„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Samstag, 22. Oktober 2016

Margarete Stokowski, Untenrum frei, Reinbek/Hamburg 2016

(rowohlt, Hardcover, 254 Seiten, 19,95 €)

1. Verstand
2. Sprache

Im letzten Post hatte ich zwei Strategien erwähnt, mit denen Margarete Stokowski die Frauen aus ihrer Opferrolle und von der Gleichsetzung von Sex und Frau befreien will: den Gebrauch des eigenen Verstandes und die Sprache. In diesem Post möchte ich jetzt auf die Sprache eingehen. Die Sprache ist zunächst einmal ein wichtiger Faktor im Sexleben des Menschen. Dann aber bildet auch der Sex selbst einen Ausdruck unserer Menschlichkeit, also eine Art Sprache. Das zeigt sich besonders krass an einem YouTube-Video, auf das Stokowski zu sprechen kommt, in dem Jugendliche dermaßen herabsetzend und verächtlich über ihr Sexleben sprechen, daß es einem beim Lesen dieser Textpassagen wehtut. Da werden Gleichaltrige, gleichviel ob Mädels oder Jungs, die man aus irgendeinem Grund ablehnt, als „behindert“ bezeichnet. Mädchen sind ‚Tussen‘, die ‚man‘ zu Hause ‚hat‘ wie einen Hund oder ein Kaninchen; und wenn ‚man‘ Sex mit ihnen hat, dann werden sie ‚gepflügt‘. (Vgl. Stokowski 2016, S.69)

Zugleich weist die Autorin darauf hin, daß diese Jugendlichen keineswegs ‚cooler‘ sind als frühere Generationen von Jugendlichen. Sie sind genauso verletzlich und suchen genauso nach Orientierung:
„Was das richtige Verhalten Gleichaltrigen gegenüber betrifft, sind Jugendliche heute nicht so viel sicherer als früher, sie stellen dieselben Fragen wie eh und je: Woher weiß ich, ob er /sie mich mag? Wie zeige ich ihm/ihr, dass ich ihn/sie mag und was machen wir dann zusammen? Habe ich eine Chance? Und, verdammt, wer bin ich?“ (Stokowski 2016, S.70)
In dem menschenverachtenden, sich selbst herabsetzenden Verhalten dieser YouTube-Jugendlichen spiegelt sich einerseits die Marktförmigkeit der gesellschaftlich prostituierten Sexualität. Zugleich wird aber deutlich, wie sehr die pubertierenden Jugendlichen im Sex nach Selbstbestätigung suchen, nach Selbstausdruck. Jungs haben dabei den Vorteil, daß sie ihre Bedürfnisse offen artikulieren dürfen, während Mädchen mit ihrem Körper so sehr mit Sex gleichgesetzt werden, daß sie nur als Projektionsfläche der männlichen Selbstbestätigung dienen, ohne eigene Bedürfnisse artikulieren zu können:
„Wer angeschaut wird, darf nicht automatisch sprechen.“ (Stokowski 2016, S.105)
Gerade im Darüber-Sprechen, im Artikulieren eigener Bedürfnisse liegt aber die Möglichkeit, zwischen Subjekt und Objekt zu wechseln, denn die Sprache, mit der ich spreche, bin nicht ich. Indem ich mich in fremden Worten ausdrücke, werde ich frei gegenüber der Grenze zwischen Innen und Außen. Ich kann mich exzentrisch zu mir und zur Welt mir gegenüber positionieren. Stokowski beschreibt mit Plessnerscher Genauigkeit die expressive Natur der Sprache:
„Sobald wir anfangen, das Wort zu ergreifen und unsere eigene Geschichte öffentlich zu erzählen, geschieht etwas. Wir geben etwas nach außen, das in uns war. Damit werden wir etwas los, und gleichzeitig werden andere etwas mit unseren Erzählungen anfangen: Sie werden sie hören, fortsetzen, kommentieren oder ignorieren. Alles ist möglich. Es ist ein paradoxer Akt. Einerseits ist es sehr intim, von sich zu sprechen: Meine Erlebnisse, meine Gefühle, alles ist meins, meins, meins. Aber die Sprache, mit der ich das alles formuliere, ist nicht meine, ich habe die Wörter nicht erfunden, ich leihe sie mir nur aus und gebe sie an die Welt zurück. Weil es diese unüberbrückbare Differenz gibt, muss ich Worte finden, die sich richtig anfühlen. Aber gerade weil Sprache das ist, was wir teilen, kann sie der Zugang sein, durch den wir erkennen: Andere haben ähnliche Erfahrungen.“ (Stokowski 2016, S.195f.)
Die „unüberbrückbare Differenz“, von der die Autorin spricht, entspricht der Differenz des Begehrens, der Seele, wie sie Helmuth Plessner beschreibt, als ein Verhalten auf der Grenze zwischen Sich-Zeigen und Sich-Verbergen. Wir versuchen unser Begehren auszudrücken, aber die Worte bleiben ‚fremd‘. Sie sind Versuche, Anfragen an die Welt, ob da etwas ist, das wir miteinander teilen können. Indem wir uns sprechend jemandem zuwenden, beginnen wir die gemeinsame Welt zu gestalten. (Vgl. Stokowski 2016, S.196) Indem wir zu sprechen beginnen, so Stokowski, „ent-opfern“ wir uns. (Vgl. Stokowski 2016, S.197)

Letztlich entscheidet es sich an unserer Sprache, ob Sex etwas ist, das „eklig“ und „pervers“ ist oder eine Erfüllung, befreite Individualität oder Unterwerfung und Sklaverei. Insofern machen Unterstriche und großgeschriebene Is Sinn:
„Sie sagen, Wörter wie ‚Studierende‘, ‚BürgerInnen‘ oder ‚Arbeiter-innen‘ seien nicht schön. Solche Argumente sind, gelinde gesagt, verdächtig, wenn sie nicht gerade von Dichtern kommen. Leuten, die sich nie im Leben um die Schönheit von Sprache geschert haben, bemühen ein plötzlich erwachendes ästhetisches Empfinden bezüglich der Armut von Wörtern?“ (Stokowski 2016, S.205f.)
Da kann ich nichts gegen einwenden. Die Hauptsache ist aber, daß wir zu einer Sprache finden, in der das Reden über Sex nicht mehr wehtut. Ich habe den Eindruck, daß Margarete Stokowski mit ihrem Buch ein wenig dazu beizutragen vermag.

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Freitag, 21. Oktober 2016

Margarete Stokowski, Untenrum frei, Reinbek/Hamburg 2016

(rowohlt, Hardcover, 254 Seiten, 19,95 €)

1. Verstand
2. Sprache

Margarete Stokowski geht es in ihrem Buch „Untenrum frei“ (2016) darum, zu zeigen, „wie die Freiheit im Kleinen mit der Freiheit im Großen zusammenhängt“. (Vgl. Stokowski 2016, S.7) Die Autorin meint mit klein und groß sicher zunächst die individuelle und die gesellschaftliche Ebene. Man könnte das aber auch auf ‚untenrum‘ und ‚obenrum‘ beziehen, und wie sich ‚klein‘ und ‚groß‘ da verteilen, können Leserin und Leser selbst entscheiden, je nach dem, welchen Stellenwert sie dem Sex und dem Verstand in ihrem Leben einräumen. – Hauptsache frei!

Eine weitere These ihres Buches ist, daß das, was wir im Alltag Sex nennen, gar kein Sex ist: „Es ist ein diffuses Versprechen einer Möglichkeit, die mit tatsächlichem Sex nur sehr wenig gemeinsam hat.“ (Stokowski 2016, S.9)

Tatsächlich werden in der Öffentlichkeit mit Sex – und das heißt vor allem mit Frauen, da Sex und Frausein gleichgesetzt werden (vgl. Stokowski 2016, S.72) – Produkte beworben. Sex bildet also vor allem eine Verkaufsstrategie, und genauso leben wir auch den sogenannten ‚Sex‘ im Alltag, wo, wie Stokowski an einer Stelle schreibt, Männer Frauen, mit denen sie eine feste Beziehung eingehen wollen, ‚vom Markt nehmen‘.

Obwohl also über weite Passagen des Buches vor allem von meist mißlingendem Sex die Rede ist, handelt es sich dabei eigentlich gar nicht um Sex. Das zeigt die Autorin nirgendwo so deutlich wie an den Stellen, wo Jugendliche über das jeweils andere ‚Geschlecht‘ reden. Da wird in einer Sprache gesprochen, die, wie in Stokowskis Beschreibung eines YouTube-Videos, auf mich so abstoßend und unmenschlich wirkt, daß es mich gruselt:
„Sie (die Jugendlichen – DZ) benutzen das Wort ‚behindert‘ im Sinne von ‚scheiße‘ und stellen fest: ‚Wenn ’ne Frau nicht kochen kann, ist es keine Frau.‘ Sie finden es geil, wenn sie ‚so ’ne Tusse‘ zu Hause haben und sie am nächsten Tag ein T-Shirt von einem ausleiht, ‚das ist ein Indiz dafür, dass man die Frau gepflügt hat‘.“ (Stokowski 2016, S.69)
Es macht keinen Unterschied, ob hier Jungs über Mädels oder Mädels über Jungs sprechen. Denn es gibt genug Mädels, die sich durch eine solche ‚Anerkennung‘ geehrt fühlen.

Zugleich aber hat sich an der pubertären Befindlichkeit dieser Jugendlichen gegenüber vorangegangenen Generationen nicht das Geringste geändert. Tatsächlich sind sie unterhalb ihres übercoolen Gefasels genauso orientierungslos und verletzlich wie vorangegangene Generationen:
„Was das richtige Verhalten Gleichaltrigen gegenüber betrifft, sind Jugendliche heute nicht so viel sicherer als früher, sie stellen dieselben Fragen wie eh und je: Woher weiß ich, ob er /sie mich mag? Wie zeige ich ihm/ihr, dass ich ihn/sie mag und was machen wir dann zusammen? Habe ich eine Chance? Und, verdammt, wer bin ich?“ (Stokowski 2016, S.70)
Was ist also „eklig“ bzw. „pervers“ an Sex? (Vgl. Stokowski 2016, S.122) Und inwiefern hat Sex etwas mit Freiheit zu tun? Stokowski zufolge hat der Unterschied zwischen gutem Sex und schlechtem Sex bzw. zwischen Sex im eigentlichen Sinne und einer „Illusion von Sex“ (Stokowski 2016, S.70) etwas mit Subjekt und Objekt zu tun; also damit, „allen Menschen zuzugestehen, dass sie Subjekte und Objekte sein können, wenn sie wollen“. (Vgl. Stodowski 2016, S.8)

Vor allem Frauen sind hauptsächlich Opfer, wenn es um Sex geht. Sie haben nicht die Freiheit, zwischen beiden Rollen, zwischen Subjekt und Objekt, zu wechseln. Aus diesem Grund bezeichnet sich Stokowski als Feministin. Mit diesem ‚Label‘ will sie die Geschichte des Feminismus, die Mühe und die Arbeit vieler Generationen von Frauen ehren und zugleich fortsetzen. (Vgl. Stodowski 2016, S.14) Mit diesem Label will sie aber nicht eine Gruppe von Menschen von anderen Gruppen absondern. Vielmehr soll der Feminismus, den sie meint, das gemeinsame Anliegen aller Menschen vertreten:
„Eine politische Einstellung, die andere Menschen bevormundet, ausgrenzt oder beleidigt, hat mit dem, was ich unter Feminismus verstehe, nichts zu tun – dasselbe gilt für die Frage, ob Frauen sich so kleiden dürfen, dass sie Männern gefallen. Natürlich dürfen sie das, denn so ziemlich alle Sätze, die mit ‚Im Feminismus dürfen Frauen nicht ...‘ anfangen, sind falsch. Für mich bedeutet Feminismus, dass alle Menschen unabhängig von ihrem Geschlecht, ihrer Sexualität und ihrem Körper dieselben Rechte und Freiheiten haben sollen.“ (Stokowski 2016, S.12f.)
Es geht also darum, die Frauen aus der Opferrolle und ineins damit von der Gleichsetzung von Sex und Frau zu befreien. Es sind vor allem zwei Strategien, die die Autorin für besonders geeignet hält: den Gebrauch des eigenen Verstandes (vgl. Stokowski 2016, S.146 und S.171) und die Sprache (vgl. Stokowski 2016, S.195ff.). Schon als kleines Mädchen hat sich Stokowski ganz selbstverständlich nach der Kantischen Maxime gerichtet. Als die Großmutter einmal von ihr verlangte, vor dem Rausgehen warme Strumpfhosen anzuziehen, weigerte sie sich mit der Begründung: „Każdy sobą rządzi“, jeder regiert sich selbst. (Vgl. Stokowski 2016, S.15) Genau hier zeigt sich aber auch schon die Komplexität des Problems: zwar galt Stokowski als kleines Mädchen und später als Schülerin als frech und undiszipliniert (vgl. Stokowski 2016, S.38). Aber das betraf nur ihre Neugier, den Drang nach Wissen. Sobald es um ihre Frauenrolle ging, arbeitete sie schon vom Kindergarten an eifrig daran, ein richtiges, perfektes Mädchen zu sein. Sie war also frech und brav zugleich.

