„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Samstag, 19. November 2016

Bettina Stangneth, Böses Denken, Reinbek bei Hamburg 2/2016

(rowohlt, Hardcover, 254 Seiten, 19,95 €)

1. Zusammenfassung
2. Unterscheidung von gut und böse
3. Formen des bösen Denkens
4. Grenzen des Denkens
5. Empathie als Kognition
6. Handlungssubjekte
7. Schlichtes Handeln

Bettina Stangneth überfordert die menschliche Kognition und damit das Denken mit Aufgaben, für die die mit unseren körperlichen Funktionen, insbesondere unserer Physiologie verbundene Empathie zuständig ist. Auf diese physiologischen Voraussetzungen kommt Stangneth nur ein einziges Mal zu sprechen. Sie verweist auf die Spiegelneuronen als einer Voraussetzung dafür, die Empfindungen anderer Menschen nachempfinden zu können. Allerdings schränkt sie die Bedeutung dieser Spiegelneuronen gleich wieder ein, indem sie auf die Ungesichertheit des diesbezüglichen neurophysiologischen Wissens verweist und festhält, daß auch die Spiegelneuronen nichts daran ändern, „dass menschliche Gefühle in einem Ausmaß individuell, also durch die eigene Geschichte so nachhaltig überschrieben sind, dass jeder Versuch, sich das Fühlen eines anderen vorzustellen, zu einem wesentlichen Teil Projektion bleibt“. (Vgl. Stangneth 2/2016, S.220)

Nun bin ich selbst nicht gerade ein Freund der neurophysiologischen Attitüde, als alles erklärende anthropologische Instanz aufzutreten. Aber es ist immerhin bezeichnend, daß Stangneth keine anderen Empathie ermöglichenden körperleiblichen Merkmale einfallen als die Spiegelneuronen. Kein Hinweis auf muskuläre Bedingtheiten der menschlichen Körperhaltung und auf die Mimesis, die sie ermöglichen. Kein Wort zum Körperleib als gleichermaßen weltzugewandtem wie weltoffenem Prinzip, das uns zum Mitvollzug der Gefühle unserer Mitmenschen befähigt, und zwar auf einer Ebene, die unserem Denken nur begrenzt zugänglich ist. Stattdessen hält Stangneth apodiktisch fest:
„Wir können schlicht die Gefühle anderer nicht wahrnehmen, sondern immer nur sichtbare Anzeichen oder Beschreibungen von Gefühlen auf dem Hintergrund unserer eigenen Erfahrung und unseres Wissens über die Situation und die konkrete Person deuten.“ (Stangneth 2/2016, S.220)
Dieser Satz ist gleich in zweifacher Hinsicht von einer bestürzenden Gedankenlosigkeit. Zum einen nimmt Stangneth die unbestreitbare Tatsache, daß wir die Erlebnisse der Mitmenschen stets von unserem eigenen Hintergrund her erleben und bewerten, als Beleg dafür, daß wir deren tatsächlichen Gefühle nicht kennen können. Das ist ungefähr so unsinnig wie die Behauptung, daß wir die wirkliche Wirklichkeit nicht kennen, weil wir sie nur mit unseren Sinnesorganen wahrnehmen können. Als wenn nicht genau das die Definition der Wirklichkeit wäre, daß wir sie nämlich mit unseren eigenen Sinnen wahrnehmen!

Zum zweiten reduziert Stangneth das Miterleben der Empfindungen unserer Mitmenschen auf einen wissensbasierten Deutungsvorgang. Sie faßt also Empathie als Kognition. Dafür steht, daß es nach Stangneths Auffassung einer bewußten Projektion von sich auf den Anderen bedarf, um sich so dessen Empfinden zu vergegenwärtigen. (Vgl. Stangneth 2/2016, S.220) Stangneth beschreibt diesen Projektionsvorgang als eine Art vergleichender Beobachtung und Einschätzung der sensiblen Stellen des Menschen uns gegenüber, was, wie ich finde, besonders krass in ihrer Version von besonders gutem und gleichzeitig grenzwertigem Sex zum Ausdruck kommt:
„... wir wissen sehr genau, dass derjenige, der uns gut beobachtet und sich möglichst genau vorzustellen versucht, was er anrichtet, damit nicht nur derjenige ist, der Lust steigern kann, sondern auch derjenige sein könnte, der uns Schmerz zu bereiten in der Lage wäre, wie es sonst niemand vermag.“ (Stangneth 2016, S.221)
Bei dieser Darstellung von Sex gruselt es einem nicht von ungefähr. Denn der kühle Beobachter, der die Kenntnis unserer Schwachstellen für die Anstachelung zu höchsten Lustempfindungen zu nutzen vermag, ist zugleich der berechnend vorgehende Folterknecht, der sich, wie Stangneth meint, ‚empathisch‘ in seine Opfer hineinversetzt, um sie so noch besser quälen zu können:
„Folter ist, abgesehen davon, dass sie durch nichts zu rechtfertigen ist, niemals bloß eine erlernte Technik. Sie ist immer auch geradezu hingebungsvolle Beobachtung und praktische Vorstellungskraft.“ (Stangneth 2016, S.222)
An keiner Stelle ihrer Beschreibung der verschiedenen Schattenseiten empathischer Fähigkeiten kommt Stangneth auf die Idee, daß Empathie keineswegs schon selbst und allererst eine Kognition ist, sondern lediglich die körperleibliche Voraussetzung für ihren kognitiven Mißbrauch bildet. Letztlich fällt ihr zur Empathie nicht mehr ein, als sie zur „notwendige(n) Bedingung des Sadismus“ zu deklarieren. (Vgl. Stangneth 2/2016, S.214) Aber es ist plausibler, daß der Folterer selbst nicht wirklich mitempfindet, wenn seine Opfer unter den trickreichen Ergebnissen seiner kognitionslastigen Beobachtungs- und Erfindungsgabe leiden. Er müßte ja die Schmerzen gleichsam am eigenen Leib spüren. Man müßte diesbezüglich mal experimentell überprüfen, wie er sich verhält, wenn er selbst gefoltert würde. Nein, wo seine Opfer leiden, empfindet er nicht wirklich Empathie, sondern Befriedigung über den Erfolg seiner diesbezüglichen Kognitionen.

Wo Michael Tomasello an der geteilten Intentionalität und am Vertrauen in die Hilfsbereitschaft unserer Mitmenschen den Ursprung der menschlichen Kognition festmacht und wo Frans de Waal von der Empathie als einem gemeinsamen vorrationalen Erbe unserer animalischen Herkunft spricht, befindet sich bei Stangneth nur ein blinder Fleck in Form der Gefühle der Anderen. Wenn dennoch Vertrauen möglich wird, dann nicht etwa als natürliche Gabe, sondern als „gewaltige Leistung“ (vgl. Stangneth 2/2016, S.233); nämlich als Leistung einer kognitiven Anstrengung, die keineswegs selbstverständlich ist.

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4 Kommentare:

  1. Realisiert Bettina Stagneth eigentlich nicht, dass das Thema "Empathie" die Schlüsselstelle in ihrem Vorhaben ist, gar die alles entscheidende Stelle?

    Letztendlich erkennt sie nur noch die "überschriebene Empathie", vergisst aber in diesem Zusammenhang, dass jeder Neugeborene wieder bei Null anfängt. Die Empathie selber ist von vornherein als menschliche Eigenschaft gegeben, aber wie kommt es dann bis zur Unerkenntlichkeit "überschriebenen Empathie", welche nunmehr das "böse Denken" begründet?

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    1. Ich glaube nicht, daß Bettina Stangneth meint, daß überschriebene Empathie das böse Denken ‚begründet‘. Denn da die Empathie ihrer Ansicht nach prinzipiell kulturell überschrieben ist und keinen körperleiblichen ‚Nullpunkt‘ hat, gäbe es dann nur noch böses Denken. Es gäbe keine Alternative zum bösen Denken. Ansonsten stimme ích Dir aber zu: die Empathie ist eine entscheidende Instanz für das Denken.

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  2. Es ist aber nicht die "kulturelle Überschreibung" an sich und als solche, die das "böse Denken" begünstigt oder hervorruft. Stattdessen sind wir ganz konkret aufgefordert, unsere eigene Kultur nach den "bösen Gedankenspielen" hin abzusuchen, denn mit dieser Kultur überschreiben wir unsere Kinder.

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