„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Mittwoch, 3. August 2016

Richard Breun, Scham und Würde. Über die symbolische Prägnanz des Menschen, München 2014

(Verlag Karl Alber, kartoniert, 232 S., 29,-- €)

1. Das System als Verdopplung des Lebens
2. Befreiung vom Sinnlichen
3. Entwicklungslogik
4. Doppelaspektivität und Aspektverlust
5. Dualer Modus und Gruppendynamik

Ich hatte schon bei meiner Lektüre von Plessner vor gut sechs Jahren meine Schwierigkeiten mit dem Begriff der Prägnanz gehabt. Mit den Definitionen, die ich in den verschiedenen Lexika vorfand, hatte ich nicht viel anfangen können. Richard Breun verbindet den Begriff mit Kants synthetischem Urteil a priori: „Cassirer bezeichnet diesen Vorgang (des synthetischen Urteils – DZ) als symbolische Prägnanz ...“ (Breun 2014, S.75) – Wenn ich diese Definition auf die ursprüngliche Synthesis der Wahrnehmung beziehe (vgl. Breun 2014, S.26f.), die immer Gestaltwahrnehmung ist, also die verschiedenen Sinnesleistungen sowohl auf der Ebene der einzelnen Sinne selbst wie auch als Ganzes in je individuellen Gestalten zusammenfaßt, dann besteht die Leistung der Prägnanz darin, diesen Wahrnehmungserlebnissen Sinn bzw. eine symbolische Form zu verleihen.

Von der Etymologie des Wortes her sind alle körperleiblich bzw. sinnlich vermittelten Wahrnehmungserlebnisse prägnant, insofern aus Dingen sowie aus körperlichen Organen und physiologischen Prozessen Sinn entspringt wie das Kind dem Schoß der Mutter. Cassirers Begriff der symbolischen Prägnanz verbindet Wahrnehmungsakte, also Sinnlichkeit, mit Denkakten, also mit Sinngebung. Im Grunde bilden die symbolischen Stufen von der Mimesis über die Analogie bis zu den reinen Formen der Mathematik, des Monotheismus und der Kunst zugleich auch Stufen der Wahrnehmung:
„Cassirer hatte, an Erkenntnisse der Gestaltpsychologie anknüpfend, dieses Verhältnis (der symbolischen Prägnanz – DZ) zwar in der Analyse des Wahrnehmungsaktes gefunden. Jedoch gelten die Kriterien der symbolischen Prägnanz auch für die Akte des Denkens und begrifflichen Bestimmens, wie überhaupt für jede symbolische Form. Denn alle haben es mit Gestalten und der Auffassung zu tun. Deshalb trägt auch jede symbolische Form ... zum Akt des Gestaltens und, sofern ihr das gelingt, gleichzeitig zu steigender Bewusstheit des Lebens- und Selbstgestaltungsprozesses bei.“ (Breun 2014, S.104)
Cassirer entnimmt also der Gestaltwahrnehmung eine Entwicklungslogik, eine Dialektik, auf die ich schon im vorangegangen Post eingegangen bin:
„So lässt sich also auch unter dem Aspekt des Bewusstseinslebens, in welchem ‚Natur‘ und ‚Kultur‘ in der Tätigkeit des Symbolisierens hermeneutisch-zirkulär aufeinander bezogen bleiben, eine gewisse Entwicklungslogik beschreiben ... Von der natürlichen Symbolik über die künstliche Symbolik führt der Weg zur vollen Bewusstheit der Symbolverwendung und zur möglichen ‚Selbsterkenntnis‘().“ (Breun 2104, S.101)
Das menschliche Bewußtsein geht demnach aus einer biologischen Kontinuität hervor, nicht aus einem Hiatus. Damit gibt es aber keine logische Differenz zwischen der biologischen und der kulturellen Entwicklungslinie. Die Möglichkeit einer solchen Kontinuität beruht darauf, daß schon der Wahrnehmungsprozeß selbst, eben als Gestaltwahrnehmung, in sich selbst gegliedert ist und „eine Art von geistiger ‚Artikulation‘“ aufweist. (Vgl. Breun 2014, S.29) Darauf möchte ich an dieser Stelle detaillierter eingehen.

Breun zählt fünf Merkmale auf, die symbolische Prägnanz, also Gestaltwahrnehmung, ermöglichen. (Vgl. Breun 2014, S.91) Die Wahrnehmung bildet zunächst ein sinnliches Erlebnis, dem ein „nicht-anschauliche(r) Sinn“ entspricht. Die Nicht-Anschaulichkeit dieses Sinns besteht, wenn ich das richtig verstehe, darin, daß er ‚symbolischer‘ bzw. ‚geistiger‘ Art ist, die mit der unmittelbar sinnlichen Anschauung einher- bzw. aus ihr hervorgeht. Das ursprüngliche Wahrnehmungserlebnis ist also schon in sich gespalten bzw. ‚differenziert‘ in ein sinnliches und in ein nicht-sinnliches Moment. Schon an dieser Stelle ist bei Cassirer von einem „dialektisch auszutragenden Grundkonflikt“ die Rede, der „in der ‚Sphäre des Lebens‘() selbst“ angelegt ist. (Vgl. Breun 2014, S.108) An anderer Stelle spricht Breun vom „lebendigen Vollzug der Synthesis“ als einer „ursprünglichen Imitation, die bereits den Bruch anzeigt, da sie ja nichts völlig Identisches erzeugt“. (Vgl. Breun 2014, S.98)

Das menschliche Bewußtsein „schält“ sich also allmählich und kontinuierlich als „entwickeltes Selbstbewusstsein“ aus der „ursprünglichen Artikuliertheit“ des Lebens heraus (Vgl. Breun 2014, S.109), wobei mit „Artikuliertheit“ gleichermaßen die Differenz zwischen sinnlich-anschaulichem und nicht-anschaulichem Sinn des Wahrnehmungsaktes wie auch dessen gegliederte Sinnesstruktur gemeint ist, in der der nicht-anschauliche Sinn unmittelbar zur „konkreten Darstellung“ kommt (vgl. Breun 2014, S.91). In dieser sinnlichen Ausdifferenzierung von Gegenstandssinnen, zu denen Plessner vor allem das Gehör und das Gesicht zählt, und von Zustandssinnen, zu denen Plessner Geschmack und Geruch sowie den ganzen Bereich der Physiologie zählt, ist das „größere() Gefüge, ein Ganzes“ der Sinngebung vorgeprägt. (Vgl. Breun 2014, S.92) Bei diesem größeren „Gefüge“ könnte man mit Plessner an den Körperleib und mit Cassirer an die Mitwelt denken. Breun geht an dieser Stelle nicht genauer darauf ein.

Der Nullpunkt dieses Entwicklungsprozesses vom Wahrnehmungsakt zum Selbstbewußtsein besteht in der Vorstellung von der „unmittelbaren sinnlichen Wahrnehmung eines Gegebenen“. (Vgl. Breun 2014, S.92) Eine solche Wahrnehmung wäre selbst sinnfrei bzw. gestaltlos. Sie wäre keine Gestaltwahrnehmung mehr. Cassirer wendet sich gegen so eine Vorstellung. Wie schon erwähnt, geht er davon aus, daß alles „vermeintlich Gegebene immer schon () symbolisch vermittelt“ ist. (Vgl. Breun 2014, S.92) Damit geht aber ein reflexives Moment des Wahrnehmungserlebnisses verloren, das meiner Ansicht nach dem eigentlichen Hiatuserlebnis viel eher entspricht als die bloße, dialektisch vermittelbare Differenz zwischen Sinnlichem und Sinngebung im Sinne einer artikulierten bzw gegliederten Sinnesstruktur. Bei diesem reflexiven Moment handelt es sich um das Bewußtsein einer unvermittelt vorausgesetzten Wirklichkeit wie sie Franz Fischer (1929-1970) beschrieben hat.

In seinem posthum erschienenen Buch „Darstellung der Bildungskategorien im System der Wissenschaften“ (1975) liegt die unvermittelt vorausgesetzte Wirklichkeit allen Wahrnehmungs- und Sinngebungsprozessen voraus und bildet das ethische Movens unseres Denkens und Handelns. Dabei ist die unmittelbar vorausgesetzte Wirklichkeit geradezu als das Realitätsprinzip der Wahrnehmung zu verstehen, das den konkreten Wahrnehmungsakt vom Traum unterscheidet. Sollten wir tatsächlich gerade träumen, so wird uns der Kontakt mit der Wirklichkeit unverzüglich aufwecken. Er wird uns zur Bewußtheit bringen.

Genauso habe ich auch immer das Hiatuserlebnis verstanden, wie es Plessner beschreibt. Indem wir beim Versuch der Befriedigung unserer Bedürfnisse nicht unmittelbar zum Ziel kommen, indem sich also unser Intentionsstrahl an der Wirklichkeit bricht, werden wir uns unserer selbst bzw. unseres Selbst bewußt. Dabei beschreibt Plessner die Brechung dieses Strahls nicht einfach nur als ‚Störung‘, sondern im Gegenteil als Realisierung bzw. Verwirklichung unserer spezifisch menschlichen Intentionalität:
„Die Einheit der Intention hält sich nur in der Zersplitterung in verschiedene Idiome. Und man darf den Satz wagen, daß alles Suchen nach einer Ursprache nicht nur aus empirischen Gründen zur Erfolglosigkeit verurteilt ist. Es beweist Unkenntnis des Gesetzes der Konkretion und Objektivierung des Geistes, welche erst dann die über alle beschränkende Form hinausliegende Intention durchsetzt, wenn ihr durch den Prozeß der Objektivierung eine Form (und zwar eine an sich nicht notwendige) ‚zufällt‘. Realisierung und Erfüllung einer Intention heißt Brechung ihres Strahls in einem ihr fremden Medium.“ („Stufen des Organischen“ (1975/1928), S.340)
Eine Intentionalität, der die Form ihrer Objektivierung durch die „Brechung ihres Strahls in einem ihr fremden Medium“ zufällt, ist nicht von vornherein und immer schon in symbolischen Vermittlungen ‚aufgehoben‘ bzw. ‚aufgelöst‘. Nicht einmal die Sprache selbst ergibt sich aus einer solchen vorgängigen symbolischen Vermittlung, sondern aus einer idiomatischen „Zersplitterung“. Wir können darüber spekulieren, ob Plessner mit dem „fremden Medium“ an dieser Stelle die „Mitwelt“ meint oder die „unvermittelt vorausgesetzte Wirklichkeit“, von der Franz Fischer spricht. In dem Moment, wo das Individuum aufgrund der sich versagenden Erfüllung in Handlung oder Sprache aus aller Vermittlung heraus fällt, werden ihm physische und soziale Realität gleichermaßen fremd.

Möglicherweise ist die symbolische Form in den biologischen Prozessen schon vorgeprägt. Ich teile diesen Gedanken durchaus. Was ich aber nicht teile, ist die Vorstellung, daß auch das menschliche Bewußtsein allererst durch biologische Prozesse ermöglicht wird. Denn auch die symbolischen Formen wirken sich als Lebenswelt in Praktiken und Gewohnheiten auf einer vorbewußten Ebene aus und bedürfen dazu keiner bewußten Reflexivität. Zum Bewußtsein unserer selbst bedarf es vielmehr eines besonderen Moments der Versagung und des Scheiterns, der uns auf uns selbst und auf unsere Körperleiblichkeit zurückwirft.

Dieser Moment ereignet sich jederzeit, unabhängig und außerhalb von Entwicklungsprozessen. Und er ist auch nicht Teil einer Dialektik. Die ihm entsprechende Bewußtseinshaltung ist die Achtsamkeit. Dieser dem asiatischen Kulturkreis entstammende Begriff entspricht mehr oder weniger unserem Gewissen. Auch beim Gewissen gibt es keine Steigerungsform. Eine Gewissensprüfung ist keine Sache der Mathematik, des bilderfeindlichen Monotheismus oder der abstrakten Kunst.

Die beiden Pole des Schamausdrucks und der reinen Formen bilden keine Stufen, sondern spiegelbildliche Verlustformen, wie ich sie im vorangegangenen Post als „Entkörperung“ und als „Entleiblichung“ diskutiert habe. Und unsere analogische Expressivität bildet dementsprechend auch keine zu überwindende Übergangsstufe, sondern die Fülle unserer Menschlichkeit. Auf den Aspektverlust werde ich im nächsten Post noch einmal detaillierter eingehen.

Für jetzt bleibt festzuhalten, daß sich Selbstbewußtsein zwar symbolisch formt – darin liegt seine Expressivität begründet –, aber es steigert sich nicht mit Hilfe symbolischer Formen. Und was die von Breun angesprochene Erleuchtung betrifft (vgl. Breun 2015, S.95 und S.171), reicht dem Zen-Philosophen Keiji Nishitani zufolge sogar ein Niesen. (Vgl. „Was ist Religion?“ (2/1986), S.93ff.)

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