„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Mittwoch, 1. März 2017

Raoul Schrott, Erste Erde Epos, München 2016

1. Gestalt und Struktur
2. Muster

Von Anfang an war für mich die Kosmologie in diesem Blog kein ernstzunehmender Gegenstand und ich schloß sie aus dem Umkreis der Themen, mit denen ich mich in meinem Blog befassen wollte, aus. Die hanebüchenen Spinnereien der Astrophysiker, die fern jeder Anschaulichkeit nur auf verworrenen mathematischen Gleichungen fußen, waren und sind in meinen Augen wissenschaftlich indiskutabel. Wissenschaft hat meiner Ansicht nach ganz wesentlich etwas damit zu tun, die Welt mit unseren Händen und Sinnen zu (be-)greifen und wahrzunehmen. Die Kosmologen haben diesen Anspruch längst aufgegeben. Sie entwickeln Theorien, die jenseits jeder Phänomenologie liegen:
„In Gab es einen Big Bang? sieht David Berlinski 1998 damit Wissenschaft übergehen auf das Gebiet der ‚Priester, Weissager, Dichter, Politiker, Romanciers, Generäle, Mystiker, Künstler, Astrologen‘ ...“ (Schrott 2016, S.693)
Nicht ohne Ironie ist es dabei, daß sich die ‚Astronomie‘ in ihrer Namensgebung ursprünglich von der unwissenschaftlichen ‚Astrologie‘ hatte absetzen wollen. Raoul Schrott weist ausdrücklich auf die Verwandtschaft der heutigen, sich als wissenschaftlich verstehenden Kosmogonien mit dem Stein der Weisen der Alchemie hin:
„Die auf der späteren Quantenmechanik basierende Vorstellung, dass die chemischen Elemente Schritt um Schritt von leichteren synthetisiert werden, entspricht der Grundidee der Alchemie und ihrer Suche nach Transmutationen durch den lapis philosophorum, dem Stein der Weisen.“ (Schrott 2016, S.700)
Jetzt hat Raoul Schrott ein Buch vorgelegt, „Erste Erde Epos“ (2016), in dem er sich genau mit jener Kosmologie auseinandersetzt, mit der ich nichts mehr zu tun haben wollte. Allerdings geht es bei ihm nicht um abstrakte „mathematische gleichungen“ (Schrott 2016, S.108), in denen bei der „Suche nach kausalen Abhängigkeiten und Gesetzmässigkeiten“ der moralische und symbolische „Bezug“ des Menschen „zu den Dingen verloren“ gegangen ist (vgl. Schrott 2016, S.20). Stattdessen versucht Schrott das „dichte Denken“, also das Formeldenken der Wissenschaften, in „dichterische(s) Denken“ zu transformieren (vgl. Schrott 2016, S.24), ihm also mittels Bildern, Metaphern, An- und Gleichklängen von Wörtern, rhythmischen Gliederungen von Versen und Satzfragmenten einen auch für das „alltägliche() Denken“ nachvollziehbaren Ausdruck zu verleihen (vgl. Schrott 2016, S.24 und 25):
„Deshalb ist dieses Buch in beiden, einander ergänzenden Teilen anthropozentrisch: es will das Eigentliche im Uneigentlichen erkennen, die Umrisse des Menschen, wie sie von kosmologischen, geologischen, biochemischen und evolutionären Abläufen figuriert werden – als Schnittpunkte komplexer Verbindungen, die nicht allzu einfach dargestellt werden sollten, um nicht die ihnen eigene objektive Sachlichkeit zu verlieren.“ (Schrott 2016, S.26)
Damit führt Schrott sein Projekt von „Gedicht und Gehirn“ (2011) weiter, das ich in diesem Blog auch schon einmal besprochen habe (vgl. meine Posts vom 07.07. bis 26.07.2011) und in dem ich damals wie heute die „Ästhesiologie“ von Helmuth Plessner wiederzuerkennen glaube, nämlich als eine die biologische, kulturelle und individuelle Dimension umfassende Beschreibung des Menschen. Es geht Schrott um die Einbeziehung des aktuellen kosmologischen Wissensstandes in einen menschheitsgeschichtlichen Horizont. Damit fügt er den drei bis vier Entwicklungslinien, die ich bislang thematisiert habe, der Geologie, Biologie, Kultur und Individualität (vgl. meine Posts vom 31.01.2013 und vom 14.01.2015), die kosmische Entwicklungslinie als eine fünfte Dimension hinzu. Und diese Entwicklungslinien konvergieren nicht etwa im Menschen, sondern sie – wie es die Berliner Schriftstellerin ‚Martina Guilliani‘ (vgl. Schrott 2016, S.155-175) formuliert – brechen sich in ihm. (Vgl. Schrott 2016, S.160) Hier deutet sich der Anachronismus an, der das Verhältnis der Entwicklungslinien zueinander kennzeichnet.

Allerdings geht Schrott bei seinem Bemühen, den unsichtbaren Strukturen der Natur Bedeutung und Anschaulichkeit zu verleihen, gelegentlich ein wenig zu weit. So verwischt er den „unterschied zwischen wort und ding“ (Schrott 2016, S.271), indem er die „architekturen der natur und des seins“ als Codes deutet, die sich „letztlich gleichen“ (vgl. Schrott 2016, S.273). Damit nivelliert er die bedeutungsstiftende Differenz zwischen Meinen und Sagen, die sich nur aus der Präsenz eines individuellen Bewußtseins ergibt.

Außerdem reduziert Schrott die kulturelle Evolution der menschlichen Kooperation in erstaunlich naiver Weise auf den Gebrauch von Waffen. Aus dem Fund eines „1,8 Millionen Jahre alten Vorrats von faustgrossen Steinen“, die Schrott als „Wurfsteine“ identifiziert, deduziert er, daß der Ursprung der menschlichen Kooperation im Gebrauch von Waffen liege:
„... ein David konnte damit den Goliath der Gruppe töten, was egalitäre Existenzformen im gleichen Mass beförderte, wie die Drohung von Waffeneinsatz Gruppenkooperation erzwingen konnte.“ (Schrott 2016, S.832)
Und an anderer Stelle spricht Schrott mit der amerikanischen Kunsthistorikerin ‚Francis Wolfs‘ von einer „gemeinschaft einander erzwungenermassen gleichrangiger“. (Schrott 2016, S.603) – Die us-amerikanische Waffenlobby wird es freuen, daß ihr Pochen auf das Recht, Waffen zu besitzen, evolutionsbiologisch gerechtfertigt ist. Und Michael Tomasello hätte sich seine jahrzehntelange Forschung an Primaten und Kleinkindern, derzufolge die menschliche Kooperationsfähigkeit auf geteilter Intentionalität und Hilfsbereitschaft beruht, ersparen können.

Die verschiedenen Kapitel des Epos präsentieren die jeweiligen Perspektiven verschiedener menschlicher Akteure, teilweise fiktive, teilweise reale Persönlichkeiten, die Schrott bei seinen Reisen zur Vorbereitung des Buches persönlich kennengelernt hat, und nicht zuletzt auch Schrott selbst. So beklagt sich ‚Michael Höss‘, einer von drei Astrophysikern (vgl. Schrott 2016, S.103-127), die gemeinsam eine Sylvesternacht in der Sternwarte auf dem Cerro Armazones verbringen, über die Spekulativität kosmologischer Weltbilder, deren „grundlage von radaraufnahmen mathematischen gleichungen und probalitäten“ gebildet wird. (Vgl. Schrott 2016, S.108) Michael Höss gesteht, daß er – ganz entgegen der professionell bedingten Theorielastigkeit seiner Kollegen – „etwas auch in händen halten“ können muß, um sich seines Gegenstands gewiß sein zu können. (Vgl. Schrott 2016, S.108)

Michael Höss bezeichnet den Menschen als ein „wesen der oberfläche“, der sich „in einer fast oberflächenlosen welt“ befindet, „dem festen verhaftet während ringsumher sich alles im fluss findet“ (vgl. Schrott 2016, S.109), und bringt damit die phänomenologische Aporie eines mit beschränkten Sinnen und beschränktem Verstand ausgestatteten Körperwesens auf den Punkt. Diese paradoxe Befindlichkeit des Astrophysikers, daß seine Erkenntnisse und Einsichten „nur mittelbar noch nachvollziehbar“ sind (vgl. Schrott 2016, S.19), also über Metaphern, Bilder und eben auch über Formeln, die ja nur Krücken eines um sich selbst kreiselnden „denkens“ bilden (vgl. Schrott 2016, S.114), teilt Michael Höss mit Schrott selbst. Immer wieder geht es in Schrotts Epos darum, daß der Mensch etwas in Händen halten möchte, das er greifen und begreifen kann, weshalb Michael Höss auch Meteoritenkundler geworden ist, weil er es hier mit einem Bereich der Astrophysik zu tun hat, in dem er sein Denken an konkreten Fundstücken verankern kann, um so dem „selbstbezogenen kreiseln unsres denkens“ zu entgehen.

Das Gegenstück zu dem nach konkreter Berührung sich verzehrendem Astrophysiker bildet ironischerweise ein Photograph, der von Haus aus eigentlich ein geborener Phänomenologe sein müßte, dem Oberflächen über alles gehen: Detlef Orloff. (Vgl. Schrott 2016, S.129-140) Tatsächlich gibt sich Orloff aber alle Mühe, die Naturphänomene, die sich seinem unbewaffneten Auge darbieten, mittels spezieller Kameratechniken unkenntlich zu machen und stattdessen verborgene Strukturen, die auf ihre ferne Herkunft aus einer verborgenen geologischen Tiefe oder kosmologischen Fremde verweisen (vgl. Schrott S.131, 133, 137, 139), sichtbar werden zu lassen:
„ich habe für meine fotos das quadrat gewählt um die proportio | divina der üblichen formate zu vermeiden ⋅ und bin auch noch | von seiner gleichseitigkeit leicht abgewichen damit sich nichts | dem blickpunkt einer gleichsam göttlichen überschau anbiedert | und ich habe schliesslich sogar auf alle horizontlinien verzichtet | die vorder- und hintergründe angeglichen und die tiefe ebenso | in sich zerfallen lassen wie das davor und das danach des lichts | damit in einer verschlusszeit strukturen von welt zu tage treten“ (Schrott 2016, S.133)
Der Photograph behauptet entgegen der phänomenologischen Grundwahrheit, daß die Natur sich offen zeige, daß die Natur „diskret“ sei, also ihre Verborgenheit! (Vgl. Schrott 2016, S.137) Detlef Orloff ist zutiefst vom verborgenen Strukturalismus der sichtbaren Welt überzeugt. Dieser Strukturalismus bietet sich niemals dem ersten oder zweiten Blick dar, sondern er bedarf einer langen Übung in phänomenologischer Abstinenz. Orloff ist mehr Astrophysiker als die Astrophysiker selbst, denen Schrott eine zutiefst persönliche Beziehung zum Kosmos bescheinigt und die vergebens versuchen, ihre Erkenntnisse mittels „computersimulation oder ultraviolettaufnahme“ zu popularisieren, was Schrott aber mehr an „malen nach zahlen“ erinnert als an ernsthafte Wissenschaft. (Vgl. Schrott 2016, S.145)

