„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Donnerstag, 4. August 2016

Richard Breun, Scham und Würde. Über die symbolische Prägnanz des Menschen, München 2014

(Verlag Karl Alber, kartoniert, 232 S., 29,-- €)

1. Das System als Verdopplung des Lebens
2. Befreiung vom Sinnlichen
3. Entwicklungslogik
4. Doppelaspektivität und Aspektverlust
5. Dualer Modus und Gruppendynamik

Ich bin schon in meinem Post vom 03.07.2016 auf Wittgensteins Begriff des „Aspektsehens“ eingegangen. Dem Aspektsehen korrespondiert bei Wittgenstein der Begriff der „Aspektblindheit“. Am Beispiel eines Kippbildes wie dem Hasen-Enten-Kopf, der je nach Blickwinkel mal als das nach rechts oben schauende Profil eines Hasenkopfes oder als das nach links gerichtete Profil eines Entenkopfes erscheint, aber niemals als beides gleichzeitig, kam Wittgenstein zu der Einsicht, daß die Vorstellung, Wörter – und nicht nur Wörter, sondern auch Empfindungen – könnten nur eine einzige Bedeutung haben, falsch ist. Menschen, die nicht dazu in der Lage sind, vom einen zum anderen Aspekt zu wechseln, bezeichnet Wittgenstein als aspektblind.

Das Problem bei den Kippbildern ist, daß sie immer nur aus zwei Aspekten bestehen können und daß diese Aspekte sich nicht in einem neuen Bild überlagern können. So kann sich aus einem H-E-Kopf kein Hasen-Enten-Hybrid ergeben. Genau das leisten aber Metaphern. In Metaphern überlagern sich verschiedene Bilder zu einem einheitlichen neuen Bild mit einer neuen Bedeutung. Daß wir dazu fähig sind, mehrere Bilder zu überlagern, ist in dem begründet, was Plessner „Doppelaspektivität“ nennt. Das exzentrisch positionierte Subjekt ist dazu in der Lage, seine eigene Position zur Welt und zu sich selbst in ein Verhältnis zu setzen. Es blickt gleichzeitig nach innen und nach außen. Keines der beiden Aspekte geht verloren, wie es beim Kippbild der Fall ist. Das Aspektsehen im Wittgensteinschen Sinne geht immer mit einem momentanen Aspektverlust einher: ein Aspekt verdrängt den anderen.

Auch bei Richard Breun entspricht die antinomische Struktur von Scham und Würde, von Leben und Tod einem „Kipp- oder Vexierbild“: „Die Verschränkung, deren tiefster Grund hier, in der absoluten Kluft, im Abgrund zwischen Leben und Tod, erreicht wird, organisiert alle Dimensionen der menschlichen Lebendigkeit hiatusgesetzlich ...“ (Breun 2014, S.153) Allerdings beschreibt Breun das „Kippbild“ als eine Verschränkung von „Figur“ und „Grund“. (Vgl. ebenda) Aber von einer Figur-Grund-Relation, die das freie Fokussieren verschiedener Aspekte vor einem Bildhintergrund voraussetzt, kann bei einem Kippbild, wo sich die Aspekte gegenseitig verdrängen,  keineswegs die Rede sein. Wenn Breun diese Relation dennoch für die Verschränkung von Leben und Tod in Anspruch nimmt, dann deshalb, weil er den Tod als Negativfolie des Lebens versteht, wie im Folgenden noch zu zeigen sein wird.

Während an anderer Stelle immer wieder von der „Verschmelzung des Einen mit dem Anderen“, von Sinnlichkeit (Außen) und Sinnerleben (Innen) die Rede ist (vgl. Breun 2014, S.62 u.ö.) und auch der Begriff der Verschränkung synonym zum Begriff der Verschmelzung gebraucht wird, woraus sich im Cassirerschen Sinne eine hermeneutische Dialektik der symbolischen Formen ergibt, haben wir es beim Kippbild mit einer anderen Form der Differenz zu tun, die eine solche Verschmelzung nicht zuläßt. Breun nimmt beide Formen für Plessners „Hiatusgesetzlichkeit“ in Anspruch.

