„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Sonntag, 2. April 2017

Fritz Breithaupt, Die dunklen Seiten der Empathie, Berlin 2017

(suhrkamp taschenbuch wissenschaft 2196, Broschur, 227 S., 16,-- € )

1. Vorab: Kritik
2. Zusammenfassung
3. Methode
4. Begriffe und Logik
5. Gruppen
6. Exzentrizität

Eine der Stärken von Fritz Breithaupts Buch besteht in der ausführlichen Methodendiskussion in der Einleitung. (Vgl. Breithaupt 2017, S.24ff.) Breithaupt stellt insgesamt vier mögliche Ansätze zur Untersuchung des Empathiebegriffs vor: die Evolutionsbiologie, die Theory-of-Mind, die Hirnforschung und die Phänomenologie.

Vor allem die ersten drei Ansätze geben eine spezifische Sichtweise auf die Empathie vor, die weniger durch den Gegenstand bestimmt ist als vielmehr durch die Methodik. So beschränkt sich die Evolutionsbiologie auf die beobachtbaren Handlungen der Individuen, da sie es sind, die letztlich selektiert werden:
„Doch viele Aspekte der Kooperation sind nicht leicht zu beobachten, denn zahlreiche Reaktionen finden verzögert statt, und Intentionen sind nicht zu beobachten.“ (Breithaupt 2017, S.27)
Deshalb müssen die eigentlichen „Prozesse und das Bewusstsein anderer Tierarten“ im Dunkeln bleiben. (Vgl. Breithaupt 2017, S.28)

Bei dem Ansatz der Theory of Mind liegt der Fokus vor allem auf den intellektuellen Aspekten der Empathie, die mithilfe rekursiver Annahmen über das Wissen der anderen Menschen bestimmte Verhaltensentscheidungen vorhersagbar machen. Das führt zur Annahme einer Berechenbarkeit von Bewußtseinsprozessen:
„Sowohl Philosophen als auch Informatiker greifen die Konzeption der Theory of Mind gerne auf, da diese Form von intellektueller Empathie sich in der Fähigkeit zu begründeten Annahmen und Aussagen ausdrückt.“ (Breithaupt 2017, S.32)
Auch in der künstlichen Intelligenzforschung wird gerne auf dieses Konzept zurückgegriffen. (Vgl. ebenda)

Da das wichtigste Instrument der Hirnforscher in der Nutzung bestimmter Technologien wie der funktionellen Magnet-Resonanz-Tomographie besteht, faßt dieser methodische Ansatz Empathie als Korrelation von Gehirnaktivitäten unterschiedlicher Testpersonen:
„Die Definition von Empathie, die derartige Studien leitet bzw. aus ihnen resultiert, zielt auf die große Ähnlichkeit zwischen der Gehirnaktivität bei dem Handelnden (Fühlenden) und der beim empathischen Beobachter: Empathie besteht in der Simulation bzw. dem Teilen (sharing) der Gehirnaktivität des Beobachteten. Nicht als Empathie gelten dann intellektuelle Verstehensprozesse des Denkens oder Fühlens eines anderen.“ (Breithaupt 2017, S.34f.)
Dementsprechend liegt keine Empathie vor, wenn ein Beobachter für einen anderen Menschen Empathie empfindet, beim Beobachteten aber keine entsprechenden Gehirnaktivitäten vorliegen, weil er seine Situation ganz anders erlebt als sein Beobachter. Paradoxerweise legt dieser Beobachter zwar Empathie an den Tag – mit den entsprechenden beobachtbaren Gehirnaktivitäten –, aber da das nicht mit den Gehirnaktivitäten des Beobachteten korreliert, liegt keine Empathie vor. (Vgl. Breithaupt 2017, S.35)

Interessant ist auch Breithaupts Hinweis, daß neue, verbesserte Gehirnkarten von „180 funktional differenzierten Arealen“ ausgehen. Da die bisherigen Laborstudien von nur 80 Arealen ausgegangen sind, muß man annehmen, daß „viele aneinandergrenzende Areale schlicht als zusammengehörig“ aufgefaßt wurden und die Studien deshalb jetzt wertlos seien. (Vgl. Breithaupt 2017, S.36)

Insgesamt wirft Breithaupt den drei bisher aufgeführten Ansätzen vor, daß „die empirische Beweisbarkeit dabei eigentlich erst die Konzeption (generiert)“. (Vgl. Breithaupt 2017, S.31) Dabei legt Breithaupt eine kritische Einstellung gegenüber dem verbreiteten Methodenoptimismus in der Wissenschaft an den Tag:
„Als ich ein Student war, hat mich nichts so sehr fasziniert wie die methodischen Prämissen einer jeden Arbeit. Meine Annahme war ganz im Geist der 1990er Jahre, dass die Ergebnisse dem Forscher, wenn er seine methodischen Annahmen und Vorgehensweisen erst einmal geklärt hat, wie von selbst zufliegen. Die methodische Perspektive bestimmt die Ergebnisse, dachte ich, und also lohnt sich der Streit eigentlich nur um sie.“ (Breithaupt 2017, S.24)
Inzwischen sieht Breithaupt das anders: die Methode geht den Erkenntnissen bzw. Resultaten der Untersuchung nicht voran, sondern muß dem Erkenntnisprozeß fortlaufend angepaßt werden. (Vgl. Breithaupt 2017, S.24)

Die Phänomenologie hat Breithaupt zufolge den anderen Ansätzen gegenüber den Vorteil, daß sie „besonders sensibel für einzelne Fälle und Fallgeschichten“ ist, „in denen Empathie eine Rolle spielt“. (Vgl. Breithaupt 2017, S.38) Dabei legt Breithaupt den Fokus weniger auf das subjektive Bewußtsein als solches als vielmehr auf „Verfahrensabläufe und Situationen, die ohne Empathie beginnen, dann aber zum ‚Einschalten‘ von Empathie führen und diese in andere Prozesse integrieren“. (Vgl. ebenda) Hier zeigt sich, daß Breithaupt bei dem phänomenologischen Ansatz, an dem er sich, wie er schreibt, auch in den folgenden Kapiteln hauptsächlich orientieren will (vgl. Breithaupt 2017, S.43), vor allem an ‚Ästhetik‘ denkt.

Die „Verfahrensabläufe“, von denen hier die Rede ist, denkt sich Breithaupt vor allem in Form von ‚Szenen‘ in Literatur, Film oder auf der Bühne.  (Vgl. Breithaupt 2017, S.127f.) Breithaupts wichtigster Referenzpunkt für empathische ‚Situationen‘ (eigentlich Szenen) bildet die Tragödie. (Vgl. Breithaupt 2017, S.150ff.) Hier zeigt sich, daß Breithaupt seine eigene methodische Herkunft als Literaturwissenschaftler nicht mitreflektiert. (Vgl. Breithaupt 2017, S.14f.) Indem er von vornherein von einer inszenierten Empathie ausgeht, entgeht ihm die Bedeutung der Gefühlsansteckung als empathischer Basisemotion. Auch Breithaupt bevorzugt, wie die Theory-of-Mind, einen intellektualistischen Empathiebegriff.

Es ist zwar richtig, daß beide, Ästhetik und Phänomenologie, von der Wahrnehmung ausgehen; dennoch muß man festhalten, daß die Ästhetik vor allem an den Manipulationstechniken der Aufmerksamkeitslenkung interessiert ist. Das ist gewissermaßen das gemeinsame Basisinteresse von Kunst und Politik. Und von hierher ergibt sich das Dunkle an der Empathie, ihre Mißbrauchbarkeit, um die es Breithaupt in seinem Buch geht.

Auch die Phänomenologie ist sehr an den Täuschungen interessiert, in die sich das subjektive Bewußtsein immer wieder verfängt. Aber ihr geht es dabei vor allem darum, herauszufinden, was das Bewußtsein überhaupt ist und wie es funktioniert. Manipulationen wie Husserls eidetische Variationen bilden nur ein Mittel, unserem Bewußtsein auf die Spur zu kommen. Phänomenologen sind eher wie Kinder. Husserl bezeichnet den Phänomenologen als ewigen Anfänger, weil das Staunen die wichtigste Motivation seiner Erkenntnissuche bildet. Künstler und Politiker hingegen sind Manipulatoren, die es sich zur Aufgabe gemacht haben, andere an alternative Realitäten glauben zu machen.

Empathie steht aber nicht am Ende eines komplizierten Bewußtseinsprozesses, sondern am Anfang. Die zwingende Gewißheit, die uns via Gefühlsansteckung widerfährt, daß andere so sind wie wir und wir wie andere, führt dazu, daß wir zu denken beginnen.

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