Für solche Paradoxien hat Stokowski ein Wort, das sich durch ihr ganzes Buch hindurchzieht und wie ein Brennglas die Problematik des eigenen Verstandesgebrauchs fokussiert: „Es ist kompliziert.“ (Stokowski 2016, S.12; vgl. auch S.14, 43, 140, 159) Immer wenn die Autorin konstatiert, daß etwas kompliziert bzw. komplex sei, markiert sie die Grenze, an der der Gebrauch des eigenen Verstandes zu scheitern droht. Daß unser Verstand begrenzt ist, ist nicht das Problem. Das Problem ist, wer die Grenzen unseres Verstandesgebrauchs zieht! Es sind immer wieder irgendwelche selbsternannten Autoritäten, die anderen Menschen vorschreiben wollen, was denkbar ist und was nicht. Dabei berufen sich diese Autoritäten heutzutage nicht mehr auf metaphysische Wesenheiten, sondern konstatieren einfach nur schlicht, daß ein bestimmtes Thema zu kompliziert bzw. zu komplex sei, um von einem Amateur oder Laien, der sich nicht in jahrelanger Arbeit eingearbeitet hat, verstanden zu werden. Wo es kompliziert wird, hört das Fragen auf, wie Stokowski die dänische Popsängerin und Songwriterin Tina Dico zitiert:

„Somewhere along the line you gave up asking
When it got a little too complex ...“ (Vgl. Stokowski 2016, S.158)

Es sind immer auch die Männer, die den ihre Rechte einklagenden Frauen entgegenhalten, daß sie ja gerne ihren Forderungen nachkommen wollten, aber es sei eben alles so kompliziert. Und auch der Feminismus ist deshalb kompliziert, weil es um Gerechtigkeit und Diskriminierung geht, um ein Thema also, das den Frauen nicht nur von den Männern angetan wird, sondern das sie sich selbst und einander antun (vgl. Stokowski 2016, S.184); und zwar immer dann, wenn sie darauf verzichten, ihren eigenen Verstand zu gebrauchen.

Wo es kompliziert wird, neigen wir dazu, uns zu entschuldigen und den eigenen Verstand abzuschalten. Alexander der Große hat gezeigt, was man stattdessen machen sollte: man nimmt sein Schwert und haut den gordischen Knoten mit einem Hieb durch!

Es geht also immer darum, am eigenen Verstandesgebrauch festzuhalten und notfalls die Dinge auch mal zu vereinfachen; wenn wir uns nur dessen bewußt sind, was wir da tun:
„Wir müssen Probleme ausblenden und Fragen ignorieren, spätestens seit es Massenmedien gibt. Wir wären handlungsunfähig, wenn uns alles Leid der Welt stets präsent wäre, oder wenn wir ständig alles anzweifeln würden, denn dann wüssten wir nicht mal, ob die Straße noch da ist, wenn wir das nächste Mal vor die Tür treten, und das wär ein schlechtes Gefühl.“ (Stokowski 2016, S.162)
Weil die Dinge nunmal meistens so fürchterich kompliziert sind, können wir nicht alles wissen. Und es geht darum, genau das auszuhalten.

Stokowski beschreibt, wie sie als Schülerin am Physikleistungskurs teilgenommen hatte und wie sie es geliebt hatte, in der Freizeit, nur so aus Spaß, Gleichungen zu lösen: „Ich könnte den ganzen Tag Gleichungen lösen, so befriedigend finde ich das.“ (Stokowski 2016, S.145) – Dabei war sie in dem Kurs das einzige Mädchen und wurde von den Jungs als Fremdkörper wahrgenommen.

An der Universität hat sich Stokowski aber nicht für Physik entschieden, sondern für Philosophie. Sie stellte fest, daß man in der Philosophie nie so genau weiß, ob das, was am Ende eines Denkprozesses herauskommt, auch wahr ist. Außerdem gefiel ihr der einzige Satz von Immanuel Kant, den sie damals kannte: ‚Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!“ – „Gleichungen zu lösen“, schreibt Stokowski, erschien ihr dagegen „immer mehr wie masturbieren“. (Vgl. Stokowski 2016, S.146)

Stokowski entschied sich also für die Unwissenheit: für die Philosophie und dafür, es auszuhalten, daß die Dinge so kompliziert sind, daß man sie nicht in Gleichungen auflösen kann.

Der Gebrauch des eigenen Verstandes ist so wichtig für die Autorin, daß sie die Ziele des Feminismus mit den Zielen des Anarchismus gleichsetzt. Es geht ihr um die Abschaffung der Weltherrschaft. (Vgl. Stokowski 2016, S.160f.) Sich selbst beschreibt Stokowski als jemand, die sich schon immer in politischen Gruppen und auf Massenveranstaltungen unwohl fühlte:
„In den allermeisten Fällen gruselt es mich, mich einer Gruppe anzuschließen, und wenn ich eine ideale Gesellschaft zeichnen müsste, wäre das vor allem eine, in der ich meine Ruhe habe.“ (Stokowski 2016, S.13f.)
Ich teile Stokowskis zugrundeliegende Intuition. Gruppenzugehörigkeiten sind mir immer schon suspekt gewesen, und als junger Mann war ich ebenfalls Anarchist, wie es sich für einen jungen Menschen gehört. Aber inzwischen habe ich eine ganze Portion Mißtrauen gegenüber den Menschen entwickelt. In jeder Generation werden Menschen geboren, die sich zu so etwas wie einem Arschloch entwickeln. Diese Möglichkeit besteht unabhängig von der Gesellschaftsform, da die Entwicklung des Menschen weder planbar noch steuerbar ist. Um diese Arschlöscher unter Kontrolle zu halten, bedarf es einer zivilisierten Gesellschaft, die den Menschen vor sich selbst schützt. Ob es dazu eines Staatsapparates bedarf, ist wieder eine andere Frage. Es ist eben kompliziert.

Genau hier verwickelt sich Stokowski in einen Widerspruch, denn gegen Ende ihres Buches plädiert sie für ein Gruppen-Wir, im Sinne des gemeinsamen Anliegens, die Weltherrschaft abzuschaffen. Sie bezeichnet die Grundform dieses Gruppen-Wirs als Liebe:
„Liebe erweitert unser Selbst, sie lässt uns mit einem anderen Menschen so nah zusammenkommen wie nur möglich: Es entsteht ein Wir.“ (Stokowski 2016, S.217)
Dafür ist der Mensch nicht gemacht. Zwar weist die Autorin zurecht darauf hin, „dass wir nicht wissen, wie der Mensch als natürliches Wesen wäre, denn er ist es qua Definition nicht: Der Mensch ist das Tier, das Kultur hat und in absehbarer Zeit auch nicht mehr darauf verzichten wird“. (Vgl. Stokowski 2016, S.181) – Aber was die Gefühle betrifft, bin ich mir ziemlich sicher, daß Liebe auf Gruppenebene nicht funktioniert, sondern nur unter zweien oder dreien, also im privaten und intimen Bereich.

Ich glaube schon, daß wir es hier mit etwas zu tun haben, was man als Natur des Menschen bezeichnen könnte. Liebe ist kein Massenphänomen! Auch Stokowski hält übrigens die Wut für ein ‚natürliches‘ Gefühl, das man niemandem beibringen muß. (Vgl. Stokowski 2016, S.41) Natürlich muß man hier immer noch differenzieren, denn der gesellschaftlich-kulturelle Einfluß ist enorm. Eben deshalb gilt es wachsam zu sein: wir sollten intime Gefühle wie die Liebe nicht zu Gruppenphänomenen machen.

Obwohl Stokowski also ein starkes Unbehagen bei Gruppenbildungen empfindet, sollen die Menschen unter dem Zeichen des Feminismus und des Anarchismus bzw. der ‚Liebe‘ zusammenfinden und eine Mehrheit bilden, die die Minderheit der Rechthaber und Machthaber dominieren kann:
„Wir nehmen etwas in die Hand. Es wird Leute geben, die sagen: Lass das wieder los. Aber wir lassen nicht los. Wir sind viele, die nicht loslassen.“ (Stokowski 2016, S.196)
Da möchte ich widersprechen: Nein! Wir sind nicht viele! Es kommt nämlich überhaupt nicht darauf an, ‚viele‘ zu sein. Das Recht, an irgendwas und auch an sich selbst festzuhalten, ist unabhängig davon, wie viele es tun! Und das ist der Grund, warum Anarchie nicht funktioniert. Denn die wenigen, die ihren eigenen Verstand gebrauchen, brauchen nicht nur Mut, wie Kant zurecht festhält. Sie brauchen auch Schutz. Und noch leben wir glücklicherweise in einem Land, dessen Verfassung diesen Schutz garantiert.

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Dienstag, 11. Oktober 2016

Tahar Ben Jelloun, Papa, was ist ein Terrorist?, München/Berlin 2016

(Berlin Verlag im Piper Verlag, gebunden, 128 Seiten, 14,-- €)

Tahar Ben Jellouns Buch „Papa, was ist ein Terrorist?“ (2016) ist ein sehr persönliches Buch über ein einschneidendes, traumatisches Erlebnis in der Familie des Autors. Am 15. Januar 2016 ist eine nahe Angehörige bei einem Terroranschlag in einem italienischen Restaurant in der burkinischen Hauptstadt Ouagadougou ums Leben gekommen. Gemeinsam mit seiner Tochter diskutiert Ben Jelloun die Hintergründe des Dschihadismus und versucht das Phänomen des Terrorismus zu verstehen.

Dabei hat Ben Jelloun aber zwei unglückliche Entscheidungen getroffen: Er hat einen für die Ernsthaftigkeit des Themas unpassenden Titel gewählt und ihn dann hinsichtlich der damit verbundenen Dialogform, der Vater beantwortet die Fragen seiner Tochter, auf eine unpersönliche, arbiträre Weise umgesetzt.

Den Titel empfinde ich deshalb als unpassend, weil man sich sofort an die bekannte Radioserie „Papa, Charly hat gesagt …“ erinnert fühlt. Diese Radioserie gibt die launigen, unterhaltsamen Gespräche zwischen einem genervten Vater und seinem neunmalklugen Sohn wieder. Die Dialoge sind spritzig und wortgewandt. Das paßt irgendwie nicht zu „Papa, was ist ein Terrorist?“, schon gar nicht angesichts des ernsthaften Hintergrunds. Und die persönliche Betroffenheit der Tochter paßt nicht zum unpersönlich-sachlichen Stil des dozierenden Vaters, für den die Tochter hauptsächlich die Rolle der Stichwortgeberin spielt.

