„...letztlich ist der Mensch, als Folge oder Krönung der Evolution, nur in der Totalität der Erde begreifbar.“ (Leroi-Gourhan, Hand und Wort, S.22)

Donnerstag, 28. Juli 2016

Giovanno Maio, Demenz – oder die durch Beziehung gestiftete Identität (2015)

(in: Oliver Müller/Giovanni Maio (Hg.), Orientierung am Menschen. Anthropologische Konzeptionen und normative Perspektiven, Göttingen 2015, S.470-482)

In seinem gestern von mir besprochenen Aufsatz „Der herstellbare Mensch“ (2015a) bewegt sich Giovanni Maio auf der Ebene des technisch reproduzierbaren Lebens, also auf der Ebene der Biologie. Auch das ungeborene Kind wird von ihm immer nur pauschal als in seiner unangetasteten Natürlichkeit bedrohtes ‚Leben‘ thematisiert. Letztlich führt Maio also die Anthropologie auf Biologie zurück. Das spezifisch Menschliche gerät dabei aus dem Blick.

In seinem Aufsatz „Demenz – oder die durch Beziehung gestiftete Identität“ (2015b) ist das ganz anders. Hier steht nicht der Begriff des Lebens im Zentrum der anthropologischen Reflexion, sondern mit dem Begriff der de-mens der Begriff des Geistes bzw. des Bewußtseins, der bzw. das dem Demenzkranken abhanden gekommen ist. Wo Maio in seinem anderen Aufsatz es versäumt, zentrale Begriffe wie ‚Zeugung‘ und ‚Befruchtung‘ genauer zu analysieren, geht er hier näher auf den Begriff der ‚Demenz‘ ein und kommt dabei zu interessanten Einsichten hinsichtlich der existentiellen Verfaßtheit des demenzkranken Menschen, die wiederum weitere Ausblicke auf die existentielle Verfaßtheit des gesunden Menschen ermöglichen, die an Helmuth Plessners Begriffe der exzentrischen Positionalität und der Expressivität erinnern.

Giovanni Maio beabsichtigt mit seinem Aufsatz nicht weniger als eine „Phänomenologie der Demenz“ (Maio 2015b, S.470), und diese ist ihm auch überaus gelungen. Jede Phänomenologie nimmt das menschliche Bewußtsein ernst. Phänomenologen kennen keine Abwertung der subjektiven Bewußtseinserlebnisse, wie sie in anderen ‚objektiveren‘ Wissenschaftsbereichen üblich ist. Auch Giovanni Maio fordert, die Demenz als „subjektiv erlittene Existenzform des Menschen“ ernstzunehmen. (Vgl. Maio 2015b, S.470) Das gilt in positiver wie in negativer Hinsicht. Negativ: der Demenzkranke ist krank, und er leidet unter dem Verlust des kognitiven Zugangs zu seinem Gedächtnis. (Vgl. ebenda)

Dieser Verlust bestimmt fortan sein Leben. Der fortschreitende Bewußtseinsverlust wird von einem intensiven Schamgefühl begleitet: „Sie (die Demenzkranken – DZ) leben im Modus der Scham, weil sie sich für das schämen, was sie nicht mehr können, für die Enttäuschungen, die sie ihren Lieben zuzufügen meinen.“ (Maio 2015b, S.475) – Ab einem bestimmten Stadium der Erkrankung aber schwindet diese Scham (vgl. Maio 2015b, S.479), und schließlich leben die Demenzkranken nur noch „im Hier und Jetzt ... ohne Abgleich mit der Vergangenheit“ (vgl. Maio 2015b, S.471).

Diese Perspektive auf die demenzkranken Menschen bewahrt Maio vor einer unkritischen Natur- und Lebensromantik, wie sie seinen anderen Aufsatz durchzieht. Dennoch weiß er von einer positiven Perspektive auf die Demenz zu berichten. Mit dem Verlust des kognitiven Zugriffs auf das Gedächtnis geht nicht etwa automatisch auch ein Verlust an Identität und Welt einher. Demenzkranke haben ein eigenes, intensiv erlebtes Selbst- und Weltverhältnis, das jetzt nicht mehr kognitiv, sondern leiblich begründet ist: „Wir müssen uns nur freimachen von der Vorstellung, alles laufe über das Großhirn ab. Auch ohne ein reflexives Verhältnis zu meinem Handeln zu haben, kann ich mir allein über die leiblichen Ausdrücke meiner Gefühle dessen gewahr werden, dass ich existiere, da über sie eine basale Stufe meines Selbst präsent bleibt.“ (Maio 2015b, S.479)

