

Philipp Blom, Die Welt aus den Angeln. Eine Geschichte der Kleinen Eiszeit von 1570 bis 1700 sowie der Entstehung der modernen Welt, verbunden mit einigen Überlegungen zum Klima der Gegenwart, München 2017

(Carl Hanser Verlag, fester Einband, 304 S., 24,-- €)

1. Zusammenfassung
2. Desiderat einer Anthropologie
3. Kompromittierte Aufklärung

Am Ende seines Buches bezeichnet Philipp Blom alle, die sich nur noch „darum sorgen zu behalten, was sie haben“, pauschal als Aufklärungskritiker. (Vgl. Blom 2017, S.254) Das ist in zweierlei Hinsicht ärgerlich: zum einen deshalb, weil Blom selbst nicht mit Kritik an den Aufklärern spart. So bezeichnet er z.B. Voltaire (1694-1778) als ersten „Neoliberalen“ (vgl. Blom 2017, S.243), weil er einerseits für sich selbst und die vermögende Bürgerschicht universelle Menschenrechte in Anspruch nahm, aber gleichzeitig keine Probleme damit hatte, Sklaven und Leibeigene für sich arbeiten zu lassen:
„Herrschaft über Kolonialvölker und über die Armen in den eigenen Ländern wurde zuerst christlich, dann aufklärerisch begründet, aber sowohl von Christen wie auch von Aufklärern nur selten radikal angegriffen. ... ein Dilemma für die Gesellschaften des Westens ... Ihr moralischer Anspruch gründet sich auf die Idee von Demokratie und universellen Menschenrechten und ist der Aufklärung verpflichtet, ihr wirtschaftlicher Erfolg und ihr Wohlstand aber gründen sich auf ein anderes Erbe des 17. Jahrhunderts: Wachstum, das auf Ausbeutung beruht, auf einer Ausbeutung, die sich niemals mit den Ansprüchen der Aufklärung vereinbaren lässt.“ (Blom 2017, S.237f.)
Das „Dilemma“, von dem Blom hier spricht, hat der heutige Neoliberalismus übrigens längst gelöst; und die Lösung heißt: Bildung! – Seit den 1990er Jahren und im Einklang mit Bologna-Reform und PISA-Forschung besteht unsere einzelstaatlich geförderte europäische Bildung darin, daß jeder Mensch Unternehmer und Ausbeuter in eigener Person ist, indem er seine Potenziale in persönlicher Verantwortung zu Markte trägt. Dieser genial-zynische Kniff, die Ausgebeuteten zu Unternehmern umzudeklarieren, erinnert an Rousseaus Bürger, der Souverän und Untertan in einer Person ist. Was aber bei Rousseau noch Aufklärung war, ist für die nachwachsenden Generationen nur noch ein Prekariat.

Blom selbst betreibt also eine sehr berechtigte Aufklärungskritik. Aber sie geht leider nicht weit genug. Es geht längst nicht nur um die Verquickung der Aufklärung mit Wirtschaftswachstum und Ausbeutung. Blom kratzt nur an der Oberfläche des Problems, wenn er auf die Ambivalenz eines Fortschrittsdenkens verweist, das Fortschritt mit industrieller Entwicklung gleichsetzt. (Vgl. Blom 2017, S.231f., 237f. und S.245) So bezieht sich Blom nur auf den Descartes  (1596-1650), der das Denken aus den Fesseln religiöser und lebensweltlicher Vorurteile befreit und es ganz auf die Basis der eigenen Denkgewißheit stellt. (Vgl. Blom 2017, S.136ff.) Daß sich Descartes damit ein anderes Problem einhandelte – nämlich den Zweifel an den eigenen Sinneswahrnehmungen und an der äußeren Realität –, so daß er zu dem zweifelhaften Mittel eines ontologischen Gottesbeweises greifen mußte, soll an dieser Stelle nicht weiter erörtert werden. (Vgl. Blom 2017, S.139f.) Auf die eigentliche Crux der Descartesschen Position kommt Blom nämlich gar nicht zu sprechen: Indem Descartes die denkende Substanz von der ausgedehnten Substanz, also von allen Körpern, auch dem eigenen, radikal trennte, bahnte er einer Technologie den Weg, die bis heute das Verhältnis des Menschen zu sich und zur Welt dominiert.

Für Descartes war der menschliche Körper eine Maschine, und er bezeichnete sogar den lebendigen Körper als ‚Leichnam‘, weil er sich die denkende Substanz als völlig getrennt vom lebendigen Körper und seinen Gefühlen und Instinkten vorstellte. Bis in die Gegenwart hinein bildet diese Vorstellung den Kern des wissenschaftlichen Naturalismusses. Diese Einstellung zum menschlichen Körper gehört meiner Ansicht nach genauso zum dunkelsten Erbe der Aufklärung wie die von Blom beschriebene Verquickung der Aufklärer mit dem Sklavenhandel.

Wie wenig selbstwidersprüchlich diese ‚wissenschaftliche‘ Grundeinstellung den betreffenden Denkern gewesen zu sein scheint, zeigt sich sogar an den Kritikern von Descartes, wie z.B. an  Pierre Gassendi (1592-1655), der gegen Descartes an der Sinneswahrnehmung als einziger Quelle von Erkenntnisgewißheit festhielt: „Wenn aber alles Wissen aus den Sinnen kommt, was ist dann mit dem Wissen um Dinge, die sich unseren Sinnen nicht offenbaren? Es ist unmöglich, urteilt Gassendi. Nichts kann gewusst werden, ohne sinnlich erfahrbar zu sein.“ (Blom 2017, S.151)

Aber derselbe Gassendi, der darauf pocht, daß es kein Wissen ohne Sinnesgewißheit geben könne, sieht gleichzeitig überhaupt kein Problem darin, daß die Welt „aus Atomen (besteht), aus winzigen, materiellen Teilchen, die sich auf unendlich viele verschiedene Weisen miteinander verbinden und aufeinander reagieren“. (Vgl. Blom 2017, S.152) Weder Gassendi noch Blom kommen auf den Gedanken, daß es hier für die behauptete Erkenntnisgewißheit ein Begründungsproblem gibt; denn die Atome entziehen sich nicht weniger unserer technologisch unbewaffneten Sinnesgewißheit, wie der Glaube an Gott. Die auf Atome bezogenen Gewißheiten beruhen auf einer Technologiegläubigkeit, der jeder Zweifel an der Realitätshaltigkeit von Technologien verloren gegangen ist. Tatsächlich aber beruhen unsere Technologien nicht auf Gewißheiten, sondern auf Theorien, deren empirische Basis unsicher ist. Wir spalten Atomkerne zur Energiegewinnung, als ginge es darum Nüsse zu knacken, obwohl wir bis heute nicht genau wissen, wie Atome zusammengesetzt sind, und obwohl es keine wissenschaftlich gültige Definition von Genen gibt, gibt es schon die Gentechnik. Die Gültigkeit der diesbezüglichen Theorien besteht ausschließlich darin, daß sie funktionieren.

Die andere Hinsicht, weswegen ich Bloms Kritik an den Aufklärungskritikern als ärgerlich empfinde, betrifft den Gegenstand von Bloms Kritik: daß sie sich nämlich „darum sorgen zu behalten, was sie haben“. (Vgl. Blom 2017, S.254) Was bitte ist so verwerflich daran, sich um sein Wohlbefinden zu sorgen? Genau diese Sorge sollte eigentlich Gegenstand jeder Philosophie sein, und sie stand am Anfang des antiken Denkens. Nehmen wir noch einmal die Bauern und Leibeigenen am Beginn der Kleinen Eiszeit: Als ihnen die Landadligen ihre Lebensgrundlage wegnahmen, die Almenden einzäunten, um sich in Kapitalisten und die Bauern in Vagabunden und Proletarier zu verwandeln, hatten diese da nicht jedes Recht, zu rebellieren (vgl. Blom 2017, S.93f.), um zurückzuerhalten, was sie einmal gehabt hatten? Was hätten sie wohl einem Karl Marx oder auch einem Neoliberalen wie Voltaire geantwortet, wenn diese Philosophen ihnen vorgeworfen hätten, daß sie reaktionär seien, weil sie nicht bereit seien, sich den neuen Verhältnissen anzupassen?

Dynamik ist nicht per se etwas Positives, wie Blom zu glauben scheint, wenn er den Aufklärungskritikern vorwirft, sie seien nicht flexibel genug, weil sie nur das festhalten wollen, was sie haben. Dabei weist er selbst an anderer Stelle auf die Ambivalenzen unkontrolliert dynamischer Entwicklungen hin:
„Dynamische Gesellschaften bringen sozialen und technologischen Wandel, Migration, neue Moralvorstellungen und einen Abschied von ewigen Wahrheiten zugunsten von Experimenten, Hypothesen und endlosen Diskussionen. Die Freiheit des liberalen Traums beinhaltet die Forderung, sich selbst zu konstruieren. Dieser Traum erfasst ganze Gesellschaften und schleift sie mit sich oder treibt sie vor sich her, nichts wird morgen mehr so sein, wie es noch gestern war.“ (Blom 2017, S.252)
Irgendwie scheint sich Blom nicht entscheiden zu können: ist Fortschritt nun per se gut oder vielleicht auch irgendwie schlecht?

