„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Freitag, 21. April 2017

John Holloway, Ganz am Anfang beginnen, in: Mathias Greffrath (Hg.), Re: Das Kapital. Politische Ökonomie im 21. Jahrhundert, München 2017, S.31-49

(Antje Kunstmann, gebunden, 240 S., 22,-- € )

Karl Marx versteht „Das Kapital“ gleichzeitig als Darstellung und als Kritik des Kapitalismus, wie Greffrath in seiner Vorbemerkung zu Holloways Beitrag „Ganz am Anfang beginnen“ (2017) festhält. (Vgl. Greffrath (Hg.) 2017, S.29) Damit ergibt sich zum einen für mich persönlich, zum anderen auch für die Kritik ein Problem. Für die Kritik: wie kann sich aus der Darstellung eines Sachverhaltes, die sich naturgemäß möglichst genau an diesen Sachverhalt zu halten hat, eine kritische Position ergeben, die sich, wiederum naturgemäß, von der Darstellung des Sachverhaltes unterscheidet?

Es gibt eigentlich nur eine Möglichkeit, die Darstellung zugleich als eine Kritik zu deuten: wenn nämlich die Darstellung selbst ironisch ist! Holloway erfaßt diesen Umstand in einer Metapher: Die ganze Darstellung des „Kapitals“ wird von der Ironie wie von einem „Schatten“ begleitet (vgl. Holloway 2017, S.43): wenn vom „Reichtum“ die Rede ist, ist nicht etwa die „ungeheure Warensammlung“ gemeint, von der ebenfalls ständig die Rede ist (vgl. Holloway 2017, S.31), sondern der Reichtum der Erde und des Menschen in ihrer und seiner ganzen historischen Entwicklung und in der Totalität der Entfaltung des Individuums:
„In fact aber, wenn die bornierte bürgerliche Form abgestreift wird, was ist der Reichtum anders, als die im universellen Austausch erzeugte Universalität der Bedürfnisse, Fähigkeiten, Genüsse, Produktivkräfte etc. der Individuen? Die volle Entwicklung der menschlichen Herrschaft über die Naturkräfte, die der sog. Natur sowohl wie seiner eignen Natur? Das absolute Herausarbeiten seiner schöpferischen Anlagen, ohne andre Voraussetzung als die vorhergegangne historische Entwicklung, die diese Totalität der Entwicklung, d.h. der Entwicklung aller menschlichen Kräfte als solcher, nicht gemessen an einem vorhergegebnen Maßstab, zum Selbstzweck macht?“ (Holloway 2017, S.36: Zitat aus „Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie“ (1857/1858))
Genau deshalb hatte ich auch immer ein persönliches Problem bei der Lektüre des „Kapitals“ gehabt: ich hatte die Ironie hinter Begriffen wie „ursprüngliche Akkumulation“ oder „Mehrwert“ nicht verstanden. Und auch die allermeisten der vielen Marx-Exegeten hatten und haben bis heute diese Ironie nicht verstanden, wenn sie sich z.B. wie Frank Engster bei ihrer Darstellung auf den „Standpunkt des Geldes“ stellen, weil sie meinen, nur so diese Darstellung bis zur endgültigen, alles entlarvenden Kritik des Kapitalismus treiben zu können. (Vgl. „Das Geld als Maß, Mittel und Methode“ (2014), S.763f.; vgl. auch meinen Post vom 24.03.2014)

Das Gegenteil ist nämlich nötig: wir müssen uns außerhalb des Kapitals stellen, um es kritisieren zu können, und dieses Außerhalb, diese exzentrische bzw. „ex-(s)tatische“ Position, wie Holloway schreibt (vgl. Holloway 2017, S.41), kann nur der Humanismus sein, also die Perspektive auf das volle, die ganze Erde und ihre Geschichte umfassende Potential unserer Menschlichkeit:
„Reichtum ist die Menschheit in ihrer höchsten Entwicklung, es ist die Menschheit ‚in der absoluten Bewegung des Werdens‘, es ist die ‚völlige Herausarbeitung des menschlichen Innern‘.“ (Holloway 2017, S.36)
Holloway arbeitet seine These an der Spannung heraus, die zwischen den beiden ersten Sätzen des „Kapitals“ besteht. Satz 1: „Der Reichtum der Gesellschaften, in welchen kapitalistische Produktionsweise herrscht, erscheint als eine ‚ungeheure Warensammlung‘, die einzelne Ware als seine Elementarform ()“. (Vgl. Holloway 2017, S.31) – Und Satz 2: „Unsere Untersuchung beginnt daher mit der Analyse der Ware ()“. (Vgl. Holloway 2017, S.32)

Im ersten Satz faßt Karl Marx den Reichtum, wie Holloway mit Bezug auf die „Grundrisse“ belegt, noch als menschlichen Reichtum, als volle Entfaltung der Humanität, die nur in kapitalistischen Gesellschaften als „Warensammlung“ erscheint. Im zweiten Satz aber nimmt Marx nur noch auf die Reduktionsform dieses Reichtums Bezug: auf die Ware. Und diese Ware wird nun zum Ausgangspunkt von Darstellung und Analyse des Kapitalismus. Genau diesen zweiten Satz hat sich die bisherige Marx-Rezeption zum Standpunkt gewählt, also die Ware bzw. das Geld. Von diesem Standpunkt aus führt nur leider kein Weg aus dem Kapitalismus heraus. Stattdessen verbleibt die Darstellung in einem statischen Strukturalismus befangen, der weder Revolution noch Widerstand zu denken vermag:
„Wenn wir mit der Ware beginnen und im Reich der Waren bleiben, besteht das Problem darin, dass der Ausgangspunkt unserer Analyse innerhalb des Objekts der Kritik lokalisiert ist und die Analyse darin stecken bleibt. Unser Nachdenken ist fest innerhalb des Systems selbst lokalisiert, sodass jeglicher Bruch mit dem System nur als von außerhalb der Analyse kommend imaginiert werden kann.“ (Holloway 2017, S.35)
Der Strukturalismus, zu dem uns die immanente, auf die Warenform fixierte Darstellung zwingt, trennt das Subjekt, den Menschen und seinen Reichtum, vom Objekt, der Ware als der Reduktionsform dieses Reichtums. Und das Kapital wird zur „treibende(n) Kraft dieser Gesellschaf“:
„Es ist der beständige Antrieb, die Welt in einer Weise zu formen, die Profite maximieren wird, indem beispielsweise versucht wird, Bildungssysteme zu schaffen, die Arbeiter produzieren, die den Bedürfnissen des Kapitels entsprechen, Städte durch Bergbau zu zerstören, wenn es scheint, dass Bergbau in dieser Gegend eine gute Profitquelle zu sein scheint, Wälder zu zerstören, um Autobahnen für den schnelleren Warentransport zu bauen, und so weiter, und so weiter. Das Kapital beherrscht den Planeten und es ist jetzt klar, dass die Herrschaft des Kapitals die für das Leben der Menschen und vieler anderer Lebensformen notwendigen Bedingungen zerstört.“ (Holloway 2017, S.33f.)
Mit der Ware haben wir den Standpunkt des Menschen preisgegeben und damit jene exzentrisch-exstatische Position, die uns einzig zur Kritik befähigt. Der Mensch steckt in der Struktur des Kapitals gefangen wie Wittgensteins Fliege im Fliegenglas.