Michael Höss und Detlef Orloff bilden zwei Antipoden, die für zwei miteinander unvereinbare Dimensionen des Formbegriffs stehen: für ‚Gestalt‘ und für ‚Struktur‘. Die Gestalt ist das, was der Phänomenologe auf den ersten Blick erfaßt und was er dann in vielen Sätzen und Wörtern in die lineare Struktur von Zeilen beschreibend zu übertragen versucht. Die Struktur ist das, was der Strukturalist hinter der sichtbaren Oberfläche verborgen sieht und was er durch mühsames Graben und aufwendiges Deduzieren in Formeln zur Darstellung bringt. Auf der Grenze zwischen Anschauung und Formelwissen bewegt sich Schrott mit seiner Hermeneutik:
„das gedicht ist eine zelle - eine sich abgrenzende form | sich selbständig erhaltend und amöbenhaft auf reize | von aussen reagierend ⋅ nahrung aufnehmend | für den metabolismus seiner zeilen die autopoiesis eines lebens | das struktur ist und information | metrum und reim: in denen das sein einen sinn ergibt“ (Schrott 2016, S.206)
Zugleich beruht der Großteil des Sprachdenkens auf vorsprachlichen Fähigkeiten der Bild- bzw. Gestaltwahrnehmung: „Wenn wir von Dingen reden, die wir mögen, wird der emotionale Gehalt nur zu 7% durch die Wortwahl selbst bestimmt; 38% vermitteln sich durch den Ton der Aussage, 55% über nicht-verbale Hinweise – also durch Körpersprache, die wir evolutionär am besten und schnellsten verstehen.“ (Schrott 2016, S.835)

Folgt man dieser Statistik und setzt man den emotionalen Gehalt mit ‚Information‘ gleich – wer außer informationsverarbeitenden Maschinen kann beides schon sauber voneinander trennen? –, so ist die menschliche Sprache nur zu 7 Prozent an Grammatik und Syntax gebunden und in diesem Sinne informativ. Zu 93 Prozent ist sie expressiv.

So sehr Schrott mit seinem Buch das Kosmologische ins Epische und Poetische transformiert, um seine Bedeutung für den Menschen zu erkunden, hält er doch nichts davon, es dem Leser dabei allzu leicht zu machen. Der Großteil des knapp 850 Seiten umfassenden, aufwendig in zwei Farben gedruckten Textes ist trotz des festen Einbandes und zweier Lesebändern kein reines Lesevergnügen. Schrott verzichtet konsequent auf jede Großschreibung und auch weitgehend auf jede Zeichensetzung. Nur in der Kapitelübersicht, im Vorwort und im umfänglichen Anhang finden wir wieder Groß- und Kleinschreibung samt dazugehöriger Zeichensetzung. Gleichsam als Ersatz, aber ohne erkennbarem syntaktischen Sinn sind zwischen den Wort- und Satzkonglomeraten feine kleine Pünktchen und Strichlein verstreut, als handelte es sich um kosmischen Staub. Es ist, als wollte Schrott auf diese Weise das Bewußtsein des Lesers in eine Analogie zu den Grundkräften des Universums bringen: zu Anziehung und Abstoßung, aus denen nach dem Urknall Sterne und Galaxien entstanden.

Der Leser sieht sich so mit einer Flut von Zeichen konfrontiert, nur grob geordnet nach Silben, Absätzen und Zeilenenden. Diese Partikel müssen mit Hilfe der geistigen Schwerkraft des Lesers allererst zu Satzteilen und Sätzen zusammengefügt werden. Lesend vollzieht er also nach, was im kosmischen Maßstab geschieht. Er wird so selbst zum Autor, dem der eigentliche Autor, Raoul Schrott, nur das Rohmaterial liefert. Vielleicht erkennt er sich auf diese Weise selbst als einen Kosmos im Kosmos, als etwas, das Sinn in der Leere schafft.

Aber es lohnt sich; zum Beispiel die Gewißheit, die uns allein die Kosmologie zu vermitteln mag: „die welt begann ohne den menschen - sie wird auch ohne ihn enden“. (Schrott 2016, S.127)

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