Zwar verliert der demenzkranke Mensch den kognitiven Bezug zu seinem Gedächtnis, aber seine früheren Erfahrungen, so Maio, „sind ja nicht ausgelöscht“: „... sie werden nur nicht mehr in rationaler Weise mit den heutigen zu einer Geschichte zusammengeführt.“ (Maio 2015b, S.472)

Demenzkranke Menschen verlieren also zwar ihre autobiographische, narrativ vermittelte Identität (vgl. Maio 2015b, S.471), aber sie verlieren nicht ihre Beziehungsfähigkeit. Diese Beziehungsfähigkeit wird jetzt sogar wichtiger denn je. Denn sie sind mehr als gesunde Menschen auf die Impulse ihrer Mitmenschen angewiesen, weil sie nur über diese Impulse Anschluß an die früheren Erfahrungen finden, die ihr Leben immer noch, wenn auch nur fragmentarisch prägen. Demenzkranke sind, so Maio, „unglaublich lebendige Menschen. Sie glühen vor Leben. Es ist ein Leben, das durch Impulse wachgerüttelt werden muss, aber es bleibt ein intensiv erlebtes Leben.“ (Maio 2015b, S.479)

Von Helmuth Plessner können wir lernen, daß das Bewußtsein des Menschen aus einem Bruch in unserem Erleben hervorgeht. Weil wir unsere Bedürfnisse nicht unmittelbar befriedigen können, werden wir uns unserer Selbst und der Welt unsicher, und das heißt letztlich: bewußt. Wir fallen aus der Selbstverständlichkeit des Lebens bzw. unserer automatisch fungierenden Lebenswelt heraus. Der gesunde Mensch befindet sich also immer wieder im Konflikt mit seiner Lebenswelt. Dennoch lebt er meistens – wenn alles gut geht – in Geborgenheit und Vertrauen.

Wir Gesunden haben mit den Demenzkranken vieles gemeinsam. Dazu gehört, was vielleicht manchen wundern mag, ein ebenfalls eingeschränkter Zugang zu unseren Erinnerungen, zu unserem Gedächtnis. Der Demenzkranke mag zwar überhaupt keine kognitive Kontrolle über seine Erinnerungen haben, aber auch die Kontrolle des Gesunden ist äußerst reduziert: meistens kommen und gehen unsere Erinnerungen, wie es ihnen beliebt, und oft genug quälen wir uns vergeblich ab, wenn wir versuchen, bestimmter Erinnerungen habhaft zu werden. Möglicherweise erinnern wir uns sogar um so schlechter, je mehr wir unser Gedächtnis zu kontrollieren versuchen.

Wenn wir träumen, übernimmt das Unterbewußte die Regie und jede narrative Chronizität wird zweifelhaft oder sogar regelrecht mißachtet. Genauso ergeht es dem demenzkranken Menschen: „Wer sich näher mit ihnen beschäftigt, wird erkennen, dass sie voller Erfahrungen stecken. So kann ein Musikstück aus früheren Zeiten spontan Gefühle wecken und den Menschen emotional in die damalige Zeit zurückversetzen; ein Duft aus ihrer Kindheit ruft unwillkürlich Erinnerungen wach.“ (Maio 2015b, S.471)

An dieser Stelle unterscheiden sich demenzkranke Menschen überhaupt nicht von gesunden Menschen, und wenn Maio vom „narrativen Bruch“ im autobiographischen Erleben demenzkranker Menschen spricht (vgl. Maio 2015b, S.471), erinnert das an Plessners Hiatus; nur daß wir es hier gleichsam mit einem verschobenen Bruch zu tun haben: es ist weniger der intentionale Zugriff auf die Welt, der hier mißlingt, als vielmehr der Zugriff auf sich selbst. Und er ermöglicht keine Exzentrik.

Dennoch ist der demenzkranke Mensch in gewisser Weise ‚exzentrischer‘ positioniert als die Gesunden. Er ist nicht nur augenblicksweise, für einen Moment, aus der Lebenswelt herausgefallen, sondern dauerhaft. Er lebt in pathologischer Ungeborgenheit: „Die an Demenz erkrankte Frau, der an Demenz erkrankte Mann müssen sich unendlich fremd fühlen, in einer fremden Welt, abgeschnitten von allem, was ihnen einst vertraut war.“ (Maio 2015b, S.474) – Was dem demenzkranken Menschen „auf eine existentielle Weise fehlt“, so Giovanni Maio, „ist das Gefühl der Geborgenheit“. (Vgl. ebenda)

Dieser mit dem Verlust des kognitiven Zugriffs auf das Gedächtnis einhergehende Lebensweltverlust wird verstärkt durch das Verhalten von Angehörigen und Mitmenschen, die die Demenzkranken mit ihren früheren Fähigkeiten vergleichen und ihren jetzigen Zustand daran messen: „Demenzkranke werden oft von ihren Angehörigen so behandelt, als ob sie keine Persönlichkeit, kein eigenes Selbst mehr hätten, als wäre ihnen also mit dem Gedächtnis und der Hirnleistung zugleich auch ihr Wesen verloren gegangen.“ (Maio 2015b, S.470)

Diese Behandlung ist umso tragischer, als demenzkranke Menschen so sehr auf die Kommunikation mit den gesunden Menschen angewiesen sind, die ihnen die Impulse liefern können, auf leiblicher Ebene an ihre früheren Erfahrungen wieder anzuschließen. Aufgrund des ständigen Vergleichs mit ihrem früheren Leben internalisieren sie aber die sozialen Erwartungen ihrer Mitmenschen und leben „im Modus der Scham“. (Vgl. Maio 2015b, S.475 und S.479) Denn demenzkranke Menschen mögen zwar kein reflexives Verhältnis zu sich und zur Welt haben; dafür ist ihre „Fähigkeit zur Resonanz“ (Maio 2015b, S.476f.) um so ausgeprägter. Mit Resonanz ist letztlich nichts anderes gemeint als die Empathie, von der an anderer Stelle in diesem Blog auch schon mal die Rede gewesen ist. (Vgl. meine Posts vom 15.05. bis 21.05.2011) Demenzkranke Menschen befinden sich nicht nur in leiblicher Resonanz zu ihren früheren Erfahrungen, die nach wie vor den „Kern“ ihrer „Persönlichkeit“ bilden (vgl. Maio 2015b, S.472), sondern sie befinden sich auch in ständiger leiblicher ‚Kommunikation‘ mit ihren Mitmenschen: „Der demenzkranke Mensch spricht ständig mit uns, weil er die Fähigkeit besitzt, mitzuschwingen.“ (Maio 2015b, S.477) – Für soziale Erwartungen, denen er nicht genügen kann, ist er also besonders empfänglich.

Die von Giovanni Maio vorgeschlagene ‚Therapie‘ im Umgang mit den demenzkranken Menschen besteht deshalb darin, ihre nach wie vor vorhandenen Fähigkeiten anzuerkennen und eine „Kultur der Wertschätzung“ (Maio 2015b, S.476) zu etablieren: „Der demenzkranke Mensch kommuniziert leiblich, indem er mit Unruhe reagiert, wenn er sich alleingelassen fühlt, und mit geradezu kindlicher Freude, wenn er Zuneigung verspürt, sich an schöne Erlebnisse erinnert, wenn er Wertschätzung erfährt.“ (Maio 2015b, S.478)

Auf dieser Ebene kann der demenzkranke Mensch seinen Mitmenschen viel geben, denn der tragische Verlust der Kognition verleiht seinen immer nur bruchstückhaft bleibenden Lebensäußerungen eine Authentizität, die den mit der Gabe der Reflexion ausgestatteten gesunden Menschen abgeht: „Umso wertvoller werden daher die aufflackernden Bruchstücke echter Empfindungen. Auch wenn sie nicht zu einem Ganzen verbunden werden können, bleiben sie doch expressive Ausdrücke eines momentanen Empfindens, und durch die Echtheit dieser Empfindungen in der gegebenen Situation werden sie zu etwas Wertvollem, zu etwas, was es zu fördern und zu entwickeln gilt.“ (Maio 2015b, S.472)

Man muß Maios Bewertung solcher intensiv erlebten Momente als Teil der von ihm geforderten „Kultur der Wertschätzung“ im Umgang mit den demenzkranken Menschen verstehen; dann ist man davor gefeit, solcherlei Authentizität zu romantisieren. Denn der Preis dieser Authentizität ist der unwiederbringliche Verlust der Lebenswelt, die dauerhafte Fremdheit zu sich selbst und zur Welt, die die von Maio skizzierte „Phänomenologie der Demenz“ prägt. Und es ist genau dieser prekäre Zustand, der uns ‚Gesunden‘ viel über uns selbst zu sagen hat. Demenzkranke sind, so Maio, „Menschen, die uns etwas zu ‚sagen‘ haben, gerade durch ihr Sosein, durch den Umgang mit ihrer Gebrechlichkeit“. (Vgl. Maio 2015b, S.476)

