„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Mittwoch, 5. April 2017

Fritz Breithaupt, Die dunklen Seiten der Empathie, Berlin 2017

(suhrkamp taschenbuch wissenschaft 2196, Broschur, 227 S., 16,-- € )

1. Vorab: Kritik
2. Zusammenfassung
3. Methode
4. Begriffe und Logik
5. Gruppen
6. Exzentrizität

Breithaupt stellt in dem Kapitel zu Nietzsche (vgl. Breithaupt 2017, S.44-78) eine wichtige Frage. Der Begriff der Empathie ist bei ihm vor allem an die Beobachterposition gebunden. Es ist vor allem der empathische Beobachter, an dem er den Begriff entfaltet. Dieser empathische Beobachter ist in dem Nietzsche-Kapitel der „objektive Mensch“, der um der Objektivität willen, also um der möglichst genauen Erfassung der wahrgenommenen Objekte willen, sein eigenes Selbst, seine Identität verliert. (Vgl. Breithaupt 2017, S.45f.) Er wird zum flachen Spiegel, zur nachgiebigen Form, die das fremde Objekt in sich aufnimmt und sich ihm vollkommen anschmiegt.

Breithaupt schreibt nun mit Bezug auf diesen objektiven Menschen:
„Wir dürfen uns fragen, warum sein ausgezeichneter Wahrnehmungsapparat nicht mit einer besseren Selbstbeobachtungsfähigkeit einhergeht.“ (Breithuapt 2017, S.54) 
Breithaupt beantwortet diese Frage mit dem Hinweis auf den technischen Charakter, den diese Selbstaufgabe des objektiven Menschen bei Nietzsche hat. Nietzsche bezieht sich bei der Wahrnehmung des objektiven Menschen nicht auf das lebendige Auge, sondern auf eine Kamera, die die äußere Wirklichkeit detailgetreu ablichtet:
„Hätte Nietzsche etwa die Metapher des ‚Auges‘ benutzt, wäre der metaphorische Weg zu einem ‚inneren Auge‘ schnell bei der Hand gewesen. Von der Metapher der Kamera dagegen führt kein direkter Weg zur Selbstsichtbarkeit. Der blinde Fleck der Beobachtung durch die Kamera ist ihre Mechanik.“ (Breithaupt 2017, S.54f.)
Bei diesem Hinweis auf die mangelnde Selbstbeobachtungsfähigkeit des objektiven Menschen und im weiteren Verlauf des Buches des empathischen Beobachters bleibt es dann aber auch. Eine Rückwendung des Beobachters auf sich selbst wird dann nur noch als Technik der Empathieunterdrückung bei Tätern gegenüber ihren Opfern thematisiert, also, wie im Falle der Nazis, „das Mitleid im Entstehen umzukehren und statt auf andere auf sich zu richten“. (Vgl. Breithaupt 2017, S.79)

Breithaupt versäumt es, eine exzentrische Position des objektiven Menschen in Betracht zu ziehen, wie wir sie von Helmuth Plessner kennen. Mit dieser Exzentrizität gäbe es nicht diese Schicksalshaftigkeit des Selbstverlustes in der objektiven Wahrnehmung. Eine wirklich phänomenologische Position wäre möglich, wie sie z.B. Lambert Wiesing in seinem Buch „Das Mich der Wahrnehmung“ (2009) beschreibt. (Vgl. meine Posts vom 04.06. bis 05.06.2010) Bei Wiesing ist der wahrnehmende Mensch keineswegs ein Sklave seiner Wahrnehmung; vielmehr befreit ihn die Wahrnehmung aus dem Solipsismus seiner Selbstbefangenheit.

Nur an zwei Stellen wird bei Breithaupt die Möglichkeit einer solchen exzentrischen Positionalität angedeutet. Da sind zunächst die Frauen, denen Nietzsche eine besondere Fähigkeit zuschreibt:
„Frauen spielen bei Nietzsche eine besondere Rolle in der Beziehung zwischen dem objektiven Menschen und dem starken Ich. Sie nehmen eine dritte Position ein. Frauen sind in Nietzsches Gedankenwelt von Jenseits von Gut und Böse Meister in der Manipulation der Art und Weise, wie sie von anderen Menschen wahrgenommen werden. Sie verstehen, dass und wie andere Menschen sie beobachten, doch sie verhalten sich anders als der objektive Mensch nicht schlicht rezeptiv-projektiv gegenüber der Beobachtung, sondern eignen sich diese Beobachtung durch andere an, indem sie sich verkleiden, maskieren, verschönern und entziehen. Nietzsche verhandelt die Strategien der Frauen unter dem Sichtwort der ‚Scham‘, also der Sensibilität für das Beobachtetwerden. In diesem Sinne sind Frauen die eigentlichen Meister der Empathie, die ihr weder als Objekt noch als Subjekt zum Opfer fallen.()“ (Breithaupt 2017, S.56)
Die „dritte Position“, die Breithaupt hier den Frauen mit Nietzsche zubilligt, besteht also darin, daß diese sich zu Beobachterinnen des Beobachtetwerdens emanzipieren und so zu Meisterinnen der Empathie werden. Sie befreien sich vom empathischen Beobachter und wenden seine subtilen Manipulationen gegen ihn. Damit befinden sich die Frauen auf der Höhe ihrer Möglichkeiten. Es ist schade, daß Breithaupt diese Ehrenposition am Schluß seines Buches dadurch entwertet, daß er den Ehrentitel eines „Meister(s) der Empathie“ auch Donald Trump zuspricht. (Vgl. Breithaupt 2017, S.211)

An noch einer anderen Stelle scheint die Möglichkeit einer exzentrischen Position durch. Breithaupt verweist auf die Bedeutung der Ironie in Nietzsches Denken:
„Für Nietzsche ist Ironie ein Ausweg, denn sie findet einen Weg, der weder in die Position der Schwäche des empathischen Menschen mündet noch die unreflektierte Barbarei des Ich glorifiziert. Ironie erscheint als Möglichkeit, in jeder Äußerung und in jeder Handlung. Im Falle des Mitleidens äußert sich Ironie als distanzierte Beobachtung seiner Effekte. Der Ironiker erfindet sich, indem er sich von der Handlung der Empathie absetzt, distanziert. Er beobachtet, wie andere Menschen durch Mitleid und Rezeptivität geprägt werden.“ (Breithaupt 2017, S.63)
An diesen zwei Stellen, den Frauen und der Ironie, scheint die Möglichkeit einer Empathiebegrenzung auf, die befreit, ohne anderen zu schaden.

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2 Kommentare:

  1. Die Exentrizität ist insofern gegeben, weil wir mit dem empathischen Mechanismus den anderen zulassen und so sich das Ich an seiner Grenze mit dem Du vermischt. An dieser Grenze vermischen sich die verschiedenen Wahrnehmungsarten der Selbstbeobachtung und der Wahrnehmung des anderen. Die Verbindung beider Wahrnehmungsformen mittels der Empathie ist eine "Grenzerfahrung". Und wenn die Empathie grundsätzlich vorliegt und nicht gegebenenfalls, dann liegt beim Menschen mittels der Empathie eine "neuartige Grenze" vor. Und diese ,neuartige Grenze" erfordert neuartige Formen der Auseinandersetzung. Die Grenze zwischen Ich und Du ist nicht immer genau lokalisierbar. Damit verführt man sich allerdings zur der Breithauptschen Ansicht, dass die Emphatie doch allumfassend sei.

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