Gerade die Ausgangssituation, die die Tochter zu ihrer ersten Frage veranlaßt, ihre persönliche Angst, kommt in den Dialogen nicht rüber. Nur ganz am Anfang geht sie in wenigen Sätzen näher auf diese Angst ein. Danach spricht hauptsächlich der Vater, der über ein beeindruckendes Lexikonwissen verfügt, die Daten sämtlicher Terroranschläge der letzten Jahre und noch weiter zurück und deren Umstände aus dem Ärmel schütteln und Definitionen von Begriffen wie ‚Terror‘ und ‚Zivilisation‘ samt ihren lateinischen Wurzeln herunterbeten kann. Nirgends kommt es dabei zu einer wirklichen Aussprache zwischen den beiden über die Ängste der Tochter. Nur ein Mal gibt der Vater ihr einen seltsamen Rat:
„Doch wir müssen die Angst überwinden, nicht in erster Linie du, aber diejenigen, die über die Politik des Landes entscheiden.“ (Ben Jelloun 2016, S.35)
Anstatt seiner Tochter dabei zu helfen, sich mit ihren Ängsten auseinanderzusetzen, rät er ihr, das doch besser der Politik zu überlassen.

Dabei wird die angesichts des Verlustes ihrer Cousine sehr nachvollziehbare Angst der Tochter von Anfang an auf eine allgemein gesellschaftliche Ebene gehoben, indem Ben Jelloun den Eltern und Pädagogen ans Herz legt, sich um die Ängste der „junge(n) Generation“ zu kümmern:
„Denn sie wollen von uns wissen, was uns da bedroht, und brauchen eine Antwort auf die Frage, wie man es trotz der schrecklichen Ereignisse schafft, mutig, friedlich und frei weiterzuleben.“ (Ben Jelloun 2016, S.15)
Die Angst vor dem Terrorismus wird also zu einem verbreiteten Problem von Kindern und Jugendlichen stilisiert.

Ben Jellouns Buch richtet sich nicht nur an Betroffene, also an die Opfer von Terrorattentaten und deren Familienangehörige, sondern an uns alle; denn alle haben Angst bzw. sollten Angst haben, weil jede und jeder „zur Zielscheibe eines Massenmörders“ werden kann, „der in den Haufen schießt und Unschuldige umbringen will“. (Vgl. Ben Jelloun 2016, S.35)

Ich habe ein Problem mit dieser angeblich alle Menschen umfassenden Gefährdungslage und den entsprechenden Aufrufen in den Medien und in der Politik, wachsam und vorsichtig zu sein. Ich habe täglich mit Kindern und Jugendlichen zu tun, und ich kann nicht sagen, daß sie irgendwie beunruhigt sind, geschweige denn voller Angst, Opfer eines Terroranschlags zu werden. Und ich selbst habe ebenfalls keine Angst vor dem Terrorismus, so wenig, wie ich Angst vor einem Verkehrsunfall habe, wenn ich jeden Tag aufs Rad steige und zur Arbeit fahre, obwohl es auch hier täglich jeden erwischen kann. Ich habe vor allem Angst vor denen, die Angst vor dem Terrorismus haben, und noch mehr Angst vor denen, die mit dieser Angst ihr politisches Geschäft betreiben.

Diese Angst schimmert auch bei Ben Jelloun durch, wenn er zum Schluß einen Aufruf an die muslimische Gemeinschaft richtet:
„... heute geht es darum zu beweisen, dass es etwas bedeutet, zum selben Haus, zur selben Nation zu gehören; wir müssen reagieren, sonst bleibt uns nichts anderes übrig, als unsere Koffer zu packen und in die alte Heimat zurückzukehren.“ (Ben Jelloun 2016, S.117)
Diese Sorge Ben Jellouns teile ich, obwohl ich kein Moslem bin. Wenn es dazu kommt, daß diejenigen die Politik bestimmen, die von der Angst vorm Terrorismus profitieren, werden alle anderen, die bislang an den Rechtsstaat geglaubt hatten, ihre Koffer packen müssen, weil sie in diesem ‚Haus‘ nichts mehr zu suchen haben. Denn am Ende werden es immer die sein, die sich noch ein eigenes Urteil erlauben, die am meisten unter der gesellschaftlichen Angst vorm Terrorismus Schaden nehmen werden.

Über lange Strecken des Buches hinweg ist es ermüdend, wie der sein lexikalisches Wissen ausbreitende Vater sich immer wieder im Kreise dreht, wenn er versucht, den Terrorismus zu beschreiben und zu definieren:
„Der Terrorismus ist eine Handlungsweise, kein Denksystem; es ist der Rückgriff auf Terror mit politischen, ideologischen oder religiösen Zielen. Manchmal geht es einfach nur um Diebstahl und Lösegeld nach einer Geiselnahme, um Drogenhandel oder sexuelle Sklaverei. Da gibt es keine Ideologie, keine Politik, nur eine Weltanschauung; das Resultat ist aber immer das gleiche. Es kann auch alles zusammen sein.“ (Ben Jelloun 2016, S.32)
In diesem Versuch einer Definition geht einiges ganz schön durcheinander. Der Terrorismus soll kein Denksystem sein, aber eine Handlungsweise. Dann ist aber gleichzeitig von politischen, ideologischen oder religiösen Zielen die Rede. Dazu braucht es doch wohl so etwas wie ein Denksystem? Dann aber sollen Ideologie und Politik wiederum beim Terrorismus überhaupt keine Rolle spielen. Und zum Schluß soll er dann doch wieder alles zusammen sein: politisch und kriminell, ideologisch und nicht-ideologisch.

In dieser Weise geht es in einem fort weiter. Immer wieder versucht Ben Jelloun den Terrorismus von anderen terroristischen Aktivitäten wie den Attentaten von Anarchisten (vgl. Ben Jelloun 2016, S.28 und S.39) und von Nihilisten (vgl. Ben Jelloun 2016, S.42, 61 und 63) und nicht zuletzt auch von Freiheitskämpfern (vgl. Ben Jelloun 2016, S.42f.) zu unterscheiden, ohne daß es ihm dabei gelingt, eine einigermaßen brauchbare Definition für den Terrorismus zu finden. Aber eins ist ihm dabei besonders wichtig, und Ben Jelloun kommt immer wieder darauf zurück: Terroristen sind keine Verrückten! (Vgl. Ben Jelloun 2016, S.61, 82 u.ö.)

Warum eigentlich? Alles was Ben Jelloun über diese Terroristen zu sagen weiß, klingt sehr nach einer gewissen Verrücktheit, wenn vielleicht auch nicht gerade im medizinischen Sinne. So verweist Ben Jelloun beispielsweise auf das „Gehirn“ der Terroristen, das nicht „normal“ funktioniert. (Vgl. Ben Jelloun 2016, S.81) Und dann heißt es:
„Es sind keine Verrückten, es sind Menschen, die glauben, endlich das Licht gefunden zu haben, auf das sie so lange warteten.“ (Ben Jelloun 2016, S.82)
Ich kann mir nicht helfen: irgendwie scheinen mir Menschen, die glauben „endlich das Licht gefunden zu haben“, schon ein bißchen verrückt zu sein.

Letztlich bleibt von allen klugen Analysen, die der Vater seiner Tochter präsentiert, nur eine übrig, mit der wir wohl alle mehr oder weniger übereinstimmen können: „Man ist also immer Terrorist in den Augen von jemand anderem.“ (Ben Jelloun 2016, S.47)

Erst gegen Ende des Buches läßt sich Ben Jelloun auf seine persönliche Situation ein, und an dieser Stelle merkt man, daß er wirklich etwas zu sagen hat; etwas, von dem man hoffen kann, daß es auch Jugendliche erreichen könnte, die ansonsten von Eltern und Pädagogen nicht mehr erreichbar sind. Mit einem Textauszug von der betreffenden Stelle möchte ich meine Besprechung beenden:
„Sobald ich sechs Jahre alt war, musste auch ich beten. Dazu musste ich die Waschungen vollziehen. Wir lebten in Fes, einer sehr alten und im Winter ziemlich kalten Stadt. Das Wasser war vereist. Jeden Morgen graute mir vor der Prüfung, die dünne Eisschicht zu durchbrechen, um das Wasser zu nehmen und mich zu waschen. Mein Vater hatte bemerkt, dass ich vor Kälte zitterte. Eines Tages nahm er mich zur Seite und sagte mir folgende Sätze, an die ich mich bis heute erinnere: ‚Es ist hart, mit so kaltem Wasser die Waschungen zu vollziehen, ich verstehe dich. Doch es ist einfach, Muslim zu sein, es genügt, sich im Leben gut zu benehmen und die Regeln zu beachten: nicht lügen, nicht stehlen, die Schwachen nicht verachten, nichts Böses tun, seine Eltern und Lehrer respektieren. Das ist es, wenn du diese Regeln befolgst, bist du ein guter Muslim. Bis zum Sommer wirst du das Gebet im Kopf verrichten ...‘ Mein Vater hat mich befreit. In wenigen Minuten hat er mir die Werte der Religion beigebracht, und zu keinem Zeitpunkt habe ich mich als vom Islam abtrünnig empfunden.“ (Ben Jelloun 2016, S.95f.)
Ben Jelloun beschreibt aus eigener Anschauung, was es bedeutet, ein Moslem zu sein; und siehe da: es bedeutet nichts anderes, als menschlich zu sein! Von dieser Art Text wünsche ich mir mehr.
PS (11.10.2016): Jetzt endlich verstehe ich den Satz: „Der Terrorismus ist eine Handlungsweise, kein Denksystem; es ist der Rückgriff auf Terror mit politischen, ideologischen oder religiösen Zielen.“ (Siehe weiter oben im Post) Ich hatte mich gewundert, wie sich ein weithin geachteter Autor wie Tahar Ben Jelloun so in ein und demselben Satz widersprechen kann. Aber möglicherweise meint er gar nicht, daß der Terrorismus gleichzeitig kein Denksystem sei und ideologische Ziele verfolgt. Tatsächlich könnte es sein, daß er meint, daß der heutige Terrorismus auf die Mittel des Terrors früherer Zeiten zurückgreift, als man mit dem Terror noch ideologische Ziele verfolgte. – Diese Textstelle ist ganz schön knifflig. Oder auch einfach nur verkorkst.
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Samstag, 8. Oktober 2016

Tobias Eichinger, Der Wunsch nach Unsterblichkeit (2015)

(in: Oliver Müller/Giovanni Maio (Hg.), Orientierung am Menschen. Anthropologische Konzeptionen und normative Perspektiven, Göttingen 2015S..407-422)

Tobias Eichinger kontrastiert in seinem Beitrag „Der Wunsch nach Unsterblichkeit“ (2015) Pros und Contras einer medizintechnologischen Forschung, die mit der noch unabsehbaren, aber schon einsetzenden allmählichen Verlängerung des menschlichen Lebens, mit der Tendenz auf die Abschaffung des Todes, fundamentale anthropologische Fragen nach der Natur des Menschen aufwirft. Die praktische Frage nach der möglichen Bedeutung einer Abschaffung des Todes für die menschliche Lebensführung ist Eichinger zufolge unabhängig davon, ob sie irgendwann tatsächlich gelingen wird. (Vgl. Eichinger 2015, S.409)

Der Autor inszeniert den „Wunsch nach Unsterblichkeit“ in einem weihevoll-pathetischen Duktus. Er spricht von der „blinden Unerbittlichkeit des lebenszeitrationierenden Schicksals“, von dem Bedürfnis, „den im Augenblick erlebten Moment aufzuhalten, zu dehnen und noch länger auszukosten“, von der „verlockende(n) Phantasie, einen vergangenen Tag, ein Jahr noch einmal zu durchleben“, und vom „süßen Traum, die Mechanik des Ablaufens der Zeit selbst zum Stillstand zu bringen, ob sie nun in Sekunden, Tagen oder Jahren erfahren und erlitten wird“. (Vgl. Eichinger 2015, S.407)

Vor diesem sentimentalen Hintergrund werden dann die verschiedenen Pro- und Contra-Argumente hinsichtlich des Nutzens bzw. Schadens für eine auf Hunderte von Jahren ausgedehnte und möglicherweise sogar für immer vom Tod befreite Lebensführung entfaltet. So verweisen die Contras auf die „Unklarheit über mögliche unbeabsichtigte Folgen“ einer solchen technologisch ermöglichten Lebensverlängerung und stehen damit „in einer langen Tradition philosophischer Technikkritik, deren Hauptmotiv die Unwägbarkeit von Folgewirkungen der Anwendung neuartiger Technologien betont und die auf zahlreiche negative Beispiele aus der Zivilisationsgeschichte verweisen kann“. (Vgl. Eichinger 2015, S.410)