Der technologische Fortschritt ist längst zu einem blinden Mechanismus geworden, dem wir nicht weniger ausgeliefert sind, als wir es in früheren Zeiten den Naturgewalten gegenüber gewesen waren. Ständig verlangt er von uns, daß wir loslassen sollen, was wir haben, damit wir uns dem anpassen können, was er uns in immer größerer Geschwindigkeit aufdrängt. Aber vielleicht sollten wir wieder mehr auf unseren eigenen Rhythmus Rücksicht nehmen, wie er sich in Jahrhunderttausenden entwickelt hat, einem Rhythmus, der Generationen umfaßt, und nicht Tage, Wochen oder Monate, in denen schon wieder aufs Neue umgekrempelt wird, was uns gerade eben erst gültig geworden ist; denn nichts Altes darf als gut gelten, weil es eben alt ist, und alles Neue, gleichgültig wie absurd es auch daher kommt, ist gut, weil es neu ist.

Blom beklagt sich über die mangelnde Bereitschaft der Bevölkerung, sich auf die große Transformation einzulassen, die der nicht mehr nur bevorstehende, sondern aktuelle Klimawandel erzwingt:
„Der Transformationsdruck auf unsere Gesellschaften wird durch Klimawandel und Automatisierung erhöht, aber eine wirklich transformative Politik wird weder angeboten noch von den Wählern gefordert.“ (Blom 2017, S.257)
Für die mangelnde Transformationsbereitschaft darf sich Blom bei den Aufklärern bedanken. Sie haben den immer wieder nachwachsenden ‚Unmündigen‘ jahrhundertelang erklärt, daß sie sich ändern müssen, weil es notwendig sei, und immer wieder erwiesen sich nicht wenige dieser Änderungen als gegen deren ureigensten Interessen gerichtet. Angesichts der sich beschleunigenden Änderungszumutungen ist es kein Wunder, daß diese ‚Unmündigen‘ zu rebellieren beginnen: sie haben es satt und wollen sich nicht mehr ändern müssen.

Wenn wir uns der Frage nach der Natur des Menschen nicht stellen wollen und uns weiterhin weigern, von dieser Natur her nach dem menschlichen Sinn der bevorstehenden Umwälzungen zu fragen, wird sich das auch nicht ändern. Aber die Welt wird sich ändern, so viel ist gewiß. Der Planet wird zu einem neuen Gleichgewicht finden, und ob wir dabei sein werden und auf ihm eine Zukunft haben werden oder nicht, ist ihm egal.

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Freitag, 2. Juni 2017

Philipp Blom, Die Welt aus den Angeln. Eine Geschichte der Kleinen Eiszeit von 1570 bis 1700 sowie der Entstehung der modernen Welt, verbunden mit einigen Überlegungen zum Klima der Gegenwart, München 2017

(Carl Hanser Verlag, fester Einband, 304 S., 24,-- €)

1. Zusammenfassung
2. Desiderat einer Anthropologie
3. Kompromittierte Aufklärung

Philipp Bloms Buch hat eine entscheidende argumentative Schwäche, die etwas mit der unzureichenden Anthropologie zu tun hat, auf der es beruht. Dabei verweist der Autor selbst auf die Notwendigkeit einer solchen Anthropologie, wenn er auf das „Menschenbild“ hinter dem „liberale(n) Traum“ zu sprechen kommt, mit dem er offensichtlich sympathisiert:
„Hinter der Idee, der liberale Traum sei human, verbirgt sich ein bestimmtes Menschenbild, ein Glaubenssatz, der versucht, den Menschen zugleich individuell und universell zu denken und der dem menschlichen Leben gerade wegen seiner Kontingenz und Verwundbarkeit einen unveräußerlichen Wert zuspricht – eine Hoffnung und ein Versprechen, das immer wieder eingelöst werden muss, um nicht zu verdorren.“ (Blom 2017, S.260)
Ob es sich bei diesem Menschenbild nun um einen „Glaubenssatz“ handelt, wie Blom es in diesem Zitat nahelegt, sei dahingestellt. Ich selbst denke dabei weniger an einen Glauben als an eine Reflexion auf die Bedürfnisstruktur bzw. Intentionalität des Menschen, wie sie in Helmuth Plessners „Körperleib“ zum Ausdruck kommt. Der Mangel einer solchen anthropologischen Reflexion läßt Blom in seiner Auseinandersetzung mit dem Anti-Liberalismus, wie er gegenwärtig von politisch zweifelhaften Gestalten wie Donald Trump, Viktor Orban, Marine Le Pen und Recep Tayyip Erdoğan repräsentiert wird, recht hilflos erscheinen. So fällt Blom in dieser Auseinandersetzung nichts anderes ein, als in einer Reminiszenz an Martin Luther King zwei verschiedenartige ‚Träume‘, einen liberalen und einen autoritären Traum, gegeneinanderzustellen. (Vgl. Blom 2017, S.254)

Dabei übersieht Blom die Notwendigkeit einer Aufklärungskritik, die er selber praktiziert, wenn er von den „schmutzigen Kompromisse(n)“ der Aufklärer spricht. (Vgl. Blom 2017, S.244) Stattdessen sind jetzt plötzlich alle „Aufklärungskritiker“ pauschal antiliberal und fortschrittsfeindlich, weil sie sich nur „darum sorgen zu behalten, was sie haben“ (vgl. Blom 2017, S.254):
„Abgepolstert von einer ausreichend dicken Isolierschicht aus Unterhaltungselektronik würden inzwischen auch viele Bewohner westlicher Länder einer autoritären Regierung mit klaren Antworten, einem starken Wohlstandversprechen und demonstrativem Nationalstolz wieder einiges abgewinnen können.“ (Blom 2017, S.255)
Auf diese Argumentation werde ich im nächsten Blogpost noch detailliert eingehen. Für jetzt möchte ich festhalten, daß Bloms argumentative Schwäche hinsichtlich einer reflektierten Anthropologie dazu führt, daß er beide Positionen nur noch als Träumereien bzw. „Hirngespinste“ bezeichnen kann, wodurch er das unterschiedliche Reflexionsniveau dieser Positionen nivelliert:
„Auch der liberale Traum nährt sich aus solchen Hirngespinsten. Natürlich sind Menschen nicht ‚von Natur aus‘ frei und gleich.“ (Blom 2017, S.259)
Diese Feststellung, daß die Menschen ‚natürlich‘ nicht ‚von Natur aus‘ frei und gleich seien, ist in seiner Banalität so selbstverständlich wie ärgerlich. Dabei hätte es in seinem Buch einige Gelegenheiten gegeben, etwas gründlicher über die ‚Natur‘ des Menschen nachzudenken. Das Fehlen einer letztgültigen ‚Wahrheit‘ und die Zweifelhaftigkeit alles Wissens – Themen auf die Blom immer wieder zu sprechen kommt (vgl. Blom 2017, S.24, 151f., 156, 185, 252, 260) – müssen keineswegs ein Nachteil bei der Suche nach dem Menschlichen sein. Auch wenn der „liberale Traum ... nicht den Fortschritt, die Wahrheit oder das Gesetz der Geschichte (repräsentiert)“, wie Blom schreibt, sprechen doch einige Gründe für ihn, die ihn zu mehr machen als bloß einem Hirngespinst auf dem Niveau eines Donald Trump.

Zu den Gelegenheiten einer gehaltvollen Reflexion auf den Menschen und seine ‚Natur‘ gehört die Textstelle, in der sich Blom auf Michel de Montaigne (1533-1592) und seine „Essais“ bezieht, in denen Montaigne seine spezifische Individualität reflektiert. (Vgl. Blom 2017, S.70) Und dazu gehört auch die Textstelle zu Étienne de la Boëthie (1530-1563) zum Zusammenhang von Glauben und Macht:
„Macht wird verliehen, nie genommen, schrieb der junge Philosoph und sie wird von Menschen verliehen, nicht von Gott. Niemand könnte Macht ausüben, wenn andere ihm nicht gehorchen würden. Ihr Gehorsam, ihr Glaube ist es, auf dem jede Form von Macht beruht. Wenn der Glaube an die Macht des Mächtigen stirbt, wenn niemand mehr auf das Wort des Königs hört, dann ist seine Macht gebrochen, wie die Flamme eines Feuers, das keinen Brennstoff mehr hat.“ (Blom 2017, S.75)
Diese Textstelle hätte zu einer Reflexion über den Zusammenhang von Bewußtsein und Realität führen müssen, und diese Reflexion hätte, anthropologisch begründet, durchaus nicht bei der hilflosen Feststellung bloßer Träumereien und Hirngespinste enden müssen. Sie hätte zur weitergehenden Einsicht in die Wahrheitsfähigkeit und Sinnbedürftigkeit eines sein Überleben sicherstellenden und sein Leben führen müssenden Wesens führen können, wie es der Mensch ist. Wie dieser Mensch in seinem Verhältnis zur Welt sein eigenes Potenzial entdeckt und entfaltet: das ist das Kernthema des von Blom verteidigten liberalen Traums.

Da aber genau diese Anthropologie fehlt, verbleibt Blom mit seiner Apologie auf dem Niveau der Bienenfabel von Bernard Mandeville (1670-1733):
„Damit es summt im Bienenstock, müssen die Tierchen ihren niedersten Instinkten folgen. Mit seinem robusten Pragmatismus machte sich Mandeville zum Vordenker einer Wirtschaftsordnung und einer sozialen Vision, die vor allem vom menschlichen Egoismus ausgingen und leugneten, dass wir besser leben, wenn wir tugendhafter leben.“ (Blom 2017, S.228)
Auf diesem Niveau wird die „Freiheit des Individuums“ tatsächlich keine Zukunft haben, wie Blom schreibt, denn „dann wird sich in einigen Jahrhunderten niemand mehr um das Wohlergehen des liberalen Traums sorgen müssen – die Überlebenden werden andere Probleme haben.“ (Blom 2017, S.261)

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Donnerstag, 1. Juni 2017

Philipp Blom, Die Welt aus den Angeln. Eine Geschichte der Kleinen Eiszeit von 1570 bis 1700 sowie der Entstehung der modernen Welt, verbunden mit einigen Überlegungen zum Klima der Gegenwart, München 2017

(Carl Hanser Verlag, fester Einband, 304 S., 24,-- €)

1. Zusammenfassung
2. Desiderat einer Anthropologie
3. Kompromittierte Aufklärung

Der scheinbar lang und umständlich formulierte zweite Teil des Titels von Philipp Bloms Buch „Die Welt aus den Angeln“ (2017) erinnert an die Druckerzeugnisse des 16. und 17. Jahrhunderts, um das es in seinem Buch geht. Die damaligen Buchtitel boten oft zugleich eine Zusammenfassung des Inhalts und erfüllten so den Zweck von Klappentexten auf den Schutzumschlägen heutiger Bücher. Dabei fällt auf, daß Blom im besagten Untertitel seine zentrale Botschaft, nämlich den aktuellen Bezug der Kleinen Eiszeit von 1570 bis 1700 zum gegenwärtigen Klimawandel in seiner Aussagekraft relativiert: wir haben mit seinem Buch, so hält Blom im Untertitel fest, nicht etwa eine umfassende historisch-systematische Auseinandersetzung mit den möglichen kulturellen Folgen des damaligen und heutigen Klimawandels vorliegen, sondern lediglich „einige() Überlegungen zum Klima der Gegenwart“.

Eine weitere gewichtige Einschränkung hinsichtlich der analytischen Reichweite dieser Überlegungen führt Blom in der Einleitung auf:
„Dieses Buch konzentriert sich aus drei Gründen auf die Auswirkungen der Kleinen Eiszeit in Europa: Erstens zeigt die aktuelle Forschung, dass die kulturellen Auswirkungen des Klimawandels in Europa besonders feinkörnig dokumentiert sind, zweitens fehlen mir die Sprachen und die Kenntnis, ähnlich tief in die Kulturgeschichte Japans, Chinas oder Indiens einzudringen, und drittens durchlebte gerade Europa in dieser Periode eine ungeheure soziale, wirtschaftliche und intellektuelle Revolution, was die Frage aufwirft, inwiefern eines mit dem anderen verbunden ist.“ (Blom 2017, S.17)
Der zweite von Blom aufgeführte Punkt, seine auf Europa begrenzten Kenntnisse, läßt die im dritten Punkt angesprochene Notwendigkeit einer Klärung, was die „ungeheure soziale, wirtschaftliche und intellektuelle Revolution“ des 17. Jhdts. mit der Kleinen Eiszeit verbindet, zu einem Desiderat der historischen Forschung werden. Denn die Kleine Eiszeit betraf nicht nur Europa, sondern wirkte sich weltweit auf die Gesellschaften aus. Und solange nicht geklärt ist, warum es in Indien, China und Japan nicht ebenfalls zu vergleichbaren Modernisierungsschüben wie in Europa – übrigens auch hier regional sehr unterschiedlich ausgeprägt – gekommen ist, sondern die dortigen Gesellschaften stattdessen in traditionellen, vormodernen Lebensweisen verharrten, ist eigentlich jeder Versuch, etwas Brauchbares über den Zusammenhang von klimatischen und gesellschaftlichen Veränderungen herauszufinden, zum Scheitern verurteilt. Auch das ist also ein sehr nachvollziehbarer Grund dafür, warum Blom hinsichtlich seines Buches nur von „einigen Überlegungen“ spricht, und wir können das als Aufforderung an die historische Forschung verstehen, interdisziplinäre, überregional ausgerichtete Projekte zu organisieren, die die Auswirkungen von Wärme- und Kälteperioden auf unterschiedliche geopolitische Räume untersuchen.

Blom verweist auf ein weiteres Problem, mit dem es jede historische Untersuchung zu tun hat, wenn sie unbelastet von geschichtsphilosophischen Neigungen sachlich und vorurteilsfrei an die historischen Phänomene herangeht:
„Gleichzeitig sollten wir uns immer bewusst sein, dass sich Geschichte nicht in den Begriffen und großen Erzählungen von Historikern erschöpft. Natürlich lassen sich Entwicklungen erkennen, aber was hier beschrieben wird, sind Tendenzen und Wendepunkte, die sehr unterschiedlich interpretiert werden können. Sie sind nicht an jedem Ort zur gleichen Zeit, mit gleicher Geschwindigkeit oder mit gleicher Intensität zu beobachten. Gegenläufigkeit und Ungleichzeitigkeit stehen immer neben oder hinter den hier beschriebenen Entwicklungen. ... Immer bestanden große Ungleichzeitigkeiten. Mittelalterliche und frühmoderne Lebensweisen, Praktiken und Weltsichten waren oft – besonders zwischen Stadt und Land, aber auch zwischen verschiedenen Ländern – nur wenige Kilometer voneinander getrennt.“ (Blom 2017, S.25)
Während sich in manchen Städten wie im Amsterdam und im Leiden des 17. Jhdts. eine moderne Bürgergesellschaft entwickelte, lebten große Teile der Landbevölkerung weiterhin unter mittelalterlichen Bedingungen, und auch ganze Länder wie Spanien, Italien, Rußland oder die Türkei erlebten sogar einen wirtschaftlichen und machtpolitischen Niedergang. (Vgl.u.a. Blom 2017, S.229) Wir haben es also bei der ‚historischen Entwicklung‘ mit einem Anachronismus zu tun, weil viele regional begrenzte und lebensweltlich gegenläufige Prozesse gleichzeitig stattfanden. Blom spricht deshalb auch von einer „planlose(n), aber nicht folgenlose(n) Evolution“, in der viele verschiedene soziale und gedankliche ‚Experimente‘ stattfanden. (Vgl. Blom 2017, S.26)

An dieser Stelle wendet sich Blom ausdrücklich gegen eine statistische Betrachtungsweise eines ‚Fortschritts‘ vom Mittelalter zur Moderne:
„Es wirkt wie ein sadistisches Experiment, erdacht vom kapriziösen Gott Hiobs, einem böswilligen Dämon oder einem extraterrestrischen Wissenschaftler, ein Tierversuch mit ganzen Gesellschaften: Was passiert, wenn ich eine Population von Homo sapiens (und mit ihm der ganzen Natur) auswähle und Temperatur und Wetter ihrer Umgebung verändere? Wer überlebt, wer stirbt? ... Dieser Blick aus großer Höhe ... erlaubt es, Muster und Strukturen zu erkennen und gleichzeitig macht er es nebensächlich, danach zu fragen, ob die Veränderungen Fortschritt darstellen oder nicht, ob sie gewollt waren oder unorganisiert und ob sie chaotisch passierten, ob die Ideen der damaligen Zeit der Wahrheit entsprachen und ob es so etwas überhaupt gibt.“ (Blom 2017, S.24)
Bloms berechtigte Attacke gegen eine historische ‚Statistik‘, die individuelle Schicksale in Epochenbegriffen verdichtet, kann man auch als eine Absage gegen Geschichtsphilosophien á la Hegel und Marx verstehen, die beide von Blom nur am Rande erwähnt werden. Blom hält an einer moralischen Sichtweise fest, die das Individuum nicht als Mittel, sondern als Zweck der historischen Entwicklung versteht:
„Hinter der Idee, der liberale Traum sei human, verbirgt sich ein bestimmtes Menschenbild, ein Glaubenssatz, der versucht, den Menschen zugleich individuell und universell zu denken und der dem menschlichen Leben gerade wegen seiner Kontingenz und Verwundbarkeit einen unveräußerlichen Wert zuspricht – eine Hoffnung und ein Versprechen, das immer wieder eingelöst werden muss, um nicht zu verdorren.“ (Blom 2017, S.260)
Nicht alle Einflüsse der Kleinen Eiszeit, auf die Blom zu sprechen kommt, sind gleichermaßen einleuchtend. So ist seine Andeutung, daß wir dieser Eiszeit vielleicht den Tod eines „der größten Denker“ Europas zu verdanken haben, nämlich von René Descartes  (1596-1650), der sich in der ungeheizten Bibliothek der schwedischen Königin eine Lungenentzündung zuzog, eher ein Treppenwitz. (Vgl. Blom 2017, S.135 und S.142)

Trotz all dieser Einschränkungen hinsichtlich der analytischen Reichweite seiner ‚Überlegungen‘ zur Kleinen Eiszeit und zum Klima der Gegenwart, gelingt es Blom aber durchaus, einige Aspekte aufzuzeigen, die den Wandel der mittelalterlichen Gesellschaft in eine moderne Gesellschaft ‚begünstigten‘, wenn man es denn so positiv formulieren will. Dabei bezieht sich Blom vor allem auf Karl Polanyi (1886-1964) und sein Buch „The Great Transformation“ (1944). (Vgl. Blom 2017, S.95) Ohne Marx zu erwähnen, beschreibt Blom, wie sich die mittelalterliche Subsistenzwirtschaft auflöst und wie eine Geldwirtschaft entsteht, deren Grundlage ein „Wirtschaftswachstum“ bildet, „das auf Ausbeutung beruht“. (Vgl. Blom S.158, 216, 238)

Die mittelalterliche Subsistenzwirtschaft beruhte auf einer statischen Gesellschaftsstruktur, die nicht durch soziale Mobilität gekennzeichnet war, sondern durch „Statuserhalt“:
„In feudalen, vormodernen Gesellschaften, so Polanyi, war das Ziel der wirtschaftlichen Aktivität nicht Reichtum und sozialer Aufstieg, sondern Statuserhalt in einer gesellschaftlichen Hierarchie, in der jeder einen von Geburt an mehr oder minder klar definierten Platz einnahm und in der soziales Kapital wichtiger war als wirtschaftliches.“ (Blom 2017, S.95)
Der Gedanke an Profit war in dieser Gesellschaft nicht zentral. Der Markt wurde sozial kontrolliert, so daß plötzliche Preiserhöhungen weitgehend unterbunden wurden. Landbesitz galt nicht als veräußerbar: er war „extra commercium“. (Vgl. Blom 2017, S.96) Adlige durften in manchen Ländern keinen Handel treiben, weil sie sonst ihren Adelstitel verloren.

Als Blom zufolge aufgrund der Kleinen Eiszeit die Getreideernten ausblieben, mußte Getreide aus anderen Ländern herbeigeschafft werden. Die baltischen Länder verwandelten sich in die Kornkammern Europas, das Getreide wurde bis Italien verschifft. Die baltischen Länder stellten ihre Subsistenzwirtschaft auf Export um und orientierten sich jetzt auf den mit dem Export verbundenen Profit. Es entstand eine Geldwirtschaft, die sich auf das mittelalterliche Leibeigenensystem stützte, so wie man sich andernorts der aus Afrika importierten Sklaven bediente, um Profite zu erwirtschaften. (Vgl. Blom 2017, S.158)

Zugleich führte der durch die Kleine Eiszeit erzwungene Fernhandel zu einer Deregulierung des Marktes: die Waren, die von weither auf dem Markt angeliefert wurden, stammten von Produzenten und Händlern, die nicht mehr vor Ort sozial kontrolliert werden konnten:
„Dieser Fernhandel, der sich nicht nach lokalen Regeln richten musste, wurde durch die katastrophalen Ernten der 1590er Jahre in Westeuropa  und die Landflucht der hungernden Bevölkerung wesentlich gestärkt.“ (Blom 2017, S.97)
Bloms Verbindung der Polanyischen Darstellungen mit der Kleinen Eiszeit leuchtet ein und hat zugleich den Charme einer Dekonstruktion der Marxschen Sicht auf dieselben historischen Ereignisse. Die ganze Brutalität der Einführung der Geldwirtschaft und der Vertreibung der Menschen aus der mittelalterlichen Subsistenzwirtschaft wird von Marx in eine geschichtsphilosophische Rationalität eingebettet und damit irgendwie auch gerechtfertigt. Hinter den historischen Ereignissen verbarg sich Marx zufolge einfach eine höhere Rationalität, die die ‚Weiterentwicklung‘, den technologischen ‚Fortschritt‘ der Gesellschaft erzwang. Wenn wir aber stattdessen davon ausgehen, daß diese Entwicklung zu einem nicht unerheblichen Teil einfach einem Klimawandel geschuldet war, erscheint der Kapitalismus nur noch als eine ziemlich schlechte, zumindestens aber fragwürdige Alternative angesichts dessen, was vielleicht stattdessen an gesellschaftlichen Entwicklungen möglich gewesen wäre.

Blom jedenfalls beharrt darauf, daß Wirtschaftswachstum und Fortschrittsgedanke eine unheilvolle ‚liberale‘ Allianz eingegangen sind, insofern die europäischen Intellektuellen im 17. Jhdt. die humane Entfaltung der menschlichen Potenziale mit dem auf menschlicher Ausbeutung beruhenden Wirtschaftswachstum gleichzusetzen begannen:
„Der soziale Sieg des liberalen Traums und sein Enthusiasmus für Innovation, Forschung, Expansion und Fortschritt sind verquickt mit dem Modell von Wirtschaftswachstum und Ausbeutung, das ebenfalls aus dem 17. Jahrhundert stammt, damals den Grundstein zu Europas globaler Dominanz legte, inzwischen aber zu einer existenziellen ökologischen und sozialen Bedrohung geführt hat. Wenn die Freiheit des Individuums als die Freiheit interpretiert wird, alles zu tun, was profitabel ist, dann wird sich in einigen Jahrhunderten niemand mehr um das Wohlergehen des liberalen Traums sorgen müssen – die Überlebenden werden andere Probleme haben.“ (Blom 2017, S.261)
Am Beispiel von Voltaire (1694-1778) zeigt Blom, wie sich die liberalen Europäer zu „Komplizen einer Unterdrückung“ gemacht hatten, als sie einerseits universelle Menschenrechte postulierten, andererseits aber die Grundlage der Geldwirtschaft, den Sklavenhandel und die Leibeigenenschaft, rechtfertigten. (Vgl. Blom 2017, S.240) Voltaire war Blom zufolge der erste „Neoliberale“. (Vgl. Blom 2017, S.243)

War die Armut im Mittelalter noch Anlaß und Gegenstand einer christlichen Caritas, so wurde sie im Marktliberalismus, der „intellektuelle(n) Sparversion der Ideale der Aufklärung“ (Blom 2017, S.249), zur unverzichtbaren Grundlage der Mehrwertbildung:
„Die Armen hatten eine wichtige Rolle in diesem gesellschaftlichen Ideal: Ihre billige Arbeit sollte heimische Rohstoffe in teure Exportware verwandeln. ... Dabei machten (Thomas) Mun und andere Autoren auch moralische Argumente geltend. Die Armen waren undiszipliniert und gaben sich nur allzu gerne der Unzucht, dem Alkohol, dem Kartenspiel und der Faulheit hin. Sie mussten durch strenge Arbeit und ein frugales Leben unter Kontrolle gehalten werden, sonst würde ihre Verderbtheit zum Niedergang des gesamten Landes führen.“ (Blom 2017, S.124)
An die Stelle der mittelalterlichen Stände – Bauern, Priester, Adlige – traten nun neue Stände: die Armen und die Reichen, die der Prädestinationslehre Calvins (1509-1564) zufolge von Geburt an durch göttlichen Willen auf ihren jeweiligen ‚Stand‘ festgelegt waren. Es dauerte dann noch drei Jahrhunderte, bis Marx diesen Standesdünkel durch seinen Klassenbegriff auflöste, womit er letztlich aber wieder nur ein neues Kollektivsubjekt installierte.

Blom zufolge läuft die historische Entwicklung nicht auf Kollektivsubjekte, sondern auf Individuen und ihre unveräußerlichen Rechte hinaus. (Vgl. Blom 2017, S.220) Diese Entwicklung ist das Resultat der Kleinen Eiszeit, die mit Glaubenskriegen und Hexenverbrennungen begonnen hatte, weil man sich die Naturkatastrophen nicht anders zu erklären wußte:
„Heute wissen wir, dass der uns bevorstehende Klimawandel seinen Ursprung in unserer industriellen Entwicklung hat und wir verstehen, dass wir seine noch nicht abschätzbaren Folgen zumindest weniger katastrophal machen könnten, wenn wir rasch und entschieden darauf reagieren würden. Wir sind die erste Generation der Menschheitsgeschichte, die eine relativ klare Konzeption davon hat, was ihr Erbe an die Zukunft sein wird. Wir reagieren auf den Klimawandel kaum effizienter als unsere Vorfahren, die ihn nicht verstanden: chaotisch, improvisierend, getrieben von immer häufigeren katastrophalen Ereignissen und immer kontrolliert von dem absoluten Nahziel, dass unsere Wirtschaft wachsen muss, dass unser eigener Wohlstand erhalten bleiben muss.“ (Blom 2017, S.245)
Dieses Fazit von Blom bleibt auch dann richtig, wenn ich in der Folge an seinen ‚Überlegungen‘ noch einiges zu kritisieren haben werde.

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