Wenn wir hingegen statt mit dem zweiten mit dem ersten Satz beginnen, der uns daran erinnert, daß die „ungeheure Warensammlung“ nur eine kapitalistische Erscheinungsform des eigentlichen Reichtums des Menschen bildet, dann behalten wir diesen Standpunkt bei:
„Er ist die ganze Zeit da und scheint in allen drei Bänden des Kapital auf. Er ist von Beginn an da und wird von anderen weniger beachteten Kategorien, wie etwa Gebrauchswert, konkreter Arbeit und den in der kritischen Literatur geschmähten() Produktivkräften transportiert.“ (Holloway 2017, S.43)
Wir gewinnen mit dem Reichtum des Menschen einen exzentrischen Standpunkt, den Holloway auch als „Mittelpunkt der Geschichte“ bezeichnet (Holloway 2017, S.38f.), weil der Mensch wieder zum Subjekt wird. Wir gewinnen bei aller Bedrängnis und Frustration einen Bewegungsraum zurück, der den Widerstand in der Gegenwart möglich macht, ohne auf eine ferne Revolution am Ende des Kapitalismus warten zu müssen:
„Wir sind frustriert, aber unser Potenzial entschwindet nicht einfach in Beschäftigung und Erwerbslosigkeit. Es versucht einen Weg hindurch, jenseits davon, außerhalb davon zu finden. Unsere Leben sind gekennzeichnet von einem Drama des Drängens und Ziehens zwischen Potenzial und Frustration. Die Zukunft der Gesellschaft hängt davon ab, wie sich dieses Drama abspielt, nicht als zukünftiges Geschehen, sondern als Kampf im Hier und Jetzt, um mit der Zumutung der Ware und der Herrschaft des Geldes zu brechen.“ (Holloway 2017, S.39)
Dafür lohnt es sich tatsächlich, das „Kapital“ zu lesen: „Und wenn Du es liest, beginne ganz am Anfang; ein sehr guter Ort, um anzufangen.“ (Holloway 2017, S.49)

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Mittwoch, 5. April 2017

Fritz Breithaupt, Die dunklen Seiten der Empathie, Berlin 2017

(suhrkamp taschenbuch wissenschaft 2196, Broschur, 227 S., 16,-- € )

1. Vorab: Kritik
2. Zusammenfassung
3. Methode
4. Begriffe und Logik
5. Gruppen
6. Exzentrizität

Breithaupt stellt in dem Kapitel zu Nietzsche (vgl. Breithaupt 2017, S.44-78) eine wichtige Frage. Der Begriff der Empathie ist bei ihm vor allem an die Beobachterposition gebunden. Es ist vor allem der empathische Beobachter, an dem er den Begriff entfaltet. Dieser empathische Beobachter ist in dem Nietzsche-Kapitel der „objektive Mensch“, der um der Objektivität willen, also um der möglichst genauen Erfassung der wahrgenommenen Objekte willen, sein eigenes Selbst, seine Identität verliert. (Vgl. Breithaupt 2017, S.45f.) Er wird zum flachen Spiegel, zur nachgiebigen Form, die das fremde Objekt in sich aufnimmt und sich ihm vollkommen anschmiegt.

Breithaupt schreibt nun mit Bezug auf diesen objektiven Menschen:
„Wir dürfen uns fragen, warum sein ausgezeichneter Wahrnehmungsapparat nicht mit einer besseren Selbstbeobachtungsfähigkeit einhergeht.“ (Breithuapt 2017, S.54) 
Breithaupt beantwortet diese Frage mit dem Hinweis auf den technischen Charakter, den diese Selbstaufgabe des objektiven Menschen bei Nietzsche hat. Nietzsche bezieht sich bei der Wahrnehmung des objektiven Menschen nicht auf das lebendige Auge, sondern auf eine Kamera, die die äußere Wirklichkeit detailgetreu ablichtet:
„Hätte Nietzsche etwa die Metapher des ‚Auges‘ benutzt, wäre der metaphorische Weg zu einem ‚inneren Auge‘ schnell bei der Hand gewesen. Von der Metapher der Kamera dagegen führt kein direkter Weg zur Selbstsichtbarkeit. Der blinde Fleck der Beobachtung durch die Kamera ist ihre Mechanik.“ (Breithaupt 2017, S.54f.)
Bei diesem Hinweis auf die mangelnde Selbstbeobachtungsfähigkeit des objektiven Menschen und im weiteren Verlauf des Buches des empathischen Beobachters bleibt es dann aber auch. Eine Rückwendung des Beobachters auf sich selbst wird dann nur noch als Technik der Empathieunterdrückung bei Tätern gegenüber ihren Opfern thematisiert, also, wie im Falle der Nazis, „das Mitleid im Entstehen umzukehren und statt auf andere auf sich zu richten“. (Vgl. Breithaupt 2017, S.79)

Breithaupt versäumt es, eine exzentrische Position des objektiven Menschen in Betracht zu ziehen, wie wir sie von Helmuth Plessner kennen. Mit dieser Exzentrizität gäbe es nicht diese Schicksalshaftigkeit des Selbstverlustes in der objektiven Wahrnehmung. Eine wirklich phänomenologische Position wäre möglich, wie sie z.B. Lambert Wiesing in seinem Buch „Das Mich der Wahrnehmung“ (2009) beschreibt. (Vgl. meine Posts vom 04.06. bis 05.06.2010) Bei Wiesing ist der wahrnehmende Mensch keineswegs ein Sklave seiner Wahrnehmung; vielmehr befreit ihn die Wahrnehmung aus dem Solipsismus seiner Selbstbefangenheit.

Nur an zwei Stellen wird bei Breithaupt die Möglichkeit einer solchen exzentrischen Positionalität angedeutet. Da sind zunächst die Frauen, denen Nietzsche eine besondere Fähigkeit zuschreibt:
„Frauen spielen bei Nietzsche eine besondere Rolle in der Beziehung zwischen dem objektiven Menschen und dem starken Ich. Sie nehmen eine dritte Position ein. Frauen sind in Nietzsches Gedankenwelt von Jenseits von Gut und Böse Meister in der Manipulation der Art und Weise, wie sie von anderen Menschen wahrgenommen werden. Sie verstehen, dass und wie andere Menschen sie beobachten, doch sie verhalten sich anders als der objektive Mensch nicht schlicht rezeptiv-projektiv gegenüber der Beobachtung, sondern eignen sich diese Beobachtung durch andere an, indem sie sich verkleiden, maskieren, verschönern und entziehen. Nietzsche verhandelt die Strategien der Frauen unter dem Sichtwort der ‚Scham‘, also der Sensibilität für das Beobachtetwerden. In diesem Sinne sind Frauen die eigentlichen Meister der Empathie, die ihr weder als Objekt noch als Subjekt zum Opfer fallen.()“ (Breithaupt 2017, S.56)
Die „dritte Position“, die Breithaupt hier den Frauen mit Nietzsche zubilligt, besteht also darin, daß diese sich zu Beobachterinnen des Beobachtetwerdens emanzipieren und so zu Meisterinnen der Empathie werden. Sie befreien sich vom empathischen Beobachter und wenden seine subtilen Manipulationen gegen ihn. Damit befinden sich die Frauen auf der Höhe ihrer Möglichkeiten. Es ist schade, daß Breithaupt diese Ehrenposition am Schluß seines Buches dadurch entwertet, daß er den Ehrentitel eines „Meister(s) der Empathie“ auch Donald Trump zuspricht. (Vgl. Breithaupt 2017, S.211)

An noch einer anderen Stelle scheint die Möglichkeit einer exzentrischen Position durch. Breithaupt verweist auf die Bedeutung der Ironie in Nietzsches Denken:
„Für Nietzsche ist Ironie ein Ausweg, denn sie findet einen Weg, der weder in die Position der Schwäche des empathischen Menschen mündet noch die unreflektierte Barbarei des Ich glorifiziert. Ironie erscheint als Möglichkeit, in jeder Äußerung und in jeder Handlung. Im Falle des Mitleidens äußert sich Ironie als distanzierte Beobachtung seiner Effekte. Der Ironiker erfindet sich, indem er sich von der Handlung der Empathie absetzt, distanziert. Er beobachtet, wie andere Menschen durch Mitleid und Rezeptivität geprägt werden.“ (Breithaupt 2017, S.63)
An diesen zwei Stellen, den Frauen und der Ironie, scheint die Möglichkeit einer Empathiebegrenzung auf, die befreit, ohne anderen zu schaden.

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Dienstag, 4. April 2017

Fritz Breithaupt, Die dunklen Seiten der Empathie, Berlin 2017

(suhrkamp taschenbuch wissenschaft 2196, Broschur, 227 S., 16,-- € )

1. Vorab: Kritik
2. Zusammenfassung
3. Methode
4. Begriffe und Logik
5. Gruppen
6. Exzentrizität

Indem Fritz Breithaupt seinem Begriff der Empathie eine dreistufige Architektur zugrundelegt, zu der auch vielfältige Blockademechanismen samt Umgehungs- und Aufhebungsmöglichkeiten gehören, faßt er den psychischen Mechanismus der Empathie so weit, daß diese Empathie im Grunde das ganze Bewußtsein umfaßt. Viele notwendige Differenzierungen innerhalb dieses Bewußtseins gehen dadurch verloren: z.B. der Unterschied zwischen Gefühlsansteckung bzw. „emotionaler Ansteckung“ (Breithaupt 2017, S.35) und Massenansteckung (vgl. Breithaupt 2017, S.84). Statt eine differenzierte Verhältnisbestimmung zwischen diesen beiden Affekten vorzunehmen, bezeichnet Breithaupt sie zusammenfassend lediglich als problematisch:
„Umgekehrt müssen aber manche Fälle, die eher problematisch sind, durchaus der Empathie zugerechnet werden. Dazu gehören die emotionale Ansteckung, das Schwarmverhalten und ähnliche nicht willentliche Reaktionen.“ (Breithaupt 2017, S.35)
Der Unterschied zwischen der Gefühlsansteckung, zu der auch das Mitleid gehört, und dem Schwarmverhalten ist aber so gravierend, daß man Breithaupt deren pauschale Zuordnung zur Empathie nicht durchgehen lassen kann. Es gibt nichts empathieloseres als menschliches Schwarmverhalten. Die Menschen werden in der Masse von Affekten angesteckt, die sich nicht auf ein individuelles Du richten bzw. die nicht von einem individuellen Du ausgelöst werden. Sie werden vielmehr im Gegenteil von einer Masse entindividualisiert, die „in sich selbst verliebt“ ist. (Vgl. meinen Post vom 23.08.2011)

Mit der Nivellierung der Differenz von Mitleid und Schwarmverhalten als gleichermaßen problematisch geht aber noch mehr verloren: die Differenz zwischen kleinen und großen Gruppen (Gemeinschaft/Gesellschaft) und damit zusammenhängend die Differenz zwischen Zweitpersonalität und Drittpersonalität. Breithaupt zieht eine zweitpersonale Beziehung überhaupt nicht in Betracht. Allerdings ist interessant, was er zur Identifikation mit symbolisch überhöhten Führungspersönlichkeiten schreibt:
„In dem Moment, wo Empathie einem institutionell überhöhten Individuum gilt, kann die menschliche Gruppengröße immens wachsen, und politische Institutionen entstehen.“ (Breithaupt 2017, S.73f.)
Breithaupt gibt hier einen Hinweis darauf, wie die zweitpersonalen Verbindlichkeiten zwischen Ich und Du in kleinen Gruppen durch Identifikation mit einer Führungspersönlichkeit in Form von symbolischer Loyalität auf die drittpersonale Ebene übertragen werden könnten. Dennoch, grundsätzlich geht Breithaupt von einem „Drei-Personen-Modell der Empathie“ aus. (Vgl. Breithaupt 2017, S.105) Dieses Drei-Personen-Modell faßt er als Parteinahme, also als eine dritte Instanz, die über die gemeinsamen Bedürfnisse von zwei Personen hinausgeht:
„Der Beobachter erlebt die emotionale Situation von A mit, entwickelt Empathie. Empathie ist hier aber nicht der Endpunkt, sondern zugleich Ausgangspunkt von erneuter Parteinahme und damit also wiederholter und verstärkter Entscheidung für diese Partei. Es ist dabei sehr wahrscheinlich, dass der Beobachter-Empathiker nun erneut die Partei der bereits gewählten Partei ergreift und sein erstes schnelles Urteil solcherart erhärtet.“ (Breithaupt 2017, S.107)
Das gilt so nicht nur für politische Situationen, wie etwa beim Präsidentschaftswahlkampf in den USA, auf den sich Breithaupt in diesem Zitat bezieht. Von der Beobachterperspektive ausgehend stellt Breithaupt auch im Zusammenhang von basalen Hilfeleistungen die Frage nach der Notwendigkeit einer „Helfer-Identifikation“ (Breithaupt 2017, S.129), die dazu beiträgt, daß der Helfer „das ihm zustehende Lob“ erhält. (Vgl. Breithaupt 2017, S.131) Auch hier also wieder drei Personen: Beobachter, Helfer, Opfer; wobei das Opfer hier nur am Rande ‚eine Rolle‘ spielt. Auch hier transformiert sich Breithaupt zufolge wieder das aktuelle Mitfühlen mit einer Person, in diesem Fall eines Beobachters mit dem Helfer, zu einer Parteinahme für diese Person.

In Breithaupts Empathiebegriff gibt es keine Zweitpersonalität. Wenn man berücksichtigt, daß die Drittpersonalität in der Philosophie immer gerne mit normativen Moralvorstellungen verknüpft wird, erstaunt es schon sehr, wenn Breithaupt trotzdem darauf beharrt, daß „Empathie weder eine Morallehre ersetzen kann noch der beste Anstoß moralischen Handelns ist“. (Vgl. Breithaupt 2017, S.205) Mit der automatischen Parteinahme schon im einfachsten Fall der Gefühlsansteckung ist die normative Aufladung zur Drittpersonalität unvermeidbar. Zugleich wird auf diese Weise die spezifische moralische Qualität der Zweitpersonalität verdeckt.

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Montag, 3. April 2017

Fritz Breithaupt, Die dunklen Seiten der Empathie, Berlin 2017

(suhrkamp taschenbuch wissenschaft 2196, Broschur, 227 S., 16,-- € )

1. Vorab: Kritik
2. Zusammenfassung
3. Methode
4. Begriffe und Logik
5. Gruppen
6. Exzentrizität

Immer wieder stößt man bei der Lektüre von Fritz Breithaupts Buch auf sachliche Ungenauigkeiten bei zentralen Begriffsbestimmungen, auf logische Widersprüche und auf etwas, das ich als ‚Begründungsunterstellung‘ oder als ‚Begründungserschleichung‘ bezeichnen möchte: nämlich in Form von Zitaten oder von Verweisen auf Autoritäten, die für das Gegenteil dessen stehen, für das Breithaupt glaubt, sie in Anspruch nehmen zu können. Eine zentrale Autorität für Breithaupts Empathiebegriff ist z.B. Frans de Waal. Breithaupt faßt eine Publikation von de Waal und seiner Co-Autorin Stephanie Preston mit folgenden Worten zusammen:
„Stephanie Preston und Frans de Waal haben vorgeschlagen, dass Menschen und manche andere Tierarten lernen können, zwischen sich und anderen zu unterscheiden, und dadurch die Emotionen der anderen ausblenden können.“ (Breithaupt 2017, S.90)
Diese Zusammenfassung entspricht dem, was ich von Frans de Waal erwarten würde, dessen Buch „Das Prinzip Empathie“ (2011) ich vor einigen Jahren in diesem Blog besprochen habe. (Vgl. meine Posts vom 15.05. bis 21.05.2011) Um Empathie zu kontrollieren und zu steuern, bedarf es bestimmter kognitiver Techniken, und die kann man lernen. Empathie und Kognition sind also nicht dasselbe. Breithaupt schlußfolgert aber etwas ganz anderes:
„So betrachtet besteht die Funktion des Ich oder Selbst darin, das Individuum von den Gefühlen und Emotionen der anderen abzuschirmen. Empathie besteht entsprechend im Verstehen und Mitfühlen bei gleichzeitigem Bewusstsein der Differenz zwischen Ich und anderem.“ (Breithaupt 2017, S.90)
Anstatt also Kognition und Empathie als zwei verschiedenartige Bewußtseinsprozesse zu fassen, wie es Breithaupts eigene – und korrekte! – Zusammenfassung nahelegt, nimmt er die mit seiner Zusammenfassung verbundene Berufung auf die Autorität von Frans de Waal als Argument, das angeblich das genaue Gegenteil belegt: daß nämlich Kognition (Differenzbewußtsein) einen immanenten Bestandteil von Empathie bildet.

An anderer Stelle zitiert Breithaupt aus Edmund Burkes „A Philosophical Enquiry into the Origins of our Ideas of the Sublime and Beautiful“ (1757):
„Ich bin davon überzeugt, dass wir einen Grad an Vergnügen, und keines kleinen, an dem wirklichen Unglück und dem Schmerz von anderen haben. Wenn diese Leidenschaft schlicht schmerzhaft wäre, würden wir mit der größten Umsicht alle Personen und Orte vermeiden, die sie erregen könnten ... . Und wie unser SCHÖPFER es besorgt hat, sollten wir durch die Bande der Sympathie vereint sein ... . ... es ist absolut notwendig, dass mein Leben außerhalb von jeder konkreten Gefahr ist, bevor ich das Vergnügen an dem Leiden von realen oder imaginären anderen empfinden kann. ...()“ (Zitiert nach Breithaupt 2017, S.152)
Wenn dieses Zitat etwas klar und deutlich zum Ausdruck bringt, dann daß man nur dann ein Vergnügen am Schmerz von anderen haben kann, wenn man diesen Schmerz nicht am eigenen Leib verspürt und wenn man sich selbst „außerhalb von jeder konkreten Gefahr“ befindet. Schmerz verbindet die Menschen also nicht miteinander. Und sie teilen ihn auch nicht. Denn dann könnten die einen kein Vergnügen am Schmerz der anderen mehr empfinden. Breithaupt macht auch hier das genaue Gegenteil daraus:
„Burkes Logik an dieser Stelle lautet, dass Schmerz Menschen aneinander bindet, weil wir den Schmerz alle teilen. Die Sym-Pathie ist ein gemeinsames Leiden. Wenn wir also das Leiden eines anderen wahrnehmen, freuen wir uns, weil dieses Teilen des Leidens eine Gemeinsamkeit und Verbindung evoziert.“ (Breithaupt 2017, S.152)
Das ist das, was ich eine Begründungserschleichung nennen möchte.

Das führt uns noch einmal zum Empathiebegriff selbst, denn hier leistet sich Breithaupt Verkürzungen und Bewertungen, die eher suggestiv sind als analytisch. Zunächst heißt es, daß „emotionale Ansteckung“ als „nicht willentliche Reaktion“ „eher problematisch“ sei, und Breithaupt rückt sie in die Nähe von Schwarmverhalten. (Vgl. Breithaupt 2017, S.35) In der Folge spricht Breithaupt dann nicht von emotionaler Ansteckung, sondern von „Über-Empahtisierung“ (Breithaupt 2017, S.83), die er zur ersten Stufe seiner dreistufigen Empathie-Architektur macht. Breithaupt stellt nun fest, daß Menschen ständig „hyperempathisch“ (Breithaupt 2017, S.85, 92) seien und schlußfolgert, daß es eines effektiven Blockademechanismusses bedarf, der die problematische Über-Empathisierung unter Kontrolle hält (vgl. Breithaupt 2017, S.85). Dieser Blockademechanismus soll die zweite Stufe seines Empathie-Modells bilden. Dabei bleibt gleichermaßen unerörtert, inwiefern emotionale Ansteckung, Schwarmverhalten und Über-Empathisierung sich unterscheiden und ob wir es bei den verschiedenen Ebenen der emotionalen Beteiligung und der reflexiven Distanz überhaupt mit ‚Stufen‘ innerhalb ein und desselben psychischen Mechanismusses zu tun haben, statt mit zwei völlig verschiedenartigen antagonistischen Prozessen.

Die ersten beiden Stufen der dreistufigen Architektur des Empathiebegriffs beruhen also auf lauter ungeklärten Begriffen und suggestiven Bewertungen.

Auch Breithaupts Begriff der „falschen Empathie“ krankt an diesen sprachlichen Ungenauigkeiten. So legte seiner Ansicht nach Angela Merkel falsche Empathie an den Tag, als sie ein weinendes Syrermädchen mit der Bemerkung zu trösten versuchte, daß sie ihre Sache „doch prima gemacht“ habe, so als ginge es dem Mädchen, das mit einer drohenden Abschiebung konfrontiert war, nur um seine mediale Darstellung. (Vgl. Breithaupt 2017, S.142) Breithaupt berücksichtigt nicht, daß Merkel vielleicht die falschen Worte gewählt hat, aber deshalb noch lange nicht falsche Empathie gezeigt hat. Sie hat zunächst mal nur auf der kognitiven Ebene versagt, aber nicht unbedingt wegen falscher Empathie. Da Breithaupt aber zwischen Empathie und Kognition nicht trennt, betrifft aus seiner Sicht Merkels Versagen auch die Empathie. Es mutet auch leicht absurd an, wenn Breithaupt bei Angela Merkel einen angeblichen Mangel an Empathie diskutiert und gleichzeitig Donald Trump bescheinigt, ein „Meister der Empathie“ zu sein. (Vgl. Breithaupt 2017, S.211)

Solche sachlichen Ungenauigkeiten bei Definitionen finden sich immer wieder. Zum Begriff der Strafe schreibt Breithaupt:
„Die Leistung des Strafens besteht in der Unterbrechung einer der Gemeinschaft schadenden Tat.“ (Breithaupt 2017, S.163)
Es ist eigentlich so offensichtlich, daß Strafe keine „Unterbrechung“ einer „schadenden Tat“ bildet, daß es hier fast schon überflüssig ist, das noch einmal eigens hervorzuheben: Strafe ist keine Intervention! Bestrafung erfolgt, wenn die ‚schadende‘ Tat längst vollzogen ist, also im nachhinein, und ‚gemeinschaftlich‘ bzw. gesellschaftlich dient sie vor allem zur Prävention, also zur Verhütung künftiger Straftaten durch Abschreckung.

Seltsam mutet es auch an, wenn Breithaupt auf die methodischen Unzulänglichkeiten einer Meta-Studie zu der Veränderung von Einstellungen zur Empathie zwischen 1979 und 2009 eingeht (vgl. Breithaupts 2017, S.67ff.), und dann im nächsten Kapitel – in völliger Ignoranz gegenüber seiner eigenen Kritik – genau diese Studie als Beleg dafür nimmt, daß „bei der heutigen Jugend zumindest in Amerika eine rapide Abnahme von Empathie zu verzeichnen ist“. (Vgl. Breithaupt 2017, S.79)

Alle diese Fahrlässigkeiten, Verdrehungen und Inkonsequenzen im Umgang mit Zitaten, Begriffen und Schlußfolgerungen schaden dem berechtigten Anliegen des Autors, den dunklen Seiten der Empathie auf die Spur zu kommen.

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Sonntag, 2. April 2017

Fritz Breithaupt, Die dunklen Seiten der Empathie, Berlin 2017

(suhrkamp taschenbuch wissenschaft 2196, Broschur, 227 S., 16,-- € )

1. Vorab: Kritik
2. Zusammenfassung
3. Methode
4. Begriffe und Logik
5. Gruppen
6. Exzentrizität

Eine der Stärken von Fritz Breithaupts Buch besteht in der ausführlichen Methodendiskussion in der Einleitung. (Vgl. Breithaupt 2017, S.24ff.) Breithaupt stellt insgesamt vier mögliche Ansätze zur Untersuchung des Empathiebegriffs vor: die Evolutionsbiologie, die Theory-of-Mind, die Hirnforschung und die Phänomenologie.

Vor allem die ersten drei Ansätze geben eine spezifische Sichtweise auf die Empathie vor, die weniger durch den Gegenstand bestimmt ist als vielmehr durch die Methodik. So beschränkt sich die Evolutionsbiologie auf die beobachtbaren Handlungen der Individuen, da sie es sind, die letztlich selektiert werden:
„Doch viele Aspekte der Kooperation sind nicht leicht zu beobachten, denn zahlreiche Reaktionen finden verzögert statt, und Intentionen sind nicht zu beobachten.“ (Breithaupt 2017, S.27)
Deshalb müssen die eigentlichen „Prozesse und das Bewusstsein anderer Tierarten“ im Dunkeln bleiben. (Vgl. Breithaupt 2017, S.28)

Bei dem Ansatz der Theory of Mind liegt der Fokus vor allem auf den intellektuellen Aspekten der Empathie, die mithilfe rekursiver Annahmen über das Wissen der anderen Menschen bestimmte Verhaltensentscheidungen vorhersagbar machen. Das führt zur Annahme einer Berechenbarkeit von Bewußtseinsprozessen:
„Sowohl Philosophen als auch Informatiker greifen die Konzeption der Theory of Mind gerne auf, da diese Form von intellektueller Empathie sich in der Fähigkeit zu begründeten Annahmen und Aussagen ausdrückt.“ (Breithaupt 2017, S.32)
Auch in der künstlichen Intelligenzforschung wird gerne auf dieses Konzept zurückgegriffen. (Vgl. ebenda)

Da das wichtigste Instrument der Hirnforscher in der Nutzung bestimmter Technologien wie der funktionellen Magnet-Resonanz-Tomographie besteht, faßt dieser methodische Ansatz Empathie als Korrelation von Gehirnaktivitäten unterschiedlicher Testpersonen:
„Die Definition von Empathie, die derartige Studien leitet bzw. aus ihnen resultiert, zielt auf die große Ähnlichkeit zwischen der Gehirnaktivität bei dem Handelnden (Fühlenden) und der beim empathischen Beobachter: Empathie besteht in der Simulation bzw. dem Teilen (sharing) der Gehirnaktivität des Beobachteten. Nicht als Empathie gelten dann intellektuelle Verstehensprozesse des Denkens oder Fühlens eines anderen.“ (Breithaupt 2017, S.34f.)
Dementsprechend liegt keine Empathie vor, wenn ein Beobachter für einen anderen Menschen Empathie empfindet, beim Beobachteten aber keine entsprechenden Gehirnaktivitäten vorliegen, weil er seine Situation ganz anders erlebt als sein Beobachter. Paradoxerweise legt dieser Beobachter zwar Empathie an den Tag – mit den entsprechenden beobachtbaren Gehirnaktivitäten –, aber da das nicht mit den Gehirnaktivitäten des Beobachteten korreliert, liegt keine Empathie vor. (Vgl. Breithaupt 2017, S.35)

Interessant ist auch Breithaupts Hinweis, daß neue, verbesserte Gehirnkarten von „180 funktional differenzierten Arealen“ ausgehen. Da die bisherigen Laborstudien von nur 80 Arealen ausgegangen sind, muß man annehmen, daß „viele aneinandergrenzende Areale schlicht als zusammengehörig“ aufgefaßt wurden und die Studien deshalb jetzt wertlos seien. (Vgl. Breithaupt 2017, S.36)

Insgesamt wirft Breithaupt den drei bisher aufgeführten Ansätzen vor, daß „die empirische Beweisbarkeit dabei eigentlich erst die Konzeption (generiert)“. (Vgl. Breithaupt 2017, S.31) Dabei legt Breithaupt eine kritische Einstellung gegenüber dem verbreiteten Methodenoptimismus in der Wissenschaft an den Tag:
„Als ich ein Student war, hat mich nichts so sehr fasziniert wie die methodischen Prämissen einer jeden Arbeit. Meine Annahme war ganz im Geist der 1990er Jahre, dass die Ergebnisse dem Forscher, wenn er seine methodischen Annahmen und Vorgehensweisen erst einmal geklärt hat, wie von selbst zufliegen. Die methodische Perspektive bestimmt die Ergebnisse, dachte ich, und also lohnt sich der Streit eigentlich nur um sie.“ (Breithaupt 2017, S.24)
Inzwischen sieht Breithaupt das anders: die Methode geht den Erkenntnissen bzw. Resultaten der Untersuchung nicht voran, sondern muß dem Erkenntnisprozeß fortlaufend angepaßt werden. (Vgl. Breithaupt 2017, S.24)

Die Phänomenologie hat Breithaupt zufolge den anderen Ansätzen gegenüber den Vorteil, daß sie „besonders sensibel für einzelne Fälle und Fallgeschichten“ ist, „in denen Empathie eine Rolle spielt“. (Vgl. Breithaupt 2017, S.38) Dabei legt Breithaupt den Fokus weniger auf das subjektive Bewußtsein als solches als vielmehr auf „Verfahrensabläufe und Situationen, die ohne Empathie beginnen, dann aber zum ‚Einschalten‘ von Empathie führen und diese in andere Prozesse integrieren“. (Vgl. ebenda) Hier zeigt sich, daß Breithaupt bei dem phänomenologischen Ansatz, an dem er sich, wie er schreibt, auch in den folgenden Kapiteln hauptsächlich orientieren will (vgl. Breithaupt 2017, S.43), vor allem an ‚Ästhetik‘ denkt.

Die „Verfahrensabläufe“, von denen hier die Rede ist, denkt sich Breithaupt vor allem in Form von ‚Szenen‘ in Literatur, Film oder auf der Bühne.  (Vgl. Breithaupt 2017, S.127f.) Breithaupts wichtigster Referenzpunkt für empathische ‚Situationen‘ (eigentlich Szenen) bildet die Tragödie. (Vgl. Breithaupt 2017, S.150ff.) Hier zeigt sich, daß Breithaupt seine eigene methodische Herkunft als Literaturwissenschaftler nicht mitreflektiert. (Vgl. Breithaupt 2017, S.14f.) Indem er von vornherein von einer inszenierten Empathie ausgeht, entgeht ihm die Bedeutung der Gefühlsansteckung als empathischer Basisemotion. Auch Breithaupt bevorzugt, wie die Theory-of-Mind, einen intellektualistischen Empathiebegriff.

Es ist zwar richtig, daß beide, Ästhetik und Phänomenologie, von der Wahrnehmung ausgehen; dennoch muß man festhalten, daß die Ästhetik vor allem an den Manipulationstechniken der Aufmerksamkeitslenkung interessiert ist. Das ist gewissermaßen das gemeinsame Basisinteresse von Kunst und Politik. Und von hierher ergibt sich das Dunkle an der Empathie, ihre Mißbrauchbarkeit, um die es Breithaupt in seinem Buch geht.