Die Pros wiederum argumentieren, daß eine allzugroße Vorsicht mögliche positive Auswirkungen der Lebensverlängerung unberücksichtigt läßt und zu einer unnötigen „Verlangsamung oder Einschränkung der Entwicklung und Anwendung entsprechender Techniken“ führt. Wenn sich tatsächlich aus der Anwendung neuer Technologien Probleme ergäben, könne man „durchaus auf die prinzipielle und ebenso beständig verlaufende Dynamik technischer Problemlösungen“ vertrauen. (Vgl. Eichinger 2015, S.410)

Diese Pro-Contra-Konstellation ist schon vertraut. Man ist entweder dafür oder dagegen. Nichts wirklich Neues insoweit. Origineller werden die Argumente dann aber an der Stelle, wo Eichinger die Auswirkungen lebensverlängender Technologien auf die personale Identität der Menschen thematisiert. So läßt er die Contras mit der kognitiven Beschränktheit des autobiographischen Gedächtnisses argumentieren:
„Die Verknüpfungsleistung des autobiographischen Gedächtnisses, welches als elementare Bedingung der personalen Identität gelten kann, wäre in der Form, mit der wir heute vertraut sind, schlicht überfordert und eine mehrhundertjährige Lebensdauer könnte für einen Menschen im Rahmen eines kohärenten und stabilen Selbstkonzeptes nicht mehr zu bewältigen sein.“ (Eichinger 2015, S.411)
Die Contras warnen vor multiplen Persönlichkeiten, für die „der alterslose Körper nurmehr als Hülle verschiedener aufeinander folgender Personen“ fungiert. (Vgl. ebenda)

Genau das halten wiederum die Pros für den Vorteil eines technologisch verlängerten Lebens. Für sie stellt die Möglichkeit einer „Vervielfachung möglicher Lebensentwürfe“ in Form einer „serielle(n) Identitätsabfolge“ eine Bereicherung dar. (Vgl. Eichinger 2015, S.412)

Eichinger führt in seinem Beitrag eine ganze Reihe solcher sich gegenseitig aufhebender Argumente an, ohne selbst irgendwo Stellung zu beziehen. Auch auf der ganz grundsätzlichen Ebene einer philosophischen Anthropologie stellt er diese Pros und Contras lediglich sauber gegeneinander, ohne weiter auf eine Klärung ihrer anthropologischen Relevanz hinzuarbeiten. So verweisen die Contras darauf, daß mit der Unsterblichkeit das menschliche „Verhältnis zum Tod“ so grundlegend verändert werde, daß man von einer „Abschaffung des Menschen in seiner heutigen Verfasstheit und Gestalt“ sprechen müsse. (Vgl. Eichinger 2015, S.418) Wenn Eichinger in diesem Zusammenhang von einem „todlosen Leben“ spricht, fühlt man sich als Leser unweigerlich an Zombis erinnert. Eichinger verweist an dieser Stelle aber nur auf die Position des „Transhumanismus“. (Vgl. ebenda)

Aber die Gegenseite, die Pros, kann ebenfalls auf die Natur des Menschen verweisen, nämlich im Sinne der Aufklärung als „selbstbestimmtes und autonomes Wesen“. (Vgl. Eichinger 32015, S.419) Zu dieser Selbstbestimmung und Autonomie gehört demnach auch das Recht auf „biotechnologische() Selbstgestaltung“. (Vgl. Eichinger 2015, S.419)

So wie Eichinger die Sterblichkeit zum Knackpunkt einer Debatte über Möglichkeiten und Grenzen biotechnologischer Entwicklungen zur Lebensverlängerung des Menschen macht, versäumt er ihre anthropologische Einordnung als ein Moment des menschlichen Selbst- und Weltverhältnisses. Zwar weist Eichinger an verschiedenen Stellen immer wieder mal am Rande der Argumentation auf die leibliche Dimension der Sterblichkeit hin. Aber die Leiblichkeit selbst wird nicht weiter thematisiert. Dabei ist es genau diese Leiblichkeit, die beide Positionen, wie sie Eichinger einander gegenüberstellt, miteinander verbindet. Beide, Pros und Contras, gehen von einer leiblichen Existenz des Menschen aus.

Nur leiblich verfaßte Wesen sind sterblich. Aber auch die neuen medizintechnologisch unsterblich gemachten ‚Transhumanen‘ werden weiterhin leiblich existieren, wie Eichinger an der Stelle hervorhebt, wo diese Transhumanen sich auf neue Weise um den Erhalt ihrer Leiblichkeit sorgen:
„Unter Vorzeichen extremer Langlebigkeit dagegen wäre der Tod umso bedrohlicher und heikler.“ (Vgl. Eichinger 2015, S.417)
Gerade die Aussicht auf ein ewiges Leben, so Eichinger, läßt die Angst vor einem Unfall oder einer Naturkatastrophe, der bzw. die diesem Leben ein Ende setzen könnte, noch größer werden als bei Normal-Sterblichen.

Was Eichinger aber nicht berücksichtigt, ist gerade das grundlegende anthropologische Datum der Körperleiblichkeit, wie es Helmuth Plessner (1892-1985) beschrieben hat: als körperleiblich begründete Differenz von Innen und Außen und als damit verbundene Doppelaspektivität, aufgrund deren wir unserer selbst niemals sicher sein können. Plessner zufolge gibt es aufgrund der körperleiblichen Verfaßtheit des menschlichen Selbst- und Weltverhältnisses keine „innere Evidenz“, die uns über alle Zweifel hinweghilft. Der Mensch kann niemals sicher sein, „ob er es noch ist, der weint und lacht, denkt und Entschlüsse faßt“. (Vgl. Plessner, „Stufen des Organischen“ (1928/1975), S.298f.)

Diese Ambivalenz ist ein Merkmal unserer körperleiblichen Verfaßtheit, von der die Sterblichkeit nur ein Moment bildet, und sie gilt für Sterbliche wie für Unsterbliche. Eichinger kommt am Schluß seines Beitrags auf diese Ambivalenz zu sprechen. Dort bildet sie aber nur den Grund, warum er sich selbst in dieser Debatte nicht positioniert. Aus dieser „Ambivalenz des Menschen“ folgt, so Eichinger, „dass es in normativer Hinsicht schwer möglich ist, zu einem eindeutigen Urteil über Praktiken der radikalen Lebensverlängerung und der Abschaffung des natürlichen Todes zu gelangen“. (Vgl. Eichinger 2015, S.420)

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Dienstag, 4. Oktober 2016

Claudia Bozzaro & Mark Schweda, Das Altern und die Zeit des Menschen (2015)

(in: Oliver Müller/Giovanni Maio (Hg.), Orientierung am Menschen. Anthropologische Konzeptionen und normative Perspektiven, Göttingen 2015S.351-378)

Claudia Bozzaro und Mark Schweda, zwei Medizinethiker an den Universitäten Freiburg und Göttingen, befassen sich in ihrem Beitrag „Das Altern und die Zeit des Menschen“ (2015) mit dem Altern und dem Alter als einer conditio humana, deren „Grundzüge“ „im Alter unmittelbar zum Vorschein kommen“. (Vgl. Bozzaro/Schweda 2015, S.373) Dabei heben sie hervor, daß es ihnen im Unterschied zu den traditionellen philosophischen Versuchen, die Struktur der Zeitlichkeit zu bestimmen, vor allem um die „zeitliche Verlaufsform des menschlichen Lebens“ geht. (Vgl. Bozzaro/Schweda 2015, S.352)

Bozzaro und Schweda verstehen das Alter nicht in erster Linie als eine späte Phase des individuellen menschlichen Lebens, sondern als immanentes dynamisches Moment der individuellen Entwicklung. Auch im Alter, als letzter Phase des menschlichen Lebens, ist sich „der Mensch als solcher“ niemals einfach in seinem faktischen So- oder Anderssein gegeben, sondern er entwickelt und verändert sich „im zeitlichen Verlauf seines Lebens immerfort“. (Vgl. Bozzaro/Schweda 2015, S.351)

Die dominanten philosophischen Denkschulen haben Bozzaro und Schweda zufolge bislang zumeist nicht berücksichtigt, daß der Tod in den verschiedenen Lebensaltern nicht die gleiche Bedeutung hat. Sicherlich ist es richtig, daß der Mensch jederzeit mit dem Tod und dem Faktum seiner Endlichkeit konfrontiert ist. Das „memento mori“ ist ein gängiges philosophisches Klischee, das bis hin zur Heideggerschen Sorge des Daseins um sich selbst Anlaß und Motiv für das Suchen nach Antworten auf die Frage nach dem richtigen Leben bildet. Es ermöglicht gewissermaßen eine ‚erfahrungsgesättigte‘ Antizipation des Lebensendes, von dem her man auf das zurückblickt, was von einem gelebten Leben bleibt, wenn es sinnvoll gewesen sein soll. Dieser ‚Vorlauf‘ in den Tod soll dabei helfen, die Absurdität zu vermeiden, daß man immer erst, wenn es zu spät ist, weiß, was man falsch gemacht hat. Das Wissen bzw. die ‚Weisheit‘ des alten Menschen ist Bozzaro und Schweda zufolge „nutzlos für den eigenen Lebensvollzug ..., weil sie erst zu einem Zeitpunkt erlangt wird, in dem das zu entwerfende Leben bereits ans Ende gelangt ist“. (Vgl. Bozzaro/Schweda 2015, S.367)

Mit dieser Fixierung auf den Tod als jederzeit drohendes, letztlich unentrinnbares Verhängnis entgeht den Philosophen also die lebensphasenspezifische Verlaufsstruktur des menschlichen Lebens. Dabei heben Bozzaro und Schweda insbesondere die individuelle Perspektive auf den Tod und seine Dynamik hervor:
„In der Jugend erschien die Zukunft unbegrenzt und mit ihr auch das Leben voll von Möglichkeiten. Die Zukunft war ein offener Raum, eine leere Projektionsfläche für Pläne, Erwartungen, Wünsche. Doch jetzt, wo das zu Erwartende der Tod, das endgültige Ende des eigenen Lebens ist, kann von einer Zukunft im geläufigen, diesseitigen Sinne nicht mehr die Rede sein. ... Die Zukunft des alten Menschen bietet keinen offenen Raum mehr, sie lässt allenfalls Raum für die Einsicht, dass die Welt bald ohne einen weitergehen wird, dass die eigene Zeit eben nicht die Ewigkeit ist, wie in jungen Jahren vielleicht angenommen, sondern die Endlichkeit.“ (Bozzaro/Schweda 2015, S.361f.)
Für den täglichen Umgang mit den verschiedenen Lebensaltern gibt es Bozzaro und Schweda zufolge vor allem zwei unterschiedliche Ethiken: eine sollensethische und eine strebensethische. (Vgl. Bozzaro/Schweda 2015, S.367) Die sollensethische Perspektive auf die verschiedenen Lebensalter gibt eine Norm vor, wie man sich in einem bestimmten Alter zu verhalten hat. An Kleinkinder und Kinder, Jugendliche, Erwachsene und Greise werden ganz unterschiedliche Verhaltenserwartungen gerichtet. Diese unterschiedlichen Verhaltenserwartungen werden wiederum seit der Aufklärung von universalistischen Prinzipien gerahmt, die von einem „altersindifferenten Egalitarismus“ geprägt sind. (Vgl. Bozzaro/Schweda 2015, S.358)

Die strebensethische Perspektive auf die verschiedenen Lebensalter gibt für jede Lebensphase spezifische Phasenideale für die individuelle Selbstverwirklichung des Menschen vor. (Vgl. Bozzaro/Schweda 2015, S.370f.) Dabei variieren die Phasenideale hinsichtlich der Priorität der Lebensalter. Entweder wird das Erwachsenenalter zur Fülle des menschlichen Lebens verklärt oder das Alter, im Sinne einer Reife bzw. Summe, in der alle bisherigen Lebensphasen kulminieren. Reformpädagogen neigen dazu, die Kindheit als paradiesische Zeit des Glücks zu verklären. Psychoanalytiker hinwiederum dramatisieren die Kindheit als eine Phase traumatischer Erlebnisse, die das ganze spätere Leben belasten.

Ob positiv oder negativ: alle neigen dazu, dem individuellen menschlichen Leben eine „Entwicklungsaufgabe“ aufzuerlegen, an deren Erfüllung bzw. an deren Verfehlung es sich messen und beurteilen lassen muß. (Vgl. Bozzaro/Schweda 2015, S.371)

Das Altern als Verlaufsstruktur des menschlichen Lebens, insbesondere mit seiner je lebensphasenspezifischen individuellen Perspektive auf den Tod, spielt Bozzaro und Schweda zufolge „eine wichtige Rolle für die inhaltliche Auseinandersetzung mit Fragen des richtigen Handelns und guten Lebens“. (Vgl. Bozzaro/Schweda 2015, S.366) Bozzaro und Schweda heben dabei drei Ebenen hervor: die „biologische, psychische und soziale Verfasstheit menschlichen Seins“. (Vgl. Bozzaro/Schweda 2015, S.373) Das entspricht den drei Entwicklungsebenen der Biologie, der Kultur und der individuellen Biographie, wie ich sie in diesem Blog meinen anthropologischen Überlegungen zugrundelege. Bozzaro und Schweda heben dabei noch einmal insbesondere die Bedeutung der individuellen Biographie mit ihrer „subjektiven Innenperspektive der gelebten Existenz“ hervor. (Vgl. Bozzaro/Schweda 2015, S.373)

Damit nehmen Bozzaro und Schweda eine fundamentale Verhältnisbestimmung vor, in der die biologischen und die kulturellen bzw. gesellschaftlichen Umstände, die das individuelle Leben bestimmen, erst „durch das Individuum selbst“ und seine narrativen Vollzüge eine Bedeutung erhalten. Bozzaro und Schweda vergleichen die individuelle Biographie mit einer „literarischen Erzählung oder musikalischen Komposition“, mit einem „Bildungsroman“ und einer „Symphonie“. Das Individuum wird auf diese Weise zu einer Art ‚Lebenskünstler‘, das ständig an der „Einheit“ seiner „Person“ arbeitet und durch alle Brüche und Diskontinuitäten hindurch die „Ganzheit“ seines „Lebens“ „immer neu herzustellen“ versucht. (Vgl. Bozzaro/Schweda 2015, S.370)

Bozzaro und Schweda gelingt es, zu zeigen, wie sehr die individuelle Lebensführung des Menschen von dessem in der Verlaufsstruktur des Alterns sich ständig modifizierenden Umgang mit seiner Begrenztheit und Endlichkeit bestimmt ist. Auch hier wird ein weiteres Mal deutlich, wie wenig die Versuche, den Menschen zu substanzialisieren, dessen tatsächlichen existentiellen Erfahrungen gerecht werden. Es ist allererst das dem Substanzdenken inkommensurable „durch das Altern vermittelte Bewusstsein“, das, so Bozzaro und Schweda, „unserer eigenen Zeitlichkeit erst jene spezifisch ethische Perspektive und Dimension eröffnet, in der es überhaupt ‚zählt‘, wie wir entscheiden und was wir tun“. (Vgl. Bozzaro/Schweda 2015, S.352f.)

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Montag, 3. Oktober 2016

Martin Langanke & Micha H. Werner, Der kranke Mensch. Die Pathologisierung menschlicher Endlichkeit im Lichte medizinischer und medizintheoretischer Krankheitsbegriffe (2015)

(in: Oliver Müller/Giovanni Maio (Hg.), Orientierung am Menschen. Anthropologische Konzeptionen und normative Perspektiven, Göttingen 2015S.443-469)

Martin Langanke und Micha H. Werner befassen sich in ihrem Beitrag „Der kranke Mensch“ (2015) mit der Frage, ob der medizinische Krankheitsbegriff „logisch-begrifflich geeignet ist, einer Medikalisierung unserer Endlichkeit zu wehren, genauer: ob er insbesondere zur Zurückweisung der Vorstellung taugt, altersbedingte körperliche Beeinträchtigungen seien als pathologische Zustände zu verstehen“. (Vgl. Langanke/Werner 2015, S.465) Dabei setzen sich Langanke und Werner insbesondere mit den Krankheitsbegriffen von Peter Hucklenbroich (vgl. Langanke/Werner 2015, S.452ff.), Christopher Boorse (vgl. Langanke/Werner 2015, S.457ff.) und Dirk Lanzerath (vgl. Langanke/Werner 2015, S.459ff.) auseinander.

Langanke und Werner attestieren allen drei Autoren, daß sie sich bei ihren Versuchen, einen allgemeingültigen Krankheitsbegriff zu entwickeln, sehr eng „am faktischen Wortgebrauch in bestimmten einschlägigen Rede- und Handlungszusammenhängen“ orientieren. (Vgl. Langanke/Werner 2015, S.460) Zwar beziehen sich Langanke und Werner an dieser Stelle vor allem auf Hucklenbroich und Lanzerath. Aber an anderer Stelle kritisieren sie auch Boorses sprachanalytische Vorgehensweise, die über eine reine Beschreibung des Wortgebrauchs nicht hinausgelangt:
„Da das Ziel von Boorses Deutung des Krankheitsbegriffs letztlich in der Rekonstruktion der Sprachverwendung in der medizinischen Wissenschaft liegt, kann aus seinem Krankheitsmodell kein starkes Argument gegen gängige medizinische Verwendungsweisen generiert werden, die auch universell auftretenden Altersbeeinträchtigungen Krankheitswert zuschreiben. Gewinnen lässt sich nur die vergleichsweise schwache Überlegung, dass der medizinische Wortgebrauch selbst inkonsistent sein mag, soweit wir denn Grund für die Annahme haben, dass Boorses Rekonstruktion den ‚Löwenanteil‘ der medizinischen Begriffsverwendungen adäquat erfasst.“ (Langanke 2015, S.458f.)
Langankes und Werners Kritik an einer zu engen sprachanalytischen Orientierung am Wortgebrauch betrifft also alle drei von ihnen diskutierten Autoren. Die Unterschiedlichkeit ihrer Ansätze besteht vor allem darin, daß Hucklenbroich versucht, eine statistische Vorgehensweise zu vermeiden, indem er den Krankheitsbegriff nicht als durchschnittliche Normabweichung im Rahmen eines „interindividuellen Vergleich(s)“ faßt, sondern aus einem Vergleich des Patienten mit sich selbst heraus bestimmt. (Vgl. Langanke/Werner 2015, S.454) Der Krankheitsbegriff ergibt sich dann aus einem Vergleich mit verschiedenen „natürlich vorkommenden Alternativ-Verläufen“, die sich ergeben hätten, wenn der Patient nicht krank geworden wäre. (Vgl. ebenda) Da Hucklenbroich aber bei der Bestimmung der Alternativverläufe wiederum von einem Normalzustand ausgehen muß, dem die Alternativverläufe zugeordnet werden können, werfen Langanke und Werner ihm vor, daß auch Hucklenbroich nicht ohne eine „statistische oder kryptoessentialistische“ Vergleichsbasis auskommt. (Vgl. Langanke/Werner 2015, S.455)

An Dirk Lanzerath schätzen Langanke und Werner seinen ethischen Ansatz. Lanzerath geht es darum, „die Medizin vor der Transformation in eine beliebige ‚Kundenwünsche‘ und gesellschaftliche Erwartungen bloß bedienende Anthropotechnologie zu bewahren“. (Vgl. Langanke/Werner 2015, S.460) Da Lanzerath seinem Krankheitsbegriff aber die Bewertung des Patienten zugrundelegt, der seinen Zustand als „Übel‘ empfindet, und da er den Arzt darauf verpflichtet, dieses Übel zu bekämpfen (Eid des Hyppokrates, Berufsordnung der Bundeärztekammer), vermag Langanke und Werner zufolge auch sein Ansatz einer „‚Pathologisierung‘ unserer Endlichkeit“ nichts entgegenzusetzen. (Vgl. Langanke/Werner 2015, S.463f.)

Der einzige der drei Ansätze, der eine Eingrenzung des Krankheitsbegriffs ermöglicht, ist Langanke und Werner zufolge der biostatistische, „oft als ‚naturalistisch‘ und ‚reduktionistisch‘ kritisierte“ Ansatz von Boorse. (Vgl. Langanke/Werner 2015, S.466) Da Boorse von einem altersabhängigen Durchschnittswert ausgeht, bedeutet ‚Gesundheit‘ in den verschiedenen Lebensaltern nicht dasselbe. Entsprechend sind bei Boorse „Alterssichtigkeit“ und „alterstypische Gefäßkrankheiten“ nicht krankheitswertig. (Vgl. Langanke/Werner 2015, S.458) Allerdings kommen Langanke und Werner in dieser Schlußbewertung nicht noch einmal auf ihre schon erwähnte Kritik zurück, daß auch Boorse mit seinem sprachanalytischen Vorgehen zu nah am Wortgebrauch entlang argumentiert und deshalb letztlich die gängige Praxis im Umgang mit Krankheit affirmiert.

Bei aller Bescheidenheit der beiden Autoren hinsichtlich des Ertrags ihrer Untersuchung – sie selbst bezeichnen die Ergebnisse ihrer Untersuchung als „unbefriedigend“ (vgl. Langanke/2015, S.467) – glaube ich doch, daß der eigentliche Ertrag ganz woanders liegt. Letztlich zeigen Langanke und Werner, daß es einen großen Unterschied zwischen einem anthropologischen und einem medizinischen Krankheitsbegriff gibt, der sich vor allem auf die Praxis der individuellen Lebensführung auswirkt. Darauf möchte ich jetzt noch einmal detaillierter eingehen.

Bevor Langanke und Werner sich mit den Krankheitsbegriffen von Hucklenbroich, Boorse und Lanzerath befassen, versuchen sie eine Klärung der anthropologischen Grundlagen des Krankheitsbegriffs. Dabei sprechen sie gleich zu Beginn das anthropologische Paradox an, daß jede Aussage über ‚den‘ Menschen die spezifischen Bedingungen des Menschseins wie Geschlecht, Alter, kulturelle Hintergründe etc. ignoriert und deshalb zur inhaltlichen Qualifizierung des Menschen nicht taugt. (Vgl. Langanke/Werner 2015, S.443) Das Problem verstärkt sich noch, wenn man allgemeingültige Aussagen über den „kranken Menschen“ zu machen versucht, weil der „Prädikator ‚krank‘“, so die Autoren, „strittig“ ist. (Vgl. ebenda)

Logisch-begrifflich stößt man also schnell auf eine Grenze. Jeder Versuch einer „elementaren“ Prädikation des Menschen – wie etwa „‚den logos habend‘, ‚vernünftig‘, ‚auf Transzendenz ausgerichtet‘, ‚gemeinschaftsbildend‘, oder ‚diskurs-‚ und ‚sprachfähig‘“, produziert sofort „Grenzfälle“, wo z.B. Menschen „mit Demenz im Endstadium“ aus solchen Definitionen herausfallen. (Vgl. Langanke/Werner 2015, S.444) Es hat also wieder eine gewisse ‚Logik‘, wenn Langanke und Werner den Grenzfall selbst zum anthropologischen Merkmal erheben und sich auf die jenseits der Logik liegenden, dafür aber inhaltlich „interessanten“ Merkmale der Sterblichkeit und der Bedürftigkeit als fundamentale Bestimmungen der Menschlichkeit festlegen. (Vgl. Langanke/Werner 2015, S.465)

Mit dieser Festlegung bewegen sich Langanke und Werner auf dem Niveau der anthropologischen Konzeption von Helmuth Plessner. Mit der Sterblichkeit und der Bedürftigkeit des Menschen rücken die in unserer „leiblichen Verfasstheit“ (Langanke/Werner 2015, S.446) begründete Begrenztheit unserer Intentionalität und die mit dieser intentionalen Begrenztheit verbundene „fundamentale() Angewiesenheit auf Andere und Anderes“ in den Fokus unserer Aufmerksamkeit (vgl. Langanke/Werner 2015, S.447).

Diese Sterblichkeit und Bedürftigkeit des Menschen bilden allerdings kein exklusives Merkmal, sondern die Menschen teilen diese Befindlichkeit mit allen anderen Lebewesen. Helmuth Plessner hat diese tiefe Verbundenheit der biologischen Formen in seinem Buch „Die Stufen des Organischen und der Mensch“ (1928) im Detail beschrieben. Langanke und Werner begehen nun den Fehler, die ‚Anthropologie‘, also die Fähigkeit, nach der „möglichen Bedeutung von Bedürftigkeit und Sterblichkeit für das ‚Selbstverständnis‘ des Menschen“ zu fragen – das entspräche so weit immer noch der von Plessner beschriebenen „exzentrischen Positionalität“ –, zu einem Sonderfall auch „innerhalb der offenen Gegenstandsklasse ‚Mensch‘“ (Langanke/Werner 2015, S.444) zu machen:
„Dass aber alle Menschen diese Fähigkeit mitbringen, wird man mit Blick auf kleine Kinder oder kognitiv beeinträchtigte Personen gewiss nicht behaupten können.“ (Langanke/Werner 2015, S.446, Anm.3)
Plessner sieht das ganz anders. Ihm zufolge bildet es eine grundsätzliche Disposition aller Menschen, daß sie an der Grenze ihrer scheiternden Intentionalität auf sich selbst zurückgeworfen und sich ihres Selbst bewußt werden können. Wir haben es hier keineswegs mit einer besonderen kognitiven Begabung zu tun, wie Langanke und Werner meinen. Auch Langanke und Werner selbst weisen an anderer Stelle auf die Unmittelbarkeit der Krankheitserfahrung hin, mit der die Menschen jenseits ihrer kognitiven Kapazitäten konfrontiert werden:
„... vielmehr können uns beide Aspekte (nämlich Bedürftigkeit und Sterblichkeit – DZ) ganz unmittelbar ‚auf den Leib‘ rücken, und zwar insbesondere dann, wenn wir krank sind, schwer krank zumal oder ‚lebensgefährlich‘ krank.“ (Langanke/Werner 2015, S.447)
Diese Erfahrung mit unserer Sterblichkeit ist also jedem Menschen zugänglich, und deshalb bildet Anthropologie auch keinen exklusiven Tummelplatz von Experten:
„Krank werden zu können, so darf man ja nach dem Gesagten vermuten, ist eine Möglichkeit menschlichen Lebens, die für unsere Lebensführung, für unser ‚Selbstverständnis‘ bedeutsamer sein oder werden kann als manche andere Disposition.“ (Langanke/Werner 2015, S.448)
In diesem Sinne bildet die Krankheit einen von speziellen kognitiven Kapazitäten unabhängigen „Anlass zum Einstieg in solche Reflexionen“. (Vgl. Langanke/Werner 2015, S.465)

Nachdem die Autoren die anthropologischen Grundlagen des Krankheitsbegriffs geklärt haben, konfrontieren sie zwei verschiedene Positionen miteinander: die eine Position versteht das Alter als pathologisch, also als Krankheit, und widerspricht damit der grundlegenden anthropologische Einsicht in die Sterblichkeit bzw. Endlichkeit des menschlichen Lebens. Die andere Position versteht das Altern als eine normale Erscheinungsform des menschlichen Lebens. (Vgl. Langanke/Werner 2015, S.448f.) Dabei wird der Begriff der Normalität vor allem statistisch gefaßt. (Vgl. Langanke/Werner 2015, S. 450f.) Es ist aber gerade dieser statistische Zugang zum Begriff des Alters und der Krankheit, der dazu führt, daß auch diese Position, die den Begriff des Alters nicht pathologisieren will, zu den gleichen Effekten führt wie die andere Position. Langanke und Werner sprechen hier von einer „List“, die die eigentlich demütige Einstellung derjenigen Mediziner, die die Endlichkeit des menschlichen Lebens akzeptieren, hintertreibt. (Vgl. Langanke/Werner 2015, S.451)

Denn unabhängig davon, ob die Ärzte das Alter selbst als eine Krankheit bewerten und an seiner Abschaffung arbeiten oder ob sie das Alter als Teil der menschlichen Endlichkeit akzeptieren, dabei aber im Zuge des medizintechnischen Fortschritts jede mit dem Alter einhergehende organische Ausfallerscheinung im Interesse des jeweiligen Patienten bekämpfen, tragen beide Positionen dazu bei, den Tod so weit wie möglich nach hinten zu verschieben und ihn tendenziell abzuschaffen bzw. wie die Autoren in einem treffenden Bild festhalten:
„Will derjenige, der jedes einzelne Sandkorn vor dem statistisch unwahrscheinlichen Ereignis bewahren will, in der kommenden Sekunde oder Millisekunde hinabzurieseln, etwas anderes als die Sanduhr aufzuhalten?“ (Langanke/Werner 2015, S.465)
Die „List“, die die Bemühungen der Mediziner, das Altern nicht zu pathologisieren, hintertreibt, besteht selbst also wiederum in einer ‚Statistik‘, nämlich in den statistischen Wirkungen der „kurative(n) oder rehabilitative(n) Intervention(en)“ (Langanke/Werner 2015, S.461) aller Ärzte insgesamt, in der medizinischen Forschung wie im „Versorgungskontext“ (vgl. Langanke/Werner 2015, S.452), die in der Summe zu einer Medikalisierung und damit zu einer „‚Entfristung‘ unserer Existenz“ (Langanke/Werner 2015, S.449) führen.

Langanke und Werner können auf diese Weise zeigen, daß der Begriff der Krankheit jenseits seiner anthropologischen Dimension in der Medizin etwas Korrumpierendes hat: der Begriff des Alters hat neben dem medizinischen ‚Krankheitsbegriff‘ bzw. genauer neben der medizinischen Praxis keinen Bestand. Er löst sich unweigerlich auf, und das Altern wird selbst zu einem weiteren behandlungsbedürftigen Symptom. Es gibt mit zunehmendem Alter keine vom Krankheitsbegriff unabhängigen Zustände, die nicht behandlungsbedürftig sind.

Wo also der anthropologische Krankheitsbegriff einen Freiraum des Handelns eröffnet, weil er ein Selbst- und Weltverhältnis des Menschen eröffnet, liefert der medizinische Krankheitsbegriff den Patienten dem jeweiligen medzin-technologischen Stand seiner Zeit aus. Schon Jean-Jacques Rousseau hatte in seinem „Emile“ (1760) darauf hingewiesen, daß es, bevor es Ärzte gab, nur Gesundheit oder Tod gegeben habe. Krankheiten gebe es erst, so Rousseau, seit es Ärzte gibt.

Allerdings liefert einer der drei Medizintheoretiker, auf die sich Langanke und Werner in ihrem Beitrag beziehen, einen interessanten Hinweis darauf, was ‚Krankheit‘ als Grenzerfahrung auch bedeutet: Dirk Lanzerath versteht den Krankheitsbegriff als „Handlungsbegriff“. Krankheit ist also letztlich, so Langanke und Werner, eine Sache der „‚Wertung‘ durch den Betroffenen im Hinblick auf die Zu- und Abträglichkeit der jeweiligen Körperzustände für ihn“. (Vgl. Langanke/Werner 2015, S.462)

Langanke und Werner sehen darin vor allem einen weiteren Schritt in Richtung auf eine Pathologisierung und Medikalisierung des Alters, da sie hier vor allem die Option hervorheben, daß die Betroffenen die Krankheit als ein „Übel“ definieren, das bekämpft werden muß. Man kann es aber auch anders sehen, so wie Theda Rehbock in ihrem Beitrag „Krankheit als Grenzsituation und die Freiheit des Kranken“ (2015). (Vgl. meinen Post vom 02.10.2016) Rehbock verweist auf die Möglichkeit des Menschen, sich zu seiner Krankheit zu verhalten und sich nicht auf deren Bekämpfung zu fixieren. (Rehbock 2015, S.427) Wenn wir den Krankheitsbegriff als Handlungsbegriff verstehen können, steht es auch dem kranken Menschen wieder offen, sein Leben zu führen; auch im Alter.

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Sonntag, 2. Oktober 2016

Theda Rehbock, Krankheit als Grenzsituation und die Freiheit des Kranken (2015)

(in: Oliver Müller/Giovanni Maio (Hg.), Orientierung am Menschen. Anthropologische Konzeptionen und normative Perspektiven, Göttingen 2015S.423-442)

Theda Rehbock befaßt sich in ihrem Beitrag „Krankheit als Grenzsituation und die Freiheit des Kranken“ (2015) mit der Notwendigkeit eines philosophischen Krankheitsbegriffs, der sich der Problematik stellt, daß es keine exakte Definition von Krankheit und Gesundheit geben kann. (Vgl. Rehbock 2015, S.427, 432, 441) Zwar gibt es einen durchaus unproblematischen Zugang zur Krankheit, dem sich die Ärzte und die Solidargemeinschaft der Krankenkassen verpflichtet wissen. (Vgl. Rehbock 2015, S.429ff.) Aber dabei handelt es sich um konkrete Schmerz- und Leidenssymptome von Personen, die sich subjektiv bemerkbar machen und objektiv diagnostiziert werden können. Diese spezifischen Krankheiten bilden aus philosophischer Perspektive einen weitgehend unproblematischen Verbund von somatisch-physiologischen Prozessen, lebensweltlich-kulturellen Wertungen und individuell-biographischen Erfahrungen. Damit zeigt sich, daß wir es bei diesem Thema in besonderer Weise mit dem Menschen als ganzer Person zu tun haben, die sich aus den verschiedenen Ebenen biologischer, kultureller und biographischer Prozesse zusammensetzt.

Genau an dieser Stelle aber beginnen auch die Schwierigkeiten. Da wir es beim Menschen unweigerlich mit Personen zu tun haben, und nicht einfach mit objektiv beschreibbaren biologischen und sozialen Systemen, wird der Krankheitsbegriff in dem Moment, wo wir uns dieser Person zuwenden, zu einem Moment seines Selbst- und Weltverhältnisses. Rehbock weist darauf hin, daß die Krankheit nicht getrennt von der Freiheit des Menschen gesehen werden kann und darf, sich zu ihr zu verhalten:
„Diese Freiheit des Kranken, sich zu seiner Krankheit zu verhalten, ist nicht nur durch ihn selbst in Anspruch zu nehmen, sondern auch durch die Anderen zu achten und zu ermöglichen. ... Aus der im Begriff der Krankheit enthaltenden negativen Bewertung der Krankheit folgt keineswegs die Forderung, ‚daß Krankheit immer ein Zustand sei, der beseitigt werden müsse.‘()“ (Rehbock 2015, S.428)
Der kranke Mensch ist deshalb nicht einfach ein ‚Patient‘, der das Handeln des Arztes an sich bloß ‚erleidet‘:
„Was die Medizin mit ihm tut, ist daher genau genommen sein eigenes Tun, das er auch unterlassen könnte, solange er sich bewusst und aktiv zu seiner Krankheit verhalten kann ...“ (Rehbock 2015, S.433)
Aber es gibt noch weitere Gründe, warum ein rein objektiv-deskriptiver Krankheitsbegriff auch auf der konkreten Ebene spezifischer Symptome nicht funktioniert. Rehbock verweist auf die technologischen Fortschritte in „der Schönheitschirurgie, der künstlichen Reproduktion, des Enhancements sowie der Früherkennung und Behandlung von medizinisch diagnostizierten Krankheiten oder (zum Beispiel genetischen) Krankheitsdispositionen, bevor diese sich als erfahrbare Erkrankung manifestieren“. (Vgl. Rehobock 2015, S.424)

Naturalistische Positionen können nicht bestimmen, wo die Grenze zwischen Krankheit, Gesundheit und gesellschaftlichem Zwang zur Selbstoptimierung verläuft:
„Hat man in naturwissenschaftlich-objektivierender Perspektive die Dimension des Wertens aus dem Krankheitsbegriff eliminiert, dann erscheint Krankheit in dieser Perspektive als ein rein natürlich-biologischer Zustand oder Prozess, der als solcher weder gut noch schlecht ist, weder überwindungs- noch erhaltungsbedürftig ist. Auch die Einschränkung medizinischer Intervention auf als ‚pathologisch‘ bestimmbare Prozesse und damit der Ausschluss von menschlichen Verhaltensweisen wie Homosexualität, Masturbation oder politischer Opposition ist allein auf biologischer Grundlage in keiner Weise zu rechtfertigen.“ (Rehbock 2015, S.435)
 Auch der Naturalismus ist noch in die Lebenswelt bzw., wie Rehock schreibt, in den „Wertungshorizont einer gemeinsam geteilten Sprache und Lebenspraxis“ eingebunden, von dem her er scheinbar wertfrei Krankheitssymptome diagnostiziert. Denn auch der wiederum nur scheinbar wertfreie, weil vom ‚primären‘ Naturbegriff abstrahierende Begriff des artspezifischen „Funktionsdesigns“, von dem ‚kranke‘ Menschen abweichen, beinhaltet seine eigene Teleologie bzw. – etwas verschämter ausgedrückt – ‚Teleonomie‘. (Vgl. Rehbock 2015, S.434f.)

