„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Samstag, 16. Juli 2016

Hans Markus Heimann, Deutschland als multireligiöser Staat. Eine Herausforderung, Frankfurt a.M. 2016

(S. Fischer Verlag, gebunden, 249 S., 22,99 €)

1. Zusammenfassung
2. Schulaufsicht und Erziehungsauftrag
3. Staatliche Neutralität und Lebenswelt
4. ‚Blasphemie‘ und öffentlicher Friede

Durch die Lektüre des Buches „Deutschland als multireligiöser Staat“ (2016) von Hans Markus Heimann hat sich mir ein völlig neues Verständnis der deutschen Rechtsprechung erschlossen. Es war mir bislang nicht bewußt gewesen, auf welchem hohen Niveau im Bereich der Rechtssprechung in Deutschland über den Menschen und über das gedeihliche Zusammenleben in einer modernen offenen Gesellschaft nachgedacht und – im Falle der Gerichte – geurteilt wird. Zwar habe ich immer wieder und mit zunehmendem Respekt die Urteile des Verfassungsgerichts unter dem Vorsitz von Andreas Voßkuhle zur Kenntnis genommen, aber das Denken bzw. die „Dogmatik“, wie die Juristen den „rechtswissenschaftliche(n) Diskussionsstand“ nennen, aufgrund dessen bzw. aufgrund deren die Verfassungsrichter zu ihren Urteilen kommen (vgl. Heimann 2016, S.12), war mir bislang völlig unbekannt.

Dabei sollte sich jeder interessierte Bürger in Deutschland – und jeder Bürger sollte interessiert sein, da es hier um seine Grundrechte geht – einmal mit den Grundprinzipien dieser Dogmatik auseinandergesetzt haben. Dann würden viele leichtfertige Äußerungen gerade auch von Seiten der Politik zu angeblich notwendigen Grundgesetzänderungen unterbleiben. Denn alles das, was uns in dieser Hinsicht aufgrund tagesaktueller Ereignisse als wünschenswert erscheint – von der angeblichen ‚Überfremdung‘ deutscher Kultur durch einwandernde Flüchtlinge bis hin zu den immer mehr zur Normalität werdenden Terroranschlägen des ‚IS‘ und seiner Franchisenehmer –, stellt nicht etwa Anlässe zu einer angeblich notwendigen ‚Anpassung‘ des Grundgesetzes dar. Viel eher verdeutlichen diese Ereignisse ein ums andere Mal, wie sehr das Grundgesetz aus Erfahrungen mit genau den gesellschaftlichen Konflikten hervorgegangen ist – insbesondere Erfahrungen des dreißigjähirgen Krieges (1618-1648) und des dritten Reichs (1933-1945) –, mit denen wir es auch heute wieder und diesmal auf globaler Ebene zu tun haben.

Juristen wie Hans Markus Heimann muß es angesichts des alltäglichen öffentlichen Geredes über die Grund- und Menschenrechte ähnlich gehen wie vielen Erziehungswissenschaftlern, die sich anhören müssen, wie in Politik und im Feuilleton Begriffe wie ‚Erziehung‘ und ‚Bildung‘ ihres Sinns beraubt und zu Schlagworten im Rahmen kleinlicher Interessenskonflikte herabgewürdigt werden. Dabei zeigt wiederum gerade Heimann selbst, wie sehr er über den Tellerrand seines Fachs hinwegzublicken vermag. Seine Erörterungen zu den Möglichkeiten und Grenzen von Pädagogik im Bereich der ‚Wertevermittlung‘ bewegen sich auf höchstem erziehungswissenschaftlichem Niveau. Das zeigt sich insbesondere dort, wo Heimann den Begriff der ‚Wertevermittlung‘ in Frage stellt (vgl. Heimann 2016, S.176f.) und darauf insistiert, daß es im Schulunterricht vor allem auf die Förderung der „ethischen Urteilsfähigkeit und Kompetenz“ ankommt (vgl. Heimann 2016, S.172). Ein solches Differenzierungsvermögen ist heutzutage nicht einmal mehr in meiner eigenen Zunft, der Erziehungswissenschaft, so verbreitet, wie ich es mir wünschen würde.

Angesichts von Heimanns Reflexionsniveau verwundert vor allem der Titel des Buches, in dem vom ‚multireligiösen Staat‘ die Rede ist. Es ist aber wiederum Heimann selbst, der auf die Problematik dieser Formulierung hinweist. (Vgl. Heimann 2016, S.16ff.) Sie ist in gleich mehrfacher Hinsicht mißverständlich. Zunächst einmal könnte man aufgrund dieser Formulierung den Eindruck gewinnen, es handelte sich bei der Multireligiösität um ein „von lokalen Erfahrungen losgelöstes Idealmodell“. (Vgl. Heimann 2016, S.17) Tatsächlich aber geht es bei der durch das Grundgesetzt garantierten Religionsfreiheit nicht um eine allgemeine religiöse Befindlichkeit, sondern um konkrete Glaubensbekenntnisse. Der Staat ist auf „eindeutige() Ansprechpartner“ angewiesen, die „Bekenntnisinhalte“ vorgeben. (Vgl. Heimann 2016, S.199) Er selbst hat aufgrund seiner Neutralitätsverpflichtung keinerlei Berechtigung, irgendwelche Bekenntnisinhalte vorzugeben, als „Idealmodell“ zu verallgemeinern und als grundrechtskonform zu deklarieren.

Außerdem beschreibt der Begriff der Multireligiösität Heimann zufolge weniger den Staat als vielmehr die moderne Gesellschaft – und auch hier wiederum nur ungenau: denn diese Gesellschaft ist inzwischen zu einem großen Teil areligiös und nicht multireligiös. (Vgl. Heimann 2016, S.17) Wenn Heimann dennoch vom ‚multireligiösen‘ Staat spricht, so will er darauf hinaus, daß der Staat den grundgesetzlichen Auftrag hat, die Religionsfreiheit zu gewährleisten. Dabei soll der Begriff der Multireligösität auch den Begriff der Weltanschauung umfassen, also nicht nur Religionsfreiheit, sondern auch Weltanschauungsfreiheit gewährleisten, wobei der Begriff der Religiösität, so Heimann, in diesem begrifflichen Konstrukt noch einmal verdeutlicht, daß die eigentlichen Herausforderungen heutzutage nicht im Bereich der Weltanschauung, sondern im Bereich der Religion liegen. (Vgl. Heimann 2016, S.17f.)

Das alles erscheint mir aber als sehr umwegig argumentiert. Der Begriff des ‚multireligösen Staates‘ bringt so viele Schwierigkeiten und Mißverständnisse mit sich, daß man ihn besser gar nicht verwenden sollte. Für den modernen Grundrechtsstaat ist das Neutralitätsgebot wesentlich. Dieses beinhaltet die Trennung von Kirche und Staat:
„Diese Norm, die 1919 vor allem auf die Beendigung des landesherrlichen Kirchenregiments abzielte, ist bis heute für das staatliche Handeln von fundamentaler Bedeutung, da sich keine staatliche Stelle in irgendeiner Form mit Religion identifizieren oder gar selbst auf dem Feld der ‚Religion handeln darf. In Verbindung mit der negativen Religionsfreiheit des Einzelnen verbürgt der Trennungsgrundsatz den Anspruch, dass der deutsche Staat sich keine Religion zu eigen macht.“ (Heimann 2016, S.26)
Der Trennungsgrundsatz ist so weitreichend, daß der Staat den verschiedenen Religionen gegenüber nicht einmal ‚tolerant‘ sein darf. Auch so könnte man ja den Begriff der Multireligiösität mißverstehen. Toleranz beinhaltet, daß man durchaus einen eigenen Standpunkt hat, aber die anderen Standpunkte toleriert. Hätte man keinen eigenen Standpunkt, gäbe es auch nichts zu tolerieren:
„Der moderne Grundrechtsstaat ist in seinem Handeln auf dem Feld von Glauben und Religion nämlich gerade nicht tolerant. Der Anachronismus hat seinen Grund darin, dass Toleranz nach allgemeiner Auffassung eine Ablehnungskomponente enthält. Die tolerierten Praktiken oder Überzeugungen werden in einem normativen Sinn als falsch angesehen oder als schlecht verurteilt; wäre dies nicht der Fall, hätte man es begrifflich nicht mit Toleranz, sondern entweder mit Indifferenz oder sogar mit Bejahung zu tun.“ (Heimann 2016, S.38)
Die grundgesetzliche Neutralitätsverpflichtung bedeutet deshalb auch keinen Laizismus. Der Laizismus des französischen Staates beinhaltet selbst wiederum eine Weltanschauung, und eine solche ist dem deutschen Staat verwehrt. Der einzige Standpunkt, der dem deutschen Staat vom Grundgesetz zugebilligt und ihm sogar auferlegt wird, ist der des Schutzes der Grundrechte bzw. der „freiheitlich-demokratischen Grundordnung“. (Vgl. Heimann 2016, S.39 u.ö.) Dies ist der einzige Bereich, in dem der Staat nicht neutral und schon gar nicht ‚tolerant‘ sein darf. Genau deshalb gibt es auch, wie eingangs schon erwähnt, eine Dogmatik, d.h. einen rechtswissenschaftlichen Diskurs, in dem das ‚System‘ der Grundrechte austariert wird. Mit Ausnahme der Menschenwürde gilt kein Grundrecht, auch nicht die Religionsfreiheit, absolut: „Ein erster wichtiger Schritt zum Verständnis von Grundrechten ist die Erkenntnis, dass diese, von der in Art.1 GG geschützten Menschenwürde abgesehen, keinen absoluten Schutz vor staatlichen Eingriffen gewähren.“ (Heimann 2016, S.50)

Die verschiedenen Grundrechte geraten im gesellschaftlichen Leben immer wieder miteinander in Konflikt. So befindet sich die Religionsfreiheit im Dauerkonflikt mit der Meinungsfreiheit, der Kunstfreiheit und der freien Entfaltung der Persönlichkeit:
„Wie immer in multipolaren Grundrechtskonstellationen kann die Inanspruchnahme religiöser Freiheit aber die Freiheiten Dritter beschneiden oder grundlegende Verfassungskonstanten tangieren, zumal letztlich alle Lebensbereiche als Teil der Religionsausübung verstanden werden können. Gerade hier muss angesichts neuer gesellschaftlicher Entwicklungen stets ein neuer Ausgleich gefunden werden.“ (Heimann 2016, S.13)
Es kommt also immer wieder zu notwendigen Abwägungsprozessen zwischen den verschiedenen Grundrechten, wobei von jedem Bürger erwartet werden kann, daß er mögliche Beeinträchtigungen seiner individuellen Freiheitsrechte innerhalb gewisser Grenzen zu ertragen und zu akzeptieren vermag:
„Die große Schwierigkeit ist, dass jeder Einzelne für sein Verhalten zu akzeptieren hat, dass das staatliche Handeln nicht den Normen einer Religion unterworfen werden darf. Jeder Bewohner Deutschlands muss für sein Tun anerkennen, dass Voraussetzung für ein Leben mit dem Grundgesetz die Akzeptanz der staatlichen Neutralität, der Geltung der Grundrechte und des demokratischen Herrschaftssystems mit Ausschluss jeglicher Gewalt- und Willkürherrschaft ist, also das, was im Verfassungsrecht als ‚freiheitlich-demokratische Grundordnung bezeichnet wird. Damit geht gegebenenfalls eine Relativierung der eigenen Religion oder Weltanschauung einher.“ (Heimann 2016, S.224f.)
Das Verhalten des Bürgers ist also für die Geltung des Grundgesetzes relevant. Ursprünglich mag es sich zwar nur an den Staat und nicht an den Bürger gerichtet haben, im Sinne von „Abwehrrechte(n) des Bürgers gegenüber dem Staat“. (Vgl. Heimann 2016, S.126) Aber inzwischen bezieht die Rechtssprechung des Verfassungsgerichts auch ‚Dritte‘ in seine Urteilsbegründungen ein, die die Grundrechte des einzelnen Bürgers ebenfalls bedrohen können, also andere gesellschaftliche Institutionen und Teilbereiche. (Vgl. Heimann 2016, S.126) Dazu gehört z.B. das kirchliche Arbeitsrecht, das die Freiheitsrechte kirchlicher Mitarbeiter erheblich einschränkt.

Darüber hinaus gilt das Grundgesetz nicht in irgendeinem luftleeren Raum: es bedarf der Zustimmung durch die Bürger bzw. durch die ‚Gesellschaft‘. Es gilt nur, solange eine Mehrheit der Bürger daran festhält:
„In der konkreten religiösen Zusammensetzung der Gesellschaft des multireligiösen Staates darf deshalb der Anteil derer, die seine ‚freiheitlich-demokratische Grundordnung‘ – sei es aktiv, sei es passiv – ablehnen, nicht so groß sein, dass seine Existenz gefährdet wird. Insofern ist nicht der multireligiöse Staat mit seinen schwierigen, aber auf der Grundlage von Religionsfreiheit und Neutralität lösbaren Fragen die eigentliche Herausforderung, sondern die mögliche Überforderung durch diejenigen, die seine Freiheit letztlich ablehnen.“ (Heimann 2016, S.226)
Hinzu kommt die grundgesetzliche Bedeutung eines öffentlichen Diskurses, also von verhaltens- und gesinnungsspezifischen Stellungnahmen der Bürger als einem der drei Pfeiler, auf denen die Dogmatik des Grundgesetzes beruht. Heimann hält fest, daß die „Flexibilität“ des Grundgesetzes, mit deren Hilfe die jeweils aktuellen gesellschaftlichen Konflikte geklärt werden können, auf dem „Zusammenspiel von Gesetzgeber, verfassungsrichterlicher Kontrolle und öffentlichem Diskurs“ beruht. (Vgl. Heimann 2016, S.222) Denn die Gesetzgeber und die Verfassungsrichter agieren nicht getrennt vom gesellschaftlichen Kontext. Sie sind vielmehr selbst Teil der gesellschaftlichen Prozesse, und sie müssen ihre Entscheidungen nicht zuletzt vor dem Hintergrund des konkreten Entwicklungsstands der gesellschaftlichen Bedürfnisse begründen. Nur so konnte z.B. ein Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung entstehen, das nicht explizit im Grundgesetz vorkommt, aber aus dem Persönlichkeitsrecht von Art.2 Abs.1 GG abgeleitet wird.

Das Grundgesetz richtet sich also längst nicht mehr nur an den Staat, sondern auch an jeden einzelnen Bürger. In diesem Sinne wird auch die grundgesetzlich festgelegte staatliche Schulaufsicht verstanden, die mit einem eigenen Bildungsauftrag verbunden wird. (Vgl. Heimann 2016, S.187f.) So etwas widerspricht eigentlich dem staatlichen Neutralitätsgebot. Ein solcher Bildungsauftrag kann aber mit der Verpflichtung des Staates zum Schutz der freiheitlich-demokratischen Grundordnung gerechtfertigt werden. Das Grundgesetz kann seine freiheitliche Wirksamkeit nur entfalten, wenn die Bürger in der Lage sind und durch Erziehung und Bildung dazu in die Lage versetzt werden, die Relativierung der eigenen Freiheitsrechte zu ertragen und zu akzeptieren und darüber hinaus in einem öffentlichen Diskurs zur Weiterentwicklung der Grundrechtsdogmatik beizutragen.

Vor diesem Hintergrund beurteilt Heimann das Grundgesetz in seiner Funktion, „bei größtmöglicher religiöser Freiheit das friedliche Zusammenleben seiner Einwohner“ – also der Einwohner des „multireligiösen Staates“ – „zu gewährleisten“, ausgesprochen positiv. (Vgl. Heimann 2016, S.221) Trotz der aus seiner Historie hervorgehenden „Regelungs- und Anwendungsinkonsistenzen“ (Heimann 2016, S.221), wie z.B. die religiös begründeten Sonn- und Feiertagsregelungen (vgl. Heimann 2016, S.35f.) oder die verschiedenen ‚Staatsverträge‘ mit nicht-staatlichen Religionsgemeinschaften (vgl. Heimann 2016, S.211ff.), hat sich das Grundgesetz Heimann zufolge bislang bewährt und wird sich auch in Zukunft in einer zunehmend multikultureller werdenden Gesellschaft bewähren und weiterentwickeln.

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