Auch die Phänomenologie ist sehr an den Täuschungen interessiert, in die sich das subjektive Bewußtsein immer wieder verfängt. Aber ihr geht es dabei vor allem darum, herauszufinden, was das Bewußtsein überhaupt ist und wie es funktioniert. Manipulationen wie Husserls eidetische Variationen bilden nur ein Mittel, unserem Bewußtsein auf die Spur zu kommen. Phänomenologen sind eher wie Kinder. Husserl bezeichnet den Phänomenologen als ewigen Anfänger, weil das Staunen die wichtigste Motivation seiner Erkenntnissuche bildet. Künstler und Politiker hingegen sind Manipulatoren, die es sich zur Aufgabe gemacht haben, andere an alternative Realitäten glauben zu machen.

Empathie steht aber nicht am Ende eines komplizierten Bewußtseinsprozesses, sondern am Anfang. Die zwingende Gewißheit, die uns via Gefühlsansteckung widerfährt, daß andere so sind wie wir und wir wie andere, führt dazu, daß wir zu denken beginnen.

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Samstag, 1. April 2017

Fritz Breithaupt, Die dunklen Seiten der Empathie, Berlin 2017

(suhrkamp taschenbuch wissenschaft 2196, Broschur, 227 S., 16,-- € )

1. Vorab: Kritik
2. Zusammenfassung
3. Methode
4. Begriffe und Logik
5. Gruppen
6. Exzentrizität

Fritz Breithaupt beginnt sein Buch „Die dunklen Seiten der Empathie“ (2017) mit einer Diskussion des „objektiven Menschen“ von Friedrich Nietzsche (1844-1900) in „Jenseits von Gut und Böse“ (1886). Als Textbasis bezieht sich Breithaupt dabei auf den § 207, den er ausführlich zitiert. (Vgl. Breithaupt 2017, S.45-47) Zwar distanziert sich Breithaupt von „Nietzsches pathologische(r) Aufwertung des Ich“ (Anm.5, S.50), die in einem dualistischen Drama zwischen Selbstbehauptung und Selbstverlust gipfelt. Breithaupt konstatiert, daß Nietzsche „nur bedingt als Gewährsmann für die in diesem Buch vorgestellten Thesen in Frage“ komme. (Vgl. Breithaupt 2017, S.67) Tatsächlich aber übernimmt er Nietzsches Gleichsetzung von Wahrnehmung und Empathie und macht sie zum grundlegenden Argument für einen Ästhetizismus, in dem sich der die Qualen seiner Opfer genießende Folterknecht als empathischer Sadist erweist. (Vgl. Breithaupt 2017, S.203)

Mit dem Kapitel zu Nietzsche legt Breithaupt die Grundlage zu einem Empathiebegriff, der auf der ästhetischen Differenz zwischen einem „empathischen Beobachter“ und dem leidenden Anderen beruht:
„Wir können nun unsere Definition von Empathie genauer fassen: Empathie besteht im Mit-Erleben mit einem anderen, wobei sich der empathische Beobachter in die Situation des anderen versetzt sieht und diese Situation zumindest mit einem minimalen Aspekt von Selbst-Interesse aus der Perspektive des anderen betrachtet sowie emotional erlebt. Eine direkte Simulation von Gefühlen und Empfindungen ist nicht notwendig Voraussetzung oder Resultat dieses Prozesses. Empathie führt zudem nicht notwendig zu einem Einsetzen für den anderen.“ (Breithaupt 2017, S.22)
Der empathische Beobachter ist meilenweit entfernt von einer emotionalen Ansteckung. Er befindet sich in einer Zuschauerposition, die den Akt der ‚Einfühlung‘ ästhetisiert. Er ist nicht direkt involviert in eine Situation, sondern beobachtet Szenen der Empathie, der Strafe, der Scham etc. (Vgl. Breithaupt 2017, S.127f., 184f., 175) Diese Szenen sind wie eine Tragödie inszeniert, mit „Anfang, Mitte und Ende“. (Vgl. Breithaupt 2017, S.96) Solche ‚Szenen‘ sind für den empathischen Beobachter besonders attraktiv, weil sie ihm mit dem antizipierten Ende eine Rückzugsoption bieten und ihn so vor empathischer Überforderung schützen:
„Die Tragödie verspricht dem Zuschauer, dass er sich empathisch oder identifikatorisch einfühlen kann, ohne dass er sich dauerhaft verloren geht, denn das Objekt seiner Einfühlung, der Held der Tragödie, wird ja sein Ende finden, so dass der Zuschauer ‚sich zu sich‘ zurückziehen kann.“ (Breithaupt 2017, S.155)
Von der Tragödie führt Breithaupt zufolge der direkte Weg zu den verschiedenen dunklen Seiten der Empathie; denn das empathische Mitleiden bzw. Mit-‚Erleben‘ des Zuschauers findet sich in den verschiedensten alltäglichen und weniger alltäglichen Situationen wieder: im drohenden „Selbstverlust“, weshalb Helfer wie Chirurgen, Sanitäter und Pfleger „Techniken zur Unterbindung von Empathie“ entwickeln müssen, um einen Burnout zu vermeiden (vgl. Breithaupt 2017, S.85); im „Schwarz-Weiß- bzw. Freund-Feind-Denken“, wie man es ebenfalls als narratives Element in der Literatur findet (vgl. Beithaupt 2017, S.119); in der falschen Empathie, wenn man sich statt mit dem Opfer mit dem Helfer identifiziert, insbesondere wenn man es aus den falschen Gründen tut (vgl. Breithaupt 2017, S.140ff.); im empathischen Genießen des Schmerzes von anderen; und in Formen des Vampirismus. (Vgl. Breithaupt 2017, S.22f.) Alle diese dunklen Seiten der Empathie haben ihren Ursprung in der ästhetischen Grundhaltung von Zuschauern in einer Tragödie oder zumindestens eine gewisse Nähe zu ihr.

Breithaupt schlägt eine dreistufige Architektur der Empathie vor (vgl. Breithaupt 2017, S.79ff.): Die erste Stufe besteht in der anthropologisch fundierten „Übermacht der Einfühlung“. Menschen sind immer schon empathisch und deshalb ständig vom Selbstverlust bedroht. An dieser Stelle müßte man eigentlich von Gefühlsansteckung sprechen, was Breithaupt aber vermeidet. Er hält die Gefühlsansteckung als „nicht willentliche Reaktion“ für „eher problematisch“ (vgl. Breithaupt 2017, S.35) Tatsächlich aber bildet sie die erste Stufe der von ihm vorgeschlagenen Empathie-Architektur.

Von der „Über-Empathisierung“ (Breithaupt 2017, S.83) führt der Weg direkt zur zweiten Stufe:
„Wenn Menschen hyperempathisch sind, müssen wir fragen, mit welchen Mechanismen oder Techniken sie den Selbstverlust verhindern oder limitieren. Einfach gefragt: Wie gelingt es ihnen, ihre Empathie zu kontrollieren, zu fokussieren und zu blockieren?“ (Breithaupt 2017, S.85)
Die zweite Stufe der Empathie besteht in einer Vielfalt von Blockademechanismen, die die Empathie (also in diesem Fall die Gefühlsansteckung) unter Kontrolle halten. (Vgl. Breithaupt 2017, S.85ff.) Zu diesen Blockademechanismen gehören alle möglichen Formen der „Attribution“, mit denen wir Menschen in Schubladen einordnen. (Vgl. Breithaupt 2017, S.87) Am beliebtesten ist die Zuordnung zu einer Fremdgruppe. Wer zu einer Fremdgruppe gehört, löst weniger schnell (oder gar nicht) Empathie aus als jemand, der zur eigenen Gruppe gehört:
„Wir wissen aus zahlreichen Studien, dass Menschen im Durchschnitt weniger Empathie mit Menschen haben, die nicht Teil ihrer Gruppe sind. ... allerdings ist hier nicht klar, ob wir eher von Empathie-Blockade oder umgekehrt von einer Empathie-Bevorzugung sprechen sollten.“ (Breithaupt 2017, S.89)
Eine andere Möglichkeit, Empathie zu reduzieren, besteht darin, Menschen als schuldig zu attribuieren, weswegen auch immer, so daß man sie empathiefrei ‚bestrafen‘ kann. (Vgl. Breithaupt 2017, S.88f.)

Die dritte Stufe der Empathie-Architektur besteht in der Auflösung bzw. in der Umgehung der Blockademechanismen, die die Empathie gewohnheitsmäßig und dauerhaft unter Kontrolle halten, so daß Empathie wieder zugelassen wird. (Vgl. Breithaupt 2017, S.92ff.) Zu solchen Auslösern zählt Breithaupt wieder die schon erwähnte Gefühlsansteckung: „Körperliche Reaktionen gehören hierher, denn Beobachtungen eines anderen werden vielfach leiblich wahrgenommen.“ (Breithaupt 2017, S.93) Außerdem können ‚starke‘ Empathie-Auslöser das „Abwehrsystem“ durchbrechen. (Vgl. Breithaupt S.94) Ein anderer interessanter Empathie-Auslöser, den Breithaupt erwähnt, besteht in der heftigen Abneigung gegen einen anderen Menschen, die unmittelbar in Empathie umschlagen kann. (Vgl. Breithaupt 2017, S.98f.) Als Beispiel nennt Breithaupt die romantische Liebe in Film und Literatur, die oft mit diesem Klischee arbeiten.

Breithaupt erklärt dieses Paradox damit, daß die dreistufige Architektur der Empathie eine „Systemeinheit“ bildet, in der „die Aktivierung eines einzelnen Elements der Architektur bereits das ganze System und die Empathie-Routinen aktiviert“. (Vgl. Breithaupt 2017, S.99) Da reicht es schon aus, daß überhaupt starke Emotionen erregt werden, durch die dann Empathie gewissermaßen ‚miterregt‘ wird. Eine solche Empathie stiftende „Dynamik der Parteinahme“ – gleichgültig ob für oder gegen jemanden – hat Breithaupt auch im Wahlkampf von Donald Trump beobachtet. (Vgl. Breithaupt 2017, S.101ff.) Trump hat Emotionen erregt und ebendeshalb auch Empathie.

Aber auch wenn dieser Mechanismus zutrifft, ist es doch sehr gewagt, Trump zu einem „Meister der Empathie“ zu erklären, wie Breithaupt es tut. (Vgl. Breithaupt 2017, S.211) Mag er auch ein Meister der Emotionalisierung anderer Menschen sein, so ist es doch sehr die Frage, inwieweit er auch nur die eigenen Emotionen im Griff hat. Und Mitgefühl für andere Menschen legt er, falls er es überhaupt hat, schon gar nicht an den Tag. Zu einer Klärung des Empathiebegriffs tragen solche Vergleiche jedenfalls nicht bei.

Indem Breithaupt die „ Blockade-Mechanismen als Teil der Empathie-Architektur“ versteht, verbindet er Empathie und Kognition zu einer untrennbaren begrifflichen Einheit. Schon die Kognition, also die Instanz, die die Empathie kontrolliert und reguliert, ist selbst ein immanenter Bestandteil dieser Empathie. Das ist logisch inkonsistent. Außerdem lassen sich fundamentale Dilemmata des Helfen-Wollens nicht mehr adäquat beschreiben. Frans de Waal beschreibt eine Situation, die er bei Orang-Utans (vgl. „Das Prinzip Empathie“ (2011), S.136, und meinen Post vom 16.05.2011) und bei Schimpansen (vgl. ebenda, S.137, und meinen Post vom 19.05.2011) beobachtet hat. Eine verzweifelte Orang-Utan-Mutter versucht ihre Tochter aus einer Seilschlinge, in der sie sich gefangen hat, zu befreien und erwürgt sie dabei. In der gleichen Situation, in der sich ein junger Schimpanse in einer Seilschlinge verfangen hat, geht ein älterer Schimpanse umsichtig und bedacht vor, befreit schließlich den Jüngeren und rettet ihm so das Leben.

Die Orang-Utan-Mutter war offensichtlich so ‚hyperempathisch‘ von der Not ihrer Tochter in Anspruch genommen, daß sie ihr nicht helfen konnte. War sie nun aber weniger empathisch als der ältere Schimpanse in der anderen Situation, weil sie in diesem verzweifelten Moment nicht über dessen kognitive Kompetenz verfügte? Nach Breithaupts Modell wäre das nämlich der Fall: die Kognition, also die Blockademechanismen, gehört untrennbar zur Empathie dazu. Wer nicht über sie verfügt, hat eine reduzierte Empathie.

Frans de Waal sieht das anders: Empathie und Kognition sind zwei verschiedene Bewußtseinsprozesse, die aber insofern zusammengehören, als wir ohne Empathie nicht helfen würden und ohne Kognition nicht helfen könnten.

Letztlich erhebt Breithaupt die Empathie mit ihrer dreistufigen Architektur als Systemeinheit auf die Ebene eines vollständigen Bewußtseins. Alles ist Empathie, und so wird sie zu dem Hammer, von dem Breithaupt selbstironisch festhält, daß für ihn alles wie ein Nagel aussieht. (Vgl. Breithaupt 2017, S.188)

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