Zu diesem Funktionsdesign gehören selbstverständlich nicht nur biologisch-physiologische Spezfikationen, sondern auch soziale Erwartungen und Zwänge. Und so führen dann einfache physiologische und anatomische Beschränkungen zu sozialen Beeinträchtigungen, etwa im Arbeitsleben. Der systemtheoretisch begründete Begriff des Funktionsdesigns erfordert hier medizinische Interventionen, obwohl die Person selbst sich vielleicht gar nicht als krank empfindet. Der Begriff des Funktionsdesigns verdrängt den Spielraum des Verhaltens bzw. der individuellen Freiheit:
„Die praktische Konsequenz einer solchen einseitigen Haltung zum Leiden besteht für den Kranken darin, so auf die Bekämpfung der Krankheit fixiert und ausschließlich mit ihr beschäftigt zu sein, dass er, in Orientierung an der realitätsfernen Utopie eines leidfreien Lebens, die auch unter den Bedingungen der Krankheiten möglichen Formen eines sinnvollen, guten Lebens übersieht und verpasst.“ (Rehbock 2015, S.427)
Wir haben es also, so Rehbock, mit zwei grundsätzlich verschiedenen Vorstellungen von Krankheit zu tun: mit einer naturalistischen Vorstellung, die den Krankheitsbegriff systemtheoretisch als Abweichung von einem artspezifischen Funktionsdesign versteht, und mit einer phänomenologisch-existentialistischen Vorstellung, die den Krankheitsbegriff mit subjektiven Wertungen in Verbindung bringt. (Vgl. Rehbock 2015, S.424) Dabei muß Rehbock zufolge zwischen einer evaluativen und einer normativistischen Perspektive auf den Wertbegriff – „zwischen dem Werten, das etwas als gut oder schlecht beurteilt, und dem darauf bezogenen Sollen“ – unterschieden werden. (Vgl. Rehbock 2015, S.440)

Dabei differenziert Rehbock noch einmal auf originelle Weise, wie ich finde, zwischen dem ‚Richtigen‘ und dem ‚Guten für mich‘:
„Andere können mir höchstens raten, etwas empfehlen oder mich von etwas zu überzeugen versuchen, sie können mir aber nichts vorschreiben oder gegen meinen Willen mich ‚zu meinem Glück zwingen‘. Zwang ist nur dann gerechtfertigt und notwendig, wenn es nicht um das für mich Gute, sondern um moralische und rechtliche Normen geht, die mich hindern sollen, dem Anderen zu schaden oder ihm das ihn Gute vorzuenthalten. Hier geht es nicht um das Gute, sondern um das Richtige und um Gerechtigkeit.“ (Rehbock 2015, S.429)
Indem Theda Rehbock ‚das‘ Gute vom Guten ‚für mich‘ unterscheidet, befreit sie den Begriff des Guten von einem normativen Zwang, der alle Menschen nach einem einzigen Prinzip beurteilt. Es gibt auf gesellschaftlicher Ebene das Gute nicht, auch nicht in Form eines Funktionsdesigns, sondern es geht nur um Fragen der Gerechtigkeit. Krankheit und Gesundheit bilden deshalb individuelle Befindlichkeiten, die unter anderem zum Ausdruck bringen, wie sich Individuen zu ihrer biologisch-physiologischen Konstitution und zu ihrem sozialen Umfeld verhalten.

Dabei sind natürlich alle drei Entwicklungsebenen, die Biologie, die Kultur und die Biographie zu berücksichtigen. Es stellt sich die Frage nach den vorbewußten, also lebensweltlichen Anteilen des Krankheitsempfindens. Theda Rehbock spricht von einem „elementarste(n) Werten und Wollen, das zum Beispiel auf das Überleben und auf das gute Leben selbst gerichtet ist“. (Vgl. Rehbock 2015, S.439) Sie führt diesen vorbewußten Bereich auf unsere leibliche Existenz zurück, im Sinne einer anatomisch-physiologischen „Intentionalität des Leibes“ (vgl. Rehbock 2015, S.436), die sich auf unser Krankheitsempfinden auswirkt, noch „bevor wir uns dessen bewusst sind“ (vgl. Rehbock, S.439). Wir kommen hier also in den Bereich einer Phänomenologie des Körperleibs, wie sie unter anderem Helmuth Plessner (1892-1985) entwickelt hat.

Rehboks Gewährsleute sind Karl Jaspers (1883-1969) und Maurice Merleau-Ponty (1908-1961). Karl Jaspers beschreibt Rehbock zufolge die Krankheit als eine „menschliche Grenzsituation“, die zugleich eine „Grundsituation“ des menschlichen Lebens bildet. (Vgl. Rehbock 2015, S.426) Die Krankheit zieht uns den „Boden“ unter den Füßen weg:
„‚Der Boden‘, das ist zum Beispiel das selbstverständliche Funktionieren des Leibes und seiner Organe, wodurch uns ein weitgehend schmerzfreies und genussvolles tägliches Leben möglich ist. Dieser Boden verliert seine Selbstverständlichkeit, er wird selbst zum Thema, wir werden darauf aufmerksam, wie abhängig wir von ihm sind. Durch diese individuelle Erfahrung wird der Einzelne zugleich mit der Bodenlosigkeit, Endlichkeit und der durch unauflösbare Widersprüche und Gegensätze (zwischen dem Absoluten und dem Endlichen, Leben und Tod, Krankheit und Gesundheit, Freiheit und Abhängigkeit usw.) geprägten antinomischen Struktur des menschlichen Daseins insgesamt konfrontiert.“ (Rehbock 2015, S.426)
Der ‚Boden‘, also unsere fungierende Leiblichkeit, bildet ein zentrales Moment unserer Lebenswelt. Die Krankheit als Grenzsituation konfrontiert den Menschen mit seiner Gebrechlichkeit und stellt alle bislang geglaubten Sicherheiten fundamental in Frage. Wir haben es also bei der Grenzsituation, von der Jaspers spricht, mit einem Bruch in unserem Selbst-und Weltverhältnis zu tun, der alle Bedingungen für einen Hiatus, wie ihn Plessner mit dem Begriff des Körperleibs verbindet, erfüllt. Indem wir in die Grenzsituation einer Krankheit geraten und dies als Grundsituation unserer Existenz begreifen, werden wir uns unserer selbst bzw. unseres Selbst und der Welt bewußt.

Jaspers verbindet die von Plessner beschriebene Gebrochenheit unserer Intentionalität mit dem Situationsbegriff. Jede Situation erweist sich als Grenzsituation, weil jede Situation unsere Intentionalität – und anders als situativ können wir unsere Intentionalität gar nicht verwirklichen – begrenzt:
„Eng verbunden mit dieser Grundstruktur menschlichen Daseins gehört zu dessen Verfassung als Grenzsituation auch, was Jaspers als ‚erste Grenzsituation‘ bezeichnet: dass ‚ich als Dasein immer in einer bestimmten Situation, nicht allgemein als das Ganze der Möglichkeit bin‘.()“ (Rehbock 2015, S.427)
Insgesamt haben wir es also bei Jaspers’ Grenzsituation mit einem Begriff zu tun, der dem Plessnerschen Körperleib entspricht.

Theda Rehbock bezieht sich beim Begriff des Körperleibs aber vor allem auf Maurice Merleau-Ponty. Sie unterscheidet mit Merleau-Ponty ähnlich wie Plessner zwischen dem „Leib als Leib“ und dem „Leib als Körper“. (Vgl. Rehbock 2015, S.436) Dabei soll der Leib als Leib vor allem als „Medium des psychisch-mentalen Lebens und Ausdrucksverhaltens“ fungieren, während der Leib als Körper „als physisch-materielles Objekt des (wissenschaftlichen) Erkennens und (technischen) Handelns“ dient. (Vgl. ebenda)

Am Leib hebt Rehbock vor allem die Dimension des „Zur-Welt-Sein(s) (être au monde)“ hervor, durch die „uns die Bedeutsamkeit der Dinge für uns – ihr Wert und Nutzen, aber auch ihre zweckfreie Schönheit – überhaupt erst zugänglich“ werden. (Vgl. Rehbock 2015, S.436) Dabei geht aber die Differenz von Innen und Außen verloren, die bei Plessner eine Folge des Hiatus-Erlebnisses bildet. Mit Innen und Außen verbindet sich bei Plessner wiederum die Doppelaspektivität des menschlichen Selbst- und Weltverhältnisses, von der Rehbock an anderer Stelle im Sinne „unauflösbare(r) Widersprüche und Gegensätze“ zwischen „dem Absoluten und dem Endlichen, Leben und Tod, Krankheit und Gesundheit, Freiheit und Abhängigkeit usw.“ spricht. (Vgl. Rehbock 2015, S.426) An dieser Stelle beschreibt Rehbock die Doppelaspektivität als „antinomische() Struktur des menschlichen Daseins“. (Vgl. ebenda)

Theda Rehbock spricht also alle phänomenal-existentiellen Aspekte des menschlichen Lebens an, geht aber trotzdem nicht soweit, den Krankheitsbegriff so mit dem Personbegriff zu verbinden, daß in ihm das menschliche Selbst- und Weltverhältnis zu individuellem Bewußtsein kommt. Dem Leiblichen kommt nur ein „elementarest(s) Werten und Wollen“ zu. In ihm sind wir immer schon in uns ein- und auf die Welt ausgerichtet, „bevor wir uns dessen bewusst sind“. (Vgl. Rehbock 2015, S.439)

Aus dem Leiblichen und der mit ihm verbundenen Hiatus-Erfahrung als versagende Intentionalität ergibt sich für Rehbock kein Bewußtsein. Dazu bedarf es vielmehr allererst „Sprache“ und „Vernunft“. (Vgl. Rehbock 2015, S.437) Woher aber kommen Sprache und Vernunft? Sie sind nicht vom Himmel gefallen, sondern selbst wiederum leiblich fundiert. Wenn sie aber leiblich fundiert sind, bedarf es einer leiblichen Erfahrung, die sie ermöglicht. Plessner zufolge befindet sich der Mensch mit seinem Körper im Streit. (Vgl. Helmuth Plessner, Anthropologie der Sinn, in: Gesammelte Schriften III: Anthropologie der Sinne. Frankfurt a.M. 1980/1970, S.317-393: 369) Es gibt keine Verschmelzung im Körperleib, auch keine Verschmelzung mit anderen Menschen bzw. ‚Körpern‘, keine „Zwischenleiblichkeit“ im Merleau-Pontyschen Sinne. Erst aus diesem ‚Streit‘, dem ,Hiatus‘ geht eine Sprache hervor, die durch die Differenz zwischen Innen und Außen in Form einer Differenz zwischen Meinen und Sagen geprägt ist. Das ist der Kern der menschlichen Expressivität.

