„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Donnerstag, 28. Juli 2016

Giovanno Maio, Demenz – oder die durch Beziehung gestiftete Identität (2015)

(in: Oliver Müller/Giovanni Maio (Hg.), Orientierung am Menschen. Anthropologische Konzeptionen und normative Perspektiven, Göttingen 2015, S.470-482)

In seinem gestern von mir besprochenen Aufsatz „Der herstellbare Mensch“ (2015a) bewegt sich Giovanni Maio auf der Ebene des technisch reproduzierbaren Lebens, also auf der Ebene der Biologie. Auch das ungeborene Kind wird von ihm immer nur pauschal als in seiner unangetasteten Natürlichkeit bedrohtes ‚Leben‘ thematisiert. Letztlich führt Maio also die Anthropologie auf Biologie zurück. Das spezifisch Menschliche gerät dabei aus dem Blick.

In seinem Aufsatz „Demenz – oder die durch Beziehung gestiftete Identität“ (2015b) ist das ganz anders. Hier steht nicht der Begriff des Lebens im Zentrum der anthropologischen Reflexion, sondern mit dem Begriff der de-mens der Begriff des Geistes bzw. des Bewußtseins, der bzw. das dem Demenzkranken abhanden gekommen ist. Wo Maio in seinem anderen Aufsatz es versäumt, zentrale Begriffe wie ‚Zeugung‘ und ‚Befruchtung‘ genauer zu analysieren, geht er hier näher auf den Begriff der ‚Demenz‘ ein und kommt dabei zu interessanten Einsichten hinsichtlich der existentiellen Verfaßtheit des demenzkranken Menschen, die wiederum weitere Ausblicke auf die existentielle Verfaßtheit des gesunden Menschen ermöglichen, die an Helmuth Plessners Begriffe der exzentrischen Positionalität und der Expressivität erinnern.

Giovanni Maio beabsichtigt mit seinem Aufsatz nicht weniger als eine „Phänomenologie der Demenz“ (Maio 2015b, S.470), und diese ist ihm auch überaus gelungen. Jede Phänomenologie nimmt das menschliche Bewußtsein ernst. Phänomenologen kennen keine Abwertung der subjektiven Bewußtseinserlebnisse, wie sie in anderen ‚objektiveren‘ Wissenschaftsbereichen üblich ist. Auch Giovanni Maio fordert, die Demenz als „subjektiv erlittene Existenzform des Menschen“ ernstzunehmen. (Vgl. Maio 2015b, S.470) Das gilt in positiver wie in negativer Hinsicht. Negativ: der Demenzkranke ist krank, und er leidet unter dem Verlust des kognitiven Zugangs zu seinem Gedächtnis. (Vgl. ebenda)

Dieser Verlust bestimmt fortan sein Leben. Der fortschreitende Bewußtseinsverlust wird von einem intensiven Schamgefühl begleitet: „Sie (die Demenzkranken – DZ) leben im Modus der Scham, weil sie sich für das schämen, was sie nicht mehr können, für die Enttäuschungen, die sie ihren Lieben zuzufügen meinen.“ (Maio 2015b, S.475) – Ab einem bestimmten Stadium der Erkrankung aber schwindet diese Scham (vgl. Maio 2015b, S.479), und schließlich leben die Demenzkranken nur noch „im Hier und Jetzt ... ohne Abgleich mit der Vergangenheit“ (vgl. Maio 2015b, S.471).

Diese Perspektive auf die demenzkranken Menschen bewahrt Maio vor einer unkritischen Natur- und Lebensromantik, wie sie seinen anderen Aufsatz durchzieht. Dennoch weiß er von einer positiven Perspektive auf die Demenz zu berichten. Mit dem Verlust des kognitiven Zugriffs auf das Gedächtnis geht nicht etwa automatisch auch ein Verlust an Identität und Welt einher. Demenzkranke haben ein eigenes, intensiv erlebtes Selbst- und Weltverhältnis, das jetzt nicht mehr kognitiv, sondern leiblich begründet ist: „Wir müssen uns nur freimachen von der Vorstellung, alles laufe über das Großhirn ab. Auch ohne ein reflexives Verhältnis zu meinem Handeln zu haben, kann ich mir allein über die leiblichen Ausdrücke meiner Gefühle dessen gewahr werden, dass ich existiere, da über sie eine basale Stufe meines Selbst präsent bleibt.“ (Maio 2015b, S.479)

Zwar verliert der demenzkranke Mensch den kognitiven Bezug zu seinem Gedächtnis, aber seine früheren Erfahrungen, so Maio, „sind ja nicht ausgelöscht“: „... sie werden nur nicht mehr in rationaler Weise mit den heutigen zu einer Geschichte zusammengeführt.“ (Maio 2015b, S.472)

Demenzkranke Menschen verlieren also zwar ihre autobiographische, narrativ vermittelte Identität (vgl. Maio 2015b, S.471), aber sie verlieren nicht ihre Beziehungsfähigkeit. Diese Beziehungsfähigkeit wird jetzt sogar wichtiger denn je. Denn sie sind mehr als gesunde Menschen auf die Impulse ihrer Mitmenschen angewiesen, weil sie nur über diese Impulse Anschluß an die früheren Erfahrungen finden, die ihr Leben immer noch, wenn auch nur fragmentarisch prägen. Demenzkranke sind, so Maio, „unglaublich lebendige Menschen. Sie glühen vor Leben. Es ist ein Leben, das durch Impulse wachgerüttelt werden muss, aber es bleibt ein intensiv erlebtes Leben.“ (Maio 2015b, S.479)

Von Helmuth Plessner können wir lernen, daß das Bewußtsein des Menschen aus einem Bruch in unserem Erleben hervorgeht. Weil wir unsere Bedürfnisse nicht unmittelbar befriedigen können, werden wir uns unserer Selbst und der Welt unsicher, und das heißt letztlich: bewußt. Wir fallen aus der Selbstverständlichkeit des Lebens bzw. unserer automatisch fungierenden Lebenswelt heraus. Der gesunde Mensch befindet sich also immer wieder im Konflikt mit seiner Lebenswelt. Dennoch lebt er meistens – wenn alles gut geht – in Geborgenheit und Vertrauen.

Wir Gesunden haben mit den Demenzkranken vieles gemeinsam. Dazu gehört, was vielleicht manchen wundern mag, ein ebenfalls eingeschränkter Zugang zu unseren Erinnerungen, zu unserem Gedächtnis. Der Demenzkranke mag zwar überhaupt keine kognitive Kontrolle über seine Erinnerungen haben, aber auch die Kontrolle des Gesunden ist äußerst reduziert: meistens kommen und gehen unsere Erinnerungen, wie es ihnen beliebt, und oft genug quälen wir uns vergeblich ab, wenn wir versuchen, bestimmter Erinnerungen habhaft zu werden. Möglicherweise erinnern wir uns sogar um so schlechter, je mehr wir unser Gedächtnis zu kontrollieren versuchen.

Wenn wir träumen, übernimmt das Unterbewußte die Regie und jede narrative Chronizität wird zweifelhaft oder sogar regelrecht mißachtet. Genauso ergeht es dem demenzkranken Menschen: „Wer sich näher mit ihnen beschäftigt, wird erkennen, dass sie voller Erfahrungen stecken. So kann ein Musikstück aus früheren Zeiten spontan Gefühle wecken und den Menschen emotional in die damalige Zeit zurückversetzen; ein Duft aus ihrer Kindheit ruft unwillkürlich Erinnerungen wach.“ (Maio 2015b, S.471)

An dieser Stelle unterscheiden sich demenzkranke Menschen überhaupt nicht von gesunden Menschen, und wenn Maio vom „narrativen Bruch“ im autobiographischen Erleben demenzkranker Menschen spricht (vgl. Maio 2015b, S.471), erinnert das an Plessners Hiatus; nur daß wir es hier gleichsam mit einem verschobenen Bruch zu tun haben: es ist weniger der intentionale Zugriff auf die Welt, der hier mißlingt, als vielmehr der Zugriff auf sich selbst. Und er ermöglicht keine Exzentrik.

Dennoch ist der demenzkranke Mensch in gewisser Weise ‚exzentrischer‘ positioniert als die Gesunden. Er ist nicht nur augenblicksweise, für einen Moment, aus der Lebenswelt herausgefallen, sondern dauerhaft. Er lebt in pathologischer Ungeborgenheit: „Die an Demenz erkrankte Frau, der an Demenz erkrankte Mann müssen sich unendlich fremd fühlen, in einer fremden Welt, abgeschnitten von allem, was ihnen einst vertraut war.“ (Maio 2015b, S.474) – Was dem demenzkranken Menschen „auf eine existentielle Weise fehlt“, so Giovanni Maio, „ist das Gefühl der Geborgenheit“. (Vgl. ebenda)

Dieser mit dem Verlust des kognitiven Zugriffs auf das Gedächtnis einhergehende Lebensweltverlust wird verstärkt durch das Verhalten von Angehörigen und Mitmenschen, die die Demenzkranken mit ihren früheren Fähigkeiten vergleichen und ihren jetzigen Zustand daran messen: „Demenzkranke werden oft von ihren Angehörigen so behandelt, als ob sie keine Persönlichkeit, kein eigenes Selbst mehr hätten, als wäre ihnen also mit dem Gedächtnis und der Hirnleistung zugleich auch ihr Wesen verloren gegangen.“ (Maio 2015b, S.470)

Diese Behandlung ist umso tragischer, als demenzkranke Menschen so sehr auf die Kommunikation mit den gesunden Menschen angewiesen sind, die ihnen die Impulse liefern können, auf leiblicher Ebene an ihre früheren Erfahrungen wieder anzuschließen. Aufgrund des ständigen Vergleichs mit ihrem früheren Leben internalisieren sie aber die sozialen Erwartungen ihrer Mitmenschen und leben „im Modus der Scham“. (Vgl. Maio 2015b, S.475 und S.479) Denn demenzkranke Menschen mögen zwar kein reflexives Verhältnis zu sich und zur Welt haben; dafür ist ihre „Fähigkeit zur Resonanz“ (Maio 2015b, S.476f.) um so ausgeprägter. Mit Resonanz ist letztlich nichts anderes gemeint als die Empathie, von der an anderer Stelle in diesem Blog auch schon mal die Rede gewesen ist. (Vgl. meine Posts vom 15.05. bis 21.05.2011) Demenzkranke Menschen befinden sich nicht nur in leiblicher Resonanz zu ihren früheren Erfahrungen, die nach wie vor den „Kern“ ihrer „Persönlichkeit“ bilden (vgl. Maio 2015b, S.472), sondern sie befinden sich auch in ständiger leiblicher ‚Kommunikation‘ mit ihren Mitmenschen: „Der demenzkranke Mensch spricht ständig mit uns, weil er die Fähigkeit besitzt, mitzuschwingen.“ (Maio 2015b, S.477) – Für soziale Erwartungen, denen er nicht genügen kann, ist er also besonders empfänglich.

Die von Giovanni Maio vorgeschlagene ‚Therapie‘ im Umgang mit den demenzkranken Menschen besteht deshalb darin, ihre nach wie vor vorhandenen Fähigkeiten anzuerkennen und eine „Kultur der Wertschätzung“ (Maio 2015b, S.476) zu etablieren: „Der demenzkranke Mensch kommuniziert leiblich, indem er mit Unruhe reagiert, wenn er sich alleingelassen fühlt, und mit geradezu kindlicher Freude, wenn er Zuneigung verspürt, sich an schöne Erlebnisse erinnert, wenn er Wertschätzung erfährt.“ (Maio 2015b, S.478)

Auf dieser Ebene kann der demenzkranke Mensch seinen Mitmenschen viel geben, denn der tragische Verlust der Kognition verleiht seinen immer nur bruchstückhaft bleibenden Lebensäußerungen eine Authentizität, die den mit der Gabe der Reflexion ausgestatteten gesunden Menschen abgeht: „Umso wertvoller werden daher die aufflackernden Bruchstücke echter Empfindungen. Auch wenn sie nicht zu einem Ganzen verbunden werden können, bleiben sie doch expressive Ausdrücke eines momentanen Empfindens, und durch die Echtheit dieser Empfindungen in der gegebenen Situation werden sie zu etwas Wertvollem, zu etwas, was es zu fördern und zu entwickeln gilt.“ (Maio 2015b, S.472)

Man muß Maios Bewertung solcher intensiv erlebten Momente als Teil der von ihm geforderten „Kultur der Wertschätzung“ im Umgang mit den demenzkranken Menschen verstehen; dann ist man davor gefeit, solcherlei Authentizität zu romantisieren. Denn der Preis dieser Authentizität ist der unwiederbringliche Verlust der Lebenswelt, die dauerhafte Fremdheit zu sich selbst und zur Welt, die die von Maio skizzierte „Phänomenologie der Demenz“ prägt. Und es ist genau dieser prekäre Zustand, der uns ‚Gesunden‘ viel über uns selbst zu sagen hat. Demenzkranke sind, so Maio, „Menschen, die uns etwas zu ‚sagen‘ haben, gerade durch ihr Sosein, durch den Umgang mit ihrer Gebrechlichkeit“. (Vgl. Maio 2015b, S.476)

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