„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Montag, 18. Juli 2016

Hans Markus Heimann, Deutschland als multireligiöser Staat. Eine Herausforderung, Frankfurt a.M. 2016

(S. Fischer Verlag, gebunden, 249 S., 22,99 €)

1. Zusammenfassung
2. Schulaufsicht und Erziehungsauftrag
3. Staatliche Neutralität und Lebenswelt
4. ‚Blasphemie‘ und öffentlicher Friede

In gewisser Weise hat die grundgesetzlich festgelegte Neutralität des Staates etwas von der exzentrischen Positionalität des Menschen, wie sie Helmuth Plessner beschreibt und die eine psychophysische Neutralität auf der Grenze zwischen Innen und Außen ermöglicht: „... ortlos, im Nichts geht er (der Mensch – DZ) im Nichts auf, im raumzeithaften Nirgendwo-Nirgendwann“. (Vgl. „Stufen des Organischen“ 1928/1975, S.292) Die exzentrische Positionalität des Menschen bildet allerdings ein anthropologisches Prinzip und ist auf die ahistorische Dimension des Körperleibs bezogen. Die staatliche Neutralität hat hingegen ihre Historie:
„Die Verankerung der religiösen Neutralität des Staates in der Weimarer Reichsverfassung ist auch der konfessionellen Spaltung geschuldet, da bereits die bloße Existenz zweier großer Kirchen verhinderte, dass sich staatskirchliche Strukturen bis heute erhalten konnten.“ (Heimann 2016, S.26f.)
Das Verfassungsrecht kann, so Heimann, „seine Herkunft also nicht verleugnen“. (Vgl. Heimann 2016, S.201) Und das gilt nicht nur in historischer Hinsicht – zu der auch der dreißigjährige Krieg (1618-1648) gehört –, sondern das betrifft auch die Lebenswelt. Denn bei aller Zurückhaltung, die dem Staat gegenüber den Wertorientierungen seiner Bürger grundgesetzlich auferlegt ist, reichen lebensweltliche Reminiszenzen bis ins Grundgesetz und in die Urteile des Bundesverfassungsgerichts hinein. Man denke nur an die religiös begründeten Sonn- und Feiertagsregelungen.

Deshalb ist der Minderheitenschutz in einer Demokratie auch so fundamental. Gerade Mehrheiten sind besonders anfällig für lebensweltliche Voreingenommenheiten. Sie dürfen deshalb niemals herangezogen werden, um Beeinträchtigungen individueller Grundrechte zu rechtfertigen, wie es in Art.7Abs.4 des Bayerischen Gesetzes über das Erziehungs- und Unterrichtswesen geschieht, in dem der Gesetzgeber es letztlich von einer Mehrheitsentscheidung abhängig macht, ob in einem Schulzimmer das christliche Kreuz an der Wand hängen bleiben darf oder nicht. (Vgl. Heimann 2016, S.93f.) Heimanns Stellungnahme zu diesem Gesetzesartikel ist eindeutig: der Schutz von Grundrechten, so Heimann, darf niemals „Gegenstand einer Mehrheitsentscheidung sein“. (Vgl. Heimann 2016, S.94)

Es ist nicht so, daß Minderheiten vor solchen lebensweltlichen Einflüssen gefeit wären. Aber sie verfügen über eine andere Perspektive als die Mehrheit und decken so deren Befangenheiten und Vorurteile auf. Die kleinsten Minderheiten in einem Land bilden immer die Fremden. Und so kann z.B. nur ein Fremder überhaupt auf die Idee kommen, sich vom Anblick eines Folterinstruments samt Gemartertem, wie es das christliche Kreuz darstellt, beeinträchtigt zu fühlen.

Es ist in der abendländischen Kulturgeschichte und in der christlichen Theologie viel über das Kreuz nachgedacht und geschrieben worden. Die Auseinandersetzungen darüber, wie das christliche Kreuz zu verstehen ist, waren dabei oftmals von einem beeindruckenden intellektuellen Niveau getragen. Im dreißigjährigen Krieg sind zwei christliche Konfessionen mit aller unausdenklichen Brutalität übereinander hergefallen, weil sie die christliche Botschaft unter dem Zeichen des Kreuzes unterschiedlich ausgelegt haben. Aber bis zum Ende des 20. Jhdts. ist niemand auf die Idee gekommen, daß das Kreuz an den öffentlichen Wänden von Gerichten und Klassenzimmern nichts zu suchen habe. Die Unfähigkeit, auf diesen Gedanken zu kommen und ihn zu artikulieren, ist das, was Edmund Husserl die Lebenswelt nennt.

Jan Assmann bezeichnet die Lebenswelt als „unsichtbare Religion“. (Vgl. „Religion und kulturelles Gedächtnis“ 3/2007 (2000)), S.45-61) Damit stellt er zwei Ebenen auf plastische Weise in einen Zusammenhang: die Unbewußtheit lebensweltlicher Prozesse, die hinter unserem Rücken ablaufen und die wir deshalb nicht bewußt thematisieren und fokussieren können, und die quasi-religiöse Verwurzelung des Menschen in dieser Lebenswelt, die dessen exzentrische Positionalität unterläuft. Aufgrund dieser quasi-religiösen Verwurzelung reagieren Menschen besonders heftig und aggressiv auf die Infragestellung von Gewißheiten, deren sie sich bis zu diesem Zeitpunkt noch nicht einmal bewußt gewesen waren. Und diese Infragestellung kommt immer von in diesem Sinne ‚Fremden‘, die man dann glaubt ausgrenzen zu müssen, um die eigenen ‚Werte‘ vor ihnen zu schützen. Mit Bezug auf die neueren Religionskonflikte im Umfeld islamischer Einwanderer (und Christen) schreibt Heimann:
„Die Konfliktfälle finden wahrscheinlich auch deshalb verstärkte Aufmerksamkeit, weil in der Auseinandersetzung mit ihnen gewohnte Lebensweisen in Frage gestellt werden und auf diese Weise religionssoziologische und damit gesellschaftliche Veränderungen schlagartig deutlich werden.“ (Heimann 2016, S.91)
Es ist dieses ‚schlagartige‘ Herausfallen aus lebensweltlichen Gewißheiten, das die Konflikte so brisant macht. Und es ist genau diese bis auf den dreißigjährigen Krieg zurückreichende Erfahrung, die die staatliche Neutralität zu einer höchst aktuellen Grundlage des Zusammenlebens der Bürger in einem Land macht, das das Spannungsverhältnis von kultureller Einheit und Vielfalt in einer bislang nicht erlebten Kraftanstrengung in ein neues Gleichgewicht überführen muß.

Download

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen