„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Freitag, 21. April 2017

John Holloway, Ganz am Anfang beginnen, in: Mathias Greffrath (Hg.), Re: Das Kapital. Politische Ökonomie im 21. Jahrhundert, München 2017, S.31-49

(Antje Kunstmann, gebunden, 240 S., 22,-- € )

Karl Marx versteht „Das Kapital“ gleichzeitig als Darstellung und als Kritik des Kapitalismus, wie Greffrath in seiner Vorbemerkung zu Holloways Beitrag „Ganz am Anfang beginnen“ (2017) festhält. (Vgl. Greffrath (Hg.) 2017, S.29) Damit ergibt sich zum einen für mich persönlich, zum anderen auch für die Kritik ein Problem. Für die Kritik: wie kann sich aus der Darstellung eines Sachverhaltes, die sich naturgemäß möglichst genau an diesen Sachverhalt zu halten hat, eine kritische Position ergeben, die sich, wiederum naturgemäß, von der Darstellung des Sachverhaltes unterscheidet?

Es gibt eigentlich nur eine Möglichkeit, die Darstellung zugleich als eine Kritik zu deuten: wenn nämlich die Darstellung selbst ironisch ist! Holloway erfaßt diesen Umstand in einer Metapher: Die ganze Darstellung des „Kapitals“ wird von der Ironie wie von einem „Schatten“ begleitet (vgl. Holloway 2017, S.43): wenn vom „Reichtum“ die Rede ist, ist nicht etwa die „ungeheure Warensammlung“ gemeint, von der ebenfalls ständig die Rede ist (vgl. Holloway 2017, S.31), sondern der Reichtum der Erde und des Menschen in ihrer und seiner ganzen historischen Entwicklung und in der Totalität der Entfaltung des Individuums:
„In fact aber, wenn die bornierte bürgerliche Form abgestreift wird, was ist der Reichtum anders, als die im universellen Austausch erzeugte Universalität der Bedürfnisse, Fähigkeiten, Genüsse, Produktivkräfte etc. der Individuen? Die volle Entwicklung der menschlichen Herrschaft über die Naturkräfte, die der sog. Natur sowohl wie seiner eignen Natur? Das absolute Herausarbeiten seiner schöpferischen Anlagen, ohne andre Voraussetzung als die vorhergegangne historische Entwicklung, die diese Totalität der Entwicklung, d.h. der Entwicklung aller menschlichen Kräfte als solcher, nicht gemessen an einem vorhergegebnen Maßstab, zum Selbstzweck macht?“ (Holloway 2017, S.36: Zitat aus „Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie“ (1857/1858))
Genau deshalb hatte ich auch immer ein persönliches Problem bei der Lektüre des „Kapitals“ gehabt: ich hatte die Ironie hinter Begriffen wie „ursprüngliche Akkumulation“ oder „Mehrwert“ nicht verstanden. Und auch die allermeisten der vielen Marx-Exegeten hatten und haben bis heute diese Ironie nicht verstanden, wenn sie sich z.B. wie Frank Engster bei ihrer Darstellung auf den „Standpunkt des Geldes“ stellen, weil sie meinen, nur so diese Darstellung bis zur endgültigen, alles entlarvenden Kritik des Kapitalismus treiben zu können. (Vgl. „Das Geld als Maß, Mittel und Methode“ (2014), S.763f.; vgl. auch meinen Post vom 24.03.2014)

Das Gegenteil ist nämlich nötig: wir müssen uns außerhalb des Kapitals stellen, um es kritisieren zu können, und dieses Außerhalb, diese exzentrische bzw. „ex-(s)tatische“ Position, wie Holloway schreibt (vgl. Holloway 2017, S.41), kann nur der Humanismus sein, also die Perspektive auf das volle, die ganze Erde und ihre Geschichte umfassende Potential unserer Menschlichkeit:
„Reichtum ist die Menschheit in ihrer höchsten Entwicklung, es ist die Menschheit ‚in der absoluten Bewegung des Werdens‘, es ist die ‚völlige Herausarbeitung des menschlichen Innern‘.“ (Holloway 2017, S.36)
Holloway arbeitet seine These an der Spannung heraus, die zwischen den beiden ersten Sätzen des „Kapitals“ besteht. Satz 1: „Der Reichtum der Gesellschaften, in welchen kapitalistische Produktionsweise herrscht, erscheint als eine ‚ungeheure Warensammlung‘, die einzelne Ware als seine Elementarform ()“. (Vgl. Holloway 2017, S.31) – Und Satz 2: „Unsere Untersuchung beginnt daher mit der Analyse der Ware ()“. (Vgl. Holloway 2017, S.32)

Im ersten Satz faßt Karl Marx den Reichtum, wie Holloway mit Bezug auf die „Grundrisse“ belegt, noch als menschlichen Reichtum, als volle Entfaltung der Humanität, die nur in kapitalistischen Gesellschaften als „Warensammlung“ erscheint. Im zweiten Satz aber nimmt Marx nur noch auf die Reduktionsform dieses Reichtums Bezug: auf die Ware. Und diese Ware wird nun zum Ausgangspunkt von Darstellung und Analyse des Kapitalismus. Genau diesen zweiten Satz hat sich die bisherige Marx-Rezeption zum Standpunkt gewählt, also die Ware bzw. das Geld. Von diesem Standpunkt aus führt nur leider kein Weg aus dem Kapitalismus heraus. Stattdessen verbleibt die Darstellung in einem statischen Strukturalismus befangen, der weder Revolution noch Widerstand zu denken vermag:
„Wenn wir mit der Ware beginnen und im Reich der Waren bleiben, besteht das Problem darin, dass der Ausgangspunkt unserer Analyse innerhalb des Objekts der Kritik lokalisiert ist und die Analyse darin stecken bleibt. Unser Nachdenken ist fest innerhalb des Systems selbst lokalisiert, sodass jeglicher Bruch mit dem System nur als von außerhalb der Analyse kommend imaginiert werden kann.“ (Holloway 2017, S.35)
Der Strukturalismus, zu dem uns die immanente, auf die Warenform fixierte Darstellung zwingt, trennt das Subjekt, den Menschen und seinen Reichtum, vom Objekt, der Ware als der Reduktionsform dieses Reichtums. Und das Kapital wird zur „treibende(n) Kraft dieser Gesellschaf“:
„Es ist der beständige Antrieb, die Welt in einer Weise zu formen, die Profite maximieren wird, indem beispielsweise versucht wird, Bildungssysteme zu schaffen, die Arbeiter produzieren, die den Bedürfnissen des Kapitels entsprechen, Städte durch Bergbau zu zerstören, wenn es scheint, dass Bergbau in dieser Gegend eine gute Profitquelle zu sein scheint, Wälder zu zerstören, um Autobahnen für den schnelleren Warentransport zu bauen, und so weiter, und so weiter. Das Kapital beherrscht den Planeten und es ist jetzt klar, dass die Herrschaft des Kapitals die für das Leben der Menschen und vieler anderer Lebensformen notwendigen Bedingungen zerstört.“ (Holloway 2017, S.33f.)
Mit der Ware haben wir den Standpunkt des Menschen preisgegeben und damit jene exzentrisch-exstatische Position, die uns einzig zur Kritik befähigt. Der Mensch steckt in der Struktur des Kapitals gefangen wie Wittgensteins Fliege im Fliegenglas.

Wenn wir hingegen statt mit dem zweiten mit dem ersten Satz beginnen, der uns daran erinnert, daß die „ungeheure Warensammlung“ nur eine kapitalistische Erscheinungsform des eigentlichen Reichtums des Menschen bildet, dann behalten wir diesen Standpunkt bei:
„Er ist die ganze Zeit da und scheint in allen drei Bänden des Kapital auf. Er ist von Beginn an da und wird von anderen weniger beachteten Kategorien, wie etwa Gebrauchswert, konkreter Arbeit und den in der kritischen Literatur geschmähten() Produktivkräften transportiert.“ (Holloway 2017, S.43)
Wir gewinnen mit dem Reichtum des Menschen einen exzentrischen Standpunkt, den Holloway auch als „Mittelpunkt der Geschichte“ bezeichnet (Holloway 2017, S.38f.), weil der Mensch wieder zum Subjekt wird. Wir gewinnen bei aller Bedrängnis und Frustration einen Bewegungsraum zurück, der den Widerstand in der Gegenwart möglich macht, ohne auf eine ferne Revolution am Ende des Kapitalismus warten zu müssen:
„Wir sind frustriert, aber unser Potenzial entschwindet nicht einfach in Beschäftigung und Erwerbslosigkeit. Es versucht einen Weg hindurch, jenseits davon, außerhalb davon zu finden. Unsere Leben sind gekennzeichnet von einem Drama des Drängens und Ziehens zwischen Potenzial und Frustration. Die Zukunft der Gesellschaft hängt davon ab, wie sich dieses Drama abspielt, nicht als zukünftiges Geschehen, sondern als Kampf im Hier und Jetzt, um mit der Zumutung der Ware und der Herrschaft des Geldes zu brechen.“ (Holloway 2017, S.39)
Dafür lohnt es sich tatsächlich, das „Kapital“ zu lesen: „Und wenn Du es liest, beginne ganz am Anfang; ein sehr guter Ort, um anzufangen.“ (Holloway 2017, S.49)

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