Diese beiden Formen der Differenz sind aber durchaus nicht gleichartig. Nehmen wir noch einmal die Verschmelzung bzw. Verschränkung von Sinnlichkeit und Sinngebung, von Materie und Form. Sie bildet im Sinne des Kantischen „synthetische(n) Urteil(s) a priori“ eine ursprüngliche Synthesis, die jedem körperleiblichen Hiatus, aus dem ein Selbstbewußtsein allererst hervorgeht, vorausliegt. (Vgl. Breun 2014, S.75) Bei dieser ursprünglichen Synthesis haben wir es mit der Gestaltwahrnehmung zu tun, mit deren Hilfe wir die Mannigfaltigkeit von (materiellen) Reizen immer schon, unterhalb des Bewußtseins, zu individuellen Gestalten zusammenfassen. Daß wir bei dieser Gestaltwahrnehmung analytisch zwischen ‚hyle‘ und ‚morphé‘ unterscheiden, bedeutet noch lange nicht, daß wir es hier mit einem Hiatus zu tun haben.

Die zweite Differenz zwischen den beiden Aspekten eines Kippbildes scheint schon eher auf einen Hiatus ähnlich dem zwischen uns und unserem Körper und zwischen Mensch und Welt hinzuweisen. Aber aus ihr ergibt sich keine exzentrische Position. Statt zu einer Doppelaspektivität führt sie zum Aspektverlust. Wir können immer nur einen Aspekt fokussieren. Beide Aspekte können sich nicht überlagern. Der eine Aspekt kann nicht zum Hintergrund des anderen, in den Vordergrund tretenden Aspektes werden.

Wenn wir Bilder betrachten, können wir beliebig verschiedene Details des Bildes fokussieren, ohne daß wir dabei den Zusammenhang mit dem Rest des Bildes aus dem Blick verlieren. Das Ganze des Bildes fungiert als Hintergrund für das jeweilige Detail, das wir gerade fokussieren. Auch das ist Gestaltwahrnehmung. Allerdings beruht sie auf der Fähigkeit unseres Bewußtseins, die verschiedenen Aspekte unserer Wahrnehmung zu individualisieren. So gehen sie uns nicht verloren, wenn wir andere Aspekte fokussieren. Plessner unterscheidet diese spezifisch menschliche Wahrnehmung von der komplexqualitativen Wahrnehmung von Tieren. (Vgl. „Stufen des Organischen“ (1975/1928), S.263f.) So beschreibt er z.B., wie Schimpansen nicht in der Lage sind, eine an der Wand stehende Kiste als individuellen, von der Wand unabhängigen Gegenstand zu erkennen, über den sie genauso verfügen können wie über andere, frei im Raum stehende Kisten. Die Kiste ist in der Wahrnehmung des Schimpansen mit dem Hintergrund der Wand ‚komplexqualitativ‘ verschmolzen. Man könnte hier von einem ‚Aspektverlust‘ sprechen, weil die freie Beweglichkeit der Kiste aus dem Blick gerät.

Beide Versionen einer möglichen Hiatusgesetzlichkeit, die Differenz in der Verschmelzung und der Aspektverlust, deuten also meiner Ansicht nach nicht auf einen Hiatus hin, sondern sie bilden Momente von unbewußt bleibenden, primär physiologischen Prozessen. Einen Aspektverlust im Sinne der gerade beschriebenen zweiten Form der Differenz beschreibt Breun auch beim Schamerlebnis. Im Schamerlebnis geht uns unsere Kontrolle und sogar unser Selbst verloren. Wir werden auf die reine, nackte Körperlichkeit reduziert:
„Und so ist es in der Tat: die akute Scham ist eine anschauliche, sinnlich wahrnehmbare Reduktion des Leibes bzw. Selbst auf den Körper als Ding, dem keinerlei leiblich ausgedrückte Bedeutung mehr zu eigen scheint, und zwar dann, wenn das Selbst sich vernichtet sieht oder wähnt ...“ (Breun 2014, S.115)
Die Möglichkeit der Scham besteht Breun zufolge in der „antinomische(n) Struktur der menschlichen Lebendigkeit“, die mit der „Differenzierung von Körper und Leib“ einhergeht. (Vgl. Breun 2014, S.42) Insofern haben wir es hier tatsächlich mit einer engen Verbindung des Schamausdrucks mit dem Hiatus zwischen Leib und Körper, zwischen Mensch und Welt zu tun. Im Schamausdruck ist der Körperleib im eigentlichen Sinne des Wortes ‚entleibt‘ (vgl. Breun 2014, S.148f.); er erleidet also einen Aspektverlust. Alle derartigen Aspektverluste gehen mit der antinomischen Struktur der menschlichen Verfassung einher, zu der Breun folgende Polaritäten aufzählt: „Macht-Ohnmacht, Selbst-Anderer, Individuelles-Allgemeines, Befreiung-Verpflichtung, Selbstfindung-Entfremdung“. (Vgl. Breun 2014, S.180) Im Schamerleben geht dem ‚Scham-Subjekt‘ immer einer der beiden Aspekt-Pole verloren: die Macht über sich und die Situation; das Selbst angesichts des überwältigenden Anderen; das Individuelle verliert sich im Allgemeinen; es fühlt sich einer heteronomen Verpflichtung ausgeliefert und es erfährt sich als radikal fremdbestimmt und von sich entfremdet.

Zugleich aber passiert etwas anderes: aus der in der Scham erlittenen „Nichtigkeit und Bodenlosigkeit der menschlichen Position“ erwächst eine neue „Gestaltungsfreiheit“. (Vgl. Breun 2014, S.180) Im tiefsten Gefühl der Verlorenheit und Nichtigkeit gibt es einen „Umschlagspunkt“, der wiederum zwei Möglichkeiten beinhaltet: die völlige Selbstvernichtung bis hin zum Selbstmord oder die innere Revolte und Auflehnung, die zu der erwähnten neuen Gestaltungsfreiheit führt. (Vgl. Breun 2014, S.144) Dieser Umschlagspunkt scheint mir der Grund zu sein, warum Breun auf das „Vexier- und Kippbild“ verweist (vgl. Breun 2014, S.108 und S.141). Auch das Schamerlebnis besteht aus einem Entweder-oder: entweder Tod oder Leben, entweder Vernichtung oder Befreiung. Nur einer der beiden Aspekte kann ergriffen werden. In der Scham gibt es keine Aspektüberlagerung:
„In diesem Magnetfeld hin- und hergerissen, ist sich der individuelle Mensch seiner selbst im Letzten nicht sicher: er hat keinen festen Boden unter den Füßen.“ (Breun 2014, S.40)
Dennoch kommt zum Schamausdruck noch etwas anderes hinzu: die schon erwähnte negative Figur-Grund-Relation. Der Schamausdruck selbst wird zum Hintergrund dessen, was in ihm fehlt: der Würde. Der Schamausdruck fungiert als Negativfolie. Breun bringt das Beispiel des Phantomglieds, wie es die Betroffenen nach der Amputation eines Körperglieds immer wieder erleben:
„... das tatsächliche Erleben beider Realitäten beleuchtet die Möglichkeiten, die sich aus der Kluft zwischen Leib und Körper, Selbst und Welt, die zugleich eine synthetische Einheit bilden, notwendig ergeben. An der Stelle des körperlich Fehlenden macht sich das ihm entsprechende leibliche ‚Äquivalent‘ geltend. Umgekehrt aber, einem Kipp- oder Vexierbild gleich, verhält es sich genauso: an die Stelle dessen, was leiblich fehlt, drängt sich das körperliche Äquivalent nach vorne. So werden Mängel des leiblichen Erlebens, d.h. dessen, was den fungierenden Leib in seiner Spontaneität auszeichnet und ihn zum Selbst macht – das ja eben nicht bloß körperlich, als factum brutum, existiert –, durch körperliche ‚Ersatz‘-Leistungen zu kompensieren versucht, in welchen zwar der Leib fungiert, so aber, dass, etwa in asketischen Übungen, der Körper sich geradezu in den Vordergrund spielt statt die unreflektierte Bindung an ihn zu lockern oder aufzulösen ...“ (Breun 2014, S.141)
Wir haben es also beim Phantomglied wie bei allen Gestaltwahrnehmungen mit einem Vordergrund- und einem Hintergrundphänomen zu tun. Aber anstatt sich zu überlagern, kämpfen zwei sich widersprechende Aspekte bzw. Realitäten gegeneinander um die Vorherrschaft in der Wahrnehmung. Diese Art des Widerstreits kennen wir vom Kippbild nicht. Hasenkopf und Entenkopf kämpfen nicht gegeneinander. Sie verdrängen sich nur gegenseitig, je nach dem welchen Aspekt wir gerade fokussieren. Wir können zwar nicht beide Aspekte zu einem neuen Bild überlagern und zusammenfügen, aber wir haben durchaus die Kontrolle über den jeweiligen Aspektwechsel.

Beim Phantomglied haben wir nicht die Kontrolle darüber. Hier sind es die Aspekte selbst, die einander bekämpfen. So auch beim Schamausdruck. Der Kampf ist allerdings schon entschieden und das Selbst ist vernichtet. Jetzt aber wird die Scham zur Negativfolie des Vernichteten und erzwingt einen Aspektwechsel zur im Schamausdruck fehlenden Würde. Breun beschreibt diesen Zwang, den wir angesichts eines Leichnams empfinden:
„Die bloße Sinnenhaftigkeit in der Erscheinung des toten Menschen zwingt dem Anblickenden doch eine Sinngebung auf; der Leichnam ist symbolisch prägnant: er zeigt im toten Körper die Würde des individuellen Selbst überhaupt. ... Die Reduktion auf den nicht mehr fungierenden und aktivierbaren Stoff macht anschaulich, was mit dem Wort von der Würde gemeint ist: das leiblich von Anfang an auf den Anderen angewiesene Bemühen um eine Vollständigkeit in und trotz der Gebrochenheit, eine vollkommene Ganzheit, die von der synthetischen Einheit des Körperleibs nahegelegt und zugleich unmöglich gemacht wird ...“ (Breun 2014, S.170)
Ganz ähnlich verweist die äußerste Reduktion der Person im Schamausdruck auf die Würde, die ihr fehlt:
In der symbolischen Prägnanz der Schamröte stellt sich der Körperleib in seiner Verschränktheit eigens bildhaft dar, weil hier der Körper mit seinen unwillkürlichen Zeichen den Leib und dessen Schema der Willkür verdrängt und ersetzt, damit aber auch auf ihn und seine Bedeutung aufmerksam macht. Mit dieser Möglichkeit erhält zugleich das artikulierte Sinngefüge von (a) zu verdeckender Nichtigkeit und (b) hervorzuhebender Bedeutung des Selbst Konturen.“ (Breun 2014, S.150)
Ich stimme mit Breun darin überein, daß die Scham mehr ist als bloß eine physiologische Reaktion, wie sie Plessner im Unterschied zu  Lachen und Weinen beschreibt. (Vgl. Breun 2014, S.147f.) Es ist sicher auch naheliegend, den Schamausdruck als Hinweis auf eine ursprüngliche Verschmelzung von organischer Materie und symbolischer Form zu verstehen. Schließlich ist es genau das, was wir immer schon tun, wenn wir sprechen und dabei analogisch bzw. metaphorisch Aspekte überlagen. Eine ähnliche Überlagerung findet auch im Schamausdruck statt:
„Schon das Phänomen (des Schamausdrucks – DZ) in seiner Anschaulichkeit selbst zeigt, dass beide einseitig fundamentalisierten Zugänge (nämlich entweder Körper oder Geist – DZ) hier nicht möglich sind: ein körperlicher Vorgang und, etwa in der moralischen Scham, ein geistiges bzw. kognitives Motiv verbinden sich so, dass die Erscheinung des Schamausdrucks möglich wird. Ohne eine vorgängige ursprünglich-synthetische Einheit ist diese dualistisch-unbegriffliche Verbindung weder vollziehbar noch nachvollziehbar.“ (Breun 2014, S.26f.)
Die Frage ist für mich aber, ob sich daraus eine „Hiatusgesetzlichkeit“ im Sinne einer dialektischen Hermeneutik ergibt, in der die Scham den Ausgangspunkt einer Fluchtbewegung von der Sinnlichkeit weg hin zu einer religiös überhöhten Reinheit symbolischer Formen bildet. In dieser Fluchtbewegung erscheinen die mystischen Formen der „Erleuchtung“ (vgl. Breun 2014, S.95 und S.171) als eine spirituelle Vermeidungsform von „Schamanlässen“, ähnlich jenen „Praktiken“, wie sie Breun in unserem alltäglichen Umgang beobachtet. (Vgl. Breun 2014, S.82). So schreibt z.B. der Physiker Lee Smolin, daß sich viele junge Menschen der Physik zuwenden, weil sie die menschliche Welt als „hässlich und unwirtlich“ empfinden und sie gegen eine  Welt der „reinen, zeitlosen Wahrheit“ eintauschen wollen. (Vgl. „Im Universum der Zeit (2014/2013), S.12; vgl. auch meinen Post vom 15.10.2014)

Dazu fällt mir das Bild des lachenden Buddhas ein. Möglicherweise lacht er über uns und unsere Scham. Vielleicht sollten auch wir lachen. Denn ein Aspekt des Lachens besteht Plessner zufolge darin, uns aus unangenehmen Situationen, wie etwa einer Beschämung, zu befreien.

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