Rehbock sieht das Schmerzsymptom aber nicht als eine Hiatus- bzw. Grenzerfahrung, die zu Reflexion und Freiheit führt; stattdessen führt der Schmerz lediglich zur Medizin:
„Aus solchen Erfahrungen entwickelt sich die immer weiterreichende medizinische Erforschung der physiologischen und pathophysiologischen Funktionen des menschlichen Körpers sowie therapeutischer Verfahren und Techniken.“ (Rehbock 2015, S.437)
Mit diesen kritischen Bemerkungen zur Differenz zwischen Plessner und Merleau-Ponty möchte ich aber den Wert von Theda Rehbocks philosophischen Überlegungen keineswegs schmälern. Es ist ihr durchaus gelungen, den Wert und Nutzen philosophisch-anthropologischer Überlegungen zum Krankheitsbegriff deutlich zu machen. Ein solcher philosophisch gehaltvoller Krankheitsbegriff bietet die Möglichkeit, den gesellschaftlich-solidarischen Umgang mit kranken Menschen kritisch zu begleiten und zu hinterfragen. Daß dies notwendig ist, zeigt nicht zuletzt die Geschichte der Versuche, „Homosexuelle, Suizidenten oder politische Dissidenten auf Grund ihres vom ‚Normalen‘ abweichenden Verhaltens als krank zu erklären und gegen ihren Willen medizinisch zu behandeln.“ (Vgl. Rehbock 2015, S.429)

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Samstag, 1. Oktober 2016

Friedo Ricken, Sterblichkeit – Gerechtigkeit – Freundschaft. Zum Menschenbild der Antike (2015)

(in: Oliver Müller/Giovanni Maio (Hg.), Orientierung am Menschen. Anthropologische Konzeptionen und normative Perspektiven, Göttingen 2015S.13-30)

Friedo Ricken, Jesuit und emeritierter Philosoph der Hochschule der Jesuiten in München, leitet mit seinem Beitrag zum „Menschenbild der Antike“, „Sterblichkeit – Gerechtigkeit – Freundschaft“ (2015), den Herausgeberband „Orientierung am Menschen“ ein. Der Titel seines Beitrags verspricht mehr, als der Beitrag hält. Der erste Begriff im Begriffsdreiklang des Haupttitels taucht nur auf der ersten Seite des Beitrags auf. Dabei handelt es sich bei der Sterblichkeit um den interessantesten und für die Klärung des antiken Menschenbildes ergiebigsten Begriff, während es sich bei den anderen beiden Begriffen, so fundamental sie auch zu sein scheinen, um Spezialthemen handelt, die Ricken zu keiner Klärung des antiken Menschenbildes nutzt und ihm letztlich bloß Anlässe zu Sentenzen und Plattitüden liefern.

Zu Beginn seines Beitrags verweist Ricken auf einen Vers von Epicharm (um 540 bis um 460 v.Chr.): „Sterbliches soll der Sterbliche, nicht Unsterbliches der Sterbliche denken.“ (zitiert nach Ricken 2015, S.13). Noch im selben Absatz hebt Ricken, ohne weiter auf diesen Vers einzugehen, hervor, daß sich Aristoteles (384 bis 322 v.Chr.) in seiner „Nikomachischen Ethik“ „mit aller Entschiedenheit“ gegen Epicharms Maxime gewendet habe. (Vgl. ebenda) Auf der nächsten Seite verweist Ricken auf Platon (um 428/427 bis um 348/347 v.Chr.), der schon vor Aristoteles dem Vers des Epicharm widersprochen habe (vgl. Ricken 2015, S.14), was Ricken ein paar Seiten später nochmal wiederholt (vgl. Ricken 2015, S.17). Das ist alles, was Ricken zum ersten Begriff im Titel seines Beitrags zu sagen weiß.

Dafür ist die Auseinandersetzung mit den anderen beiden Begriffen um so umfänglicher, wenn auch in weiten Teilen nicht gerade gründlicher. Rickens Beitrag wimmelt von Plattitüden und Kuriosa, die allesamt wenig bis nichts zum Menschenbild der Antike beitragen. So zitiert Ricken z.B. eine Ermahnung Hesiods (vor 700 v.Chr.) an seinen Bruder, von dem er sich beim Erbe des Vaters hintergangen fühlt:
„Hesiod mahnt seinen Bruder zu arbeiten. Gefährte des Trägen ist der Hunger. Wer nicht arbeitet, über den sind Götter und Menschen unwillig, denn er lebt auf Kosten anderer Menschen; er ist zu vergleichen mit den Drohnen, die das verzehren, was die fleißigen Bienen gesammelt haben; dagegen ist wer arbeitet den Göttern lieb. ‚Arbeit ist keine Schande, aber Nichtstun ist Schande‘ .... . Arbeit schafft Reichtum, und den Reichtum begleiten Würde und Ansehen.“ (Ricken 2015, S.22)
Das ist alles. Ricken zitiert diese Binsenwahrheit ohne weiterführende und tiefergehende Analyse. Dem Leser bleibt es überlassen, sich dabei „Aha!“ zu denken und nachdenklich mit dem Kopf zu nicken.

Zu Platon paraphrasiert Ricken u.a. folgende Bemerkungen zu den „Krankheiten der Seele“:
„Wer unter ihnen leidet, kann nichts richtig sehen noch hören und ist zu keiner vernünftigen Überlegung fähig. Platon verweist auf die körperliche Ursache. ‚Wem sich um sein Mark herum in Menge flüssiger Samen bildet, wie wenn ein Baum über das Maß Früchte hervorbringt, der bekommt in seinen Begierden und in den Folgen, die sich aus ihnen ergeben, viele und jeweils heftige Schmerzen, aber auch heftige Lustempfindungen‘ ... .“ (Ricken 2015, S.17f.)
Diese ‚Einsichten‘ in die medizinischen Kenntnisse der Antike mögen den Leser vielleicht amüsieren, und er wird sich nun mit einem Lächeln den nächsten Anekdoten, von denen Ricken zu berichten weiß, zuwenden. Aber was trägt das alles bitteschön zu unserem Wissen über das Menschenbild der Antike bei?

Noch ein letztes Beispiel. Die Weisheiten des Aristoteles, was die Freundschaft betrifft, verdichtet Ricken zu folgender Nullaussage: „Das Gute ist für den Guten von Natur aus als Freund wählenswert; was von Natur aus gut ist, ist für den Guten als solches gut und angenehm.“ (Ricken 2015, S.29) – Mehr Tautologie geht nicht! Der Informationswert dieser Sätze grenzt an Dadaismus.

Es gibt tatsächlich zwei bis drei Stellen, die etwas mehr bringen, als der Rest des Beitrags. So bestimmt Ricken den Begriff der Gerechtigkeit als ein Selbst- und Weltverhältnis des Menschen und kommt damit dicht an den Bereich heran, den man als ernstzunehmende Anthropologie bezeichnen könnte. Ricken bestimmt anhand von Platons Dialog „Der Staat“ den Begriff der Gerechtigkeit anhand dessen, was Ungerechtigkeit ist:
„Sie“ – also die Ungerechtigkeit – „macht die Gemeinschaft, in der sie sich findet, sei es ein Heer oder ein Staat, erstens ‚unfähig als Ganzes zu handeln wegen der Zwietracht und Uneinigkeit‘, und zweitens ‚verfeindet (sie) mit sich selbst, mit allem Entgegengesetzten und so auch mit dem Gerechten‘ ... .“ (Ricken 2015, S.25)
Diese Auswirkungen der Ungerechtigkeit gehören Ricken zufolge zu ihrem „Wesen“ (vgl. ebenda), und er ergänzt:
„Wie die Ungerechtigkeit, so ist auch die Gerechtigkeit ein Verhältnis des Menschen nicht nur zum anderen, sondern auch zu sich selbst; vor dem äußeren betrifft sie sein inneres Wirken.“ (/Ricken 2015, S.26)
Das ist durchaus interessant. Aber das ist auch schon alles. Wir erfahren lediglich, was das ‚Wesen‘ der Gerechtigkeit ist. An dieser Stelle hätte sich eine weitere Diskussion anschließen müssen, ob das ‚Wesen‘ der Gerechtigkeit überhaupt und wenn, wie genau das ‚Wesen‘ des Menschen ‚betrifft‘. Diese Diskussion wird uns vom Autor vorenthalten.

So verfährt Ricken auch beim Begriff der Freundschaft. Wir erfahren vieles darüber, was Aristoteles zum ‚Wesen‘ der Freundschaft zu sagen weiß. Vieles davon mündet wiederum in die bereits erwähnten Plattitüden. Aber auch hier erfahren wir noch etwas Interessantes; auch die Freundschaft bildet für Aristoteles wie die Gerechtigkeit für Platon ein Selbst- und Weltverhältnis:
„Die Merkmale der Freundschaft sind aus dem Verhältnis des Menschen zu sich selbst abgeleitet; nur die Guten können im vollen Sinn Freunde sein, und der Gute lebt in Freundschaft mit sich selbst.“ (Ricken 2015, S.28)
Darüberhinaus erfahren wir, daß Aristoteles den Begriff der Freundschaft für fundamentaler hält als den Begriff der Gerechtigkeit:
„Wenn Menschen Freunde sind, bedarf es nicht der Gerechtigkeit; hingegen bedarf es, wenn sie gerecht sind, zusätzlich der Freundschaft ...“ (Zitiert nach Ricken 2015, S.26; eine aufgeschlüsselte Quellenangabe fehlt.)
Hier wäre eine eingehenderende Diskussion des Verhältnisses von Gerechtigkeit und Freundschaft mit den entsprechenden Implikationen für das Menschenbild der Antike wünschenswert gewesen. Aber es fehlt jeder Verweis auf die Humanitas, die hier eigentlich nahegelegen hätte. Stattdessen bleibt es wie schon beim Begriff der Gerechtigkeit dabei, daß wir Vieles über das ‚Wesen‘ der Freundschaft und des ‚Guten‘ erfahren, aber wenig bis nichts über das ‚Wesen‘ des Menschen.

Bei all dem ist der Begriff des ‚Wesens‘ durchaus immer in Anführungszeichen zu setzen, und das nicht nur aus heutiger Sicht, sondern gerade auch aus Sicht der Antike selbst. Der eingangs angesprochene Begriff der Sterblichkeit stellt jeden Wesensbegriff in Frage und widersteht auch selbst jedem Versuch, ihn auf ein definierbares ‚Wesen‘ einzudampfen. Der zitierte Vers von Epicharm über die Sterblichkeit versetzt den Menschen nicht weniger in ein Selbst- und Weltverhältnis als die Begriffe der Gerechtigkeit und der Freundschaft. Hans Blumenberg (1920–1996) verweist in „Höhlenausgänge“ (1989) auf die begrenzte Lebenszeit des Menschen, für den ein überzeitlicher Wahrheitsbegriff nicht erlebbar und deshalb auch nicht lebbar ist. Der Begriff der Sterblichkeit eröffnet keinen Ausblick auf ein Wesen des Menschen, auch deshalb nicht, weil die Sterblichkeit selbst keine Wesensdefinition, auch nicht im Sinne der Heideggerschen Eigentlichkeit, ermöglicht.

Diese Einsicht findet sich auch bei Pindar (um 522 oder 518 bis 446 v.Chr.) wieder, und Ricken faßt sie mit folgenden Worten zusammen:
„Die Frage, was jemand ist, d.h. die Frage nach seinem Wesen, kann nicht beantwortet werden. Sie ist sinnlos, denn dieser Jemand hat kein Wesen; er ist das, was der Gott ihm jeweils zuschickt, und das unterscheidet sich wie ein Tag vom anderen.“ (Ricken 2015, S.13f.)
Das ist eine bemerkenswerte anthropologische Einsicht, auf die Ricken in der Folge nicht mehr zurückkommen wird.

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