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Mittwoch, 27. Juli 2016

Giovanni Maio, Der herstellbare Mensch? Warum der Mensch auch im Zeitalter der Reproduktionsmedizin Anfang bleibt (2015)

(in: Oliver Müller/Giovanni Maio (Hg.), Orientierung am Menschen. Anthropologische Konzeptionen und normative Perspektiven, Göttingen 2015, S.381-394)

Die beiden Beiträge von Giovanni Maio, „Der herstellbare Mensch? Warum der Mensch auch im Zeitalter der Reproduktionsmedizin Anfang bleibt“ (2015a) und „Demenz – oder die durch Beziehung gestiftete Identität“ (2015b; vgl. Müller/Maio 2015, S.381-394 und S.470-482), unterscheiden sich hinsichtlich ihrer ‚Anthropologie‘ so sehr, daß ich beim ersten Lesen tatsächlich meinte, ich läse gerade die Beiträge von zwei völlig verschiedenen Autoren. Der eine Beitrag zur Reproduktionsmedizin (2015a) ist von einer gefühlsbetonten Natur- und Lebensromantik geprägt, die die spezifische Qualität des menschlichen Selbst- und Weltverhältnisses ausblendet. Der andere Beitrag zur Demenz (2015b) hingegen, der sich nicht minder für die in Not geratenen Menschen engagiert als der Beitrag zur Reproduktionsmedizin, plädiert für die Würde der Demenzkranken gerade in der Gebrochenheit ihres Selbst- und Weltbezugs und bekommt damit die spezifische Qualität des Menschlichen in den Blick.

An dieser Stelle möchte ich zunächst auf Maios Beitrag zur Reproduktionsmedizin eingehen. Maio vertritt eine technologiekritische Auffassung der Reproduktionsmedizin. Die Reproduktionsmedizin beinhaltet Maio zufolge – in Anlehnung an Hans Jonas – einen „technischen Imperativ“, der die bloße Möglichkeit einer Technologie immer schon mit der Notwendigkeit ihrer Umsetzung gleichsetzt. (Vgl. Maio 2015a, S.381) Dieser technische Imperativ übt Maio zufolge einen „Sog“ auf die Frauen aus, dem sie sich „nur schwer entziehen können“. (Vgl. ebenda) Er macht es ihnen praktisch unmöglich, sich mit ihrer ‚Unfruchtbarkeit‘ zu arrangieren und das damit verbundene Leiden zu ertragen. Die auch mit den technischen Möglichkeiten der Reproduktionsmedizin einhergehende „Möglichkeit des Misslingens“ (Maio 2015a, S.385) – 84,6% der künstlichen Befruchtungsversuche bleiben Maio zufolge erfolglos (vgl. ebenda; dabei unterläßt Maio es allerdings, genauer aufzuschlüsseln, ob sich diese Prozentzahl auf die Gesamtzahl der betroffenen Frauen bezieht oder auf die durchschnittliche Gesamtzahl der Versuche einzelner betroffener Frauen) – wird in der reproduktionsmedizinischen Werbung unterschlagen, die vor allem den Gedanken der „Wunscherfüllung“ in den Vordergrund stellt (vgl. Mai 2015a, S.385f.).

Anstatt also zu lernen, zu den eigenen Bedürfnissen in ein Verhältnis zu treten und eine alternative Lebensführung in Betracht zu ziehen – also etwas aus seinem Schicksal zu machen – (vgl. Maio 2015a, S.391), verdrängt der Machbarkeitsimperativ der Reproduktionstechnologie eine solche Selbstreflexion und setzt an deren Stelle ein Denken, das das Kind zum „Mittel der Wunscherfüllung“ der künftigen Eltern werden läßt. (Vgl. Maio 2015a, S.386) So entsteht Maio zufolge auf beiden Seiten des Eltern-Kindverhältnisses eine „doppelte Hypothek“ (Maio 2015a, S.393): das Kind wird als Resultat eines Produktionsprozesses in eine „Dankespflicht“ den Eltern gegenüber hineingezwungen (vgