„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Donnerstag, 2. März 2017

Raoul Schrott, Erste Erde Epos, München 2016

1. Gestalt und Struktur
2. Muster

Im vorangegangenen Post bin ich auf die beiden Formprinzipien ‚Gestalt‘ und ‚Struktur‘ zu sprechen gekommen, auf deren Grenze sich Schrott mit seinem Versuch bewegt, die abstrakten Einsichten der Kosmologie in eine auch für das Alltagsdenken nachvollziehbare Kosmogonie zu verwandeln. So sehr sich Gestaltwahrnehmung vom Formeldenken mathematikbasierter Theorien unterscheidet, gibt es aber doch einen mystisch anmutenden Übergangsbereich zwischen Gestalt und Struktur: die Mustererkennung. (Vgl. meinen Post vom 03.08.2011) Als ‚Muster‘ bezeichne ich an dieser Stelle Kurven, Verteilungshäufigkeiten und sichtbare Aspekte von Phänomenen, die auf ihrer Oberfläche mathematisch beschreibbare Strukturen aufweisen. Diese Muster bilden also selbst keine ‚Dinge‘, sondern Bewegungsformen, Mengenverhältnisse und Ornamente.

Im Anhang zählt Raoul Schrott eine ganze Reihe von mathematischen Gleichungen auf, die solche Muster ‚beschreiben‘ bzw. ‚berechnen‘. Beide Begriffe, ‚Beschreibung‘ und ‚Berechnung‘, treffen auf diesen Zusammenhang gleichermaßen zu. Schrott zählt zu diesen Gleichungen u.a. Ellipsengleichungen, Differentialgleichungen, Parabeln, Hperbelfunktionen, Fibonacci-Folgen, Exponentialkurven, den Goldenen Schnitt, das Benfordsche Gesetz, die Pareto-Verteilung, Kleibers Gesetz etc. (Vgl. Schrott 2017, S.711f.) Mein persönlicher Favorit bildet unter diesen Gleichungen die Fibonacci-Folge – 0, 1, 1, 2, 3, 5, 8, 13, 21 ... –, vielleicht weil sie mit der Schlichtheit einer Folge von Ziffern der Linie eines Schneckenhauses folgt, wie sie sich auch in der Anordnung von Pflanzenblättern und in den Blütenkörben von Sonnenblumen wiederfindet: Gestalt und Struktur feiern Hochzeit und bringen Muster zur Welt.

Wie sehr Mathematik und Anschauung ursprünglich einmal zusammengehörten, zeigt sich nicht nur in der euklidischen Geometrie, sondern auch noch am Zahlbegriff selbst. Der Zahlbegriff wurde zu Zeiten der Pythagoräer noch auf die Saitenlängen eines Musikinstruments bezogen. Auf der Basis dieser Anschauung gab es nur ganze Zahlen und keine Dezimalzahlen, also keine Brüche. (Vgl. Schrott 2016, S.712) Auf dieser ‚Weltanschauung‘ basiert auch Sokrates’ Mythos von der Seelenwanderung im „Menon“: die Anschauung der Diagonalen in einem Quadrat verweist Sokrates zufolge auf die Ideenschau der Seele vor ihrer Geburt. (Vgl. meinen Post vom 24.01.2012)

Erst als die Zahlen nicht mehr derart anschaulich auf Längen bezogen wurden, sondern als ausdehnungslose Punkte imaginiert wurden, war der Bruch mit der alltäglichen Anschauung vollzogen: „Gibt es jedoch eine unendliche Anzahl von dimensionslosen Punkten, deren Grösse 0 ist, so ergibt die Addition von unendlich vielen Nullen immer noch null. Der Umgang mit diesem Paradoxon liess im 16. und 17. Jahrhundert die Disziplin der Infinitesimalrechnung aufkommen.“ (Schrott 2016, S.712)

Von dort war der Weg nicht mehr weit zu den negativen Zahlen, die man allerdings immerhin noch als Distanzen auf einem in zwei Richtungen weisenden Zahlenstrahl versinnbildlichen konnte: rechts von der Null die positiven Zahlen, die etwas zählen, was da ist, und links von der Null die ‚negativen‘ Zahlen, die etwas zählen, was nicht da ist. (Vgl. Schrott 2016, S.713) Es sind nicht nur keine Äpfel da, sondern es sind gleich zwei oder drei oder mehr Äpfel nicht da. An dieser Stelle wird die Mathematik übrigens, wie ich finde, fast schon komisch. Zumindestens unterdrücke ich gerade einen Impuls, laut aufzulachen.

Und so geht es immer weiter. Es entstehen immer neue Ideen von Zahlen, die, wie z.B. die imaginären Zahlen, „keinen Realitätsbezug“ mehr haben; zumindest bis zu dem Moment, wo Schrödinger im Falle der imaginären Zahlen auf die Idee kam, sie auf die Wellenfunktion anzuwenden. (Vgl. Schrott 2016, S.713) Und an dieser Stelle beginnt die oben von mir als ‚Hochzeit‘ beschriebene Verbindung zwischen Gestalt und Struktur endgültig zu zerbröseln. Irgendwie gerät dabei auch in Vergessenheit, daß wir selbst es sind, „die aufgrund von Vorstellungen, Vergleichen und Analogieschlüssen ganze Mathematikgebäude konstruieren“. (Vgl. ebenda) Wie sollte man sich auch dessen noch erinnern, wo jede Analogiebildung von vornherein versagt? Es tritt eine Bewußtseinstrübung ein, in der wir nicht mehr wissen, ob unsere Formeln noch eine objektive Wirklichkeit wiedergeben oder nicht. (Vgl. ebenda)

Allenfalls haben wir es mit „Denkgebäude(n)“ zu tun, „die zu einer brauchbaren mathematischen Beschreibung von Phänomenen führen“, von denen wir aber nicht wissen, „von welcher Art sie ‚wirklich‘ sind“. (Vgl. Schrott 2016, S.713) Klingt in meinen Ohren so, als wäre die Wissenschaft ‚postfaktisch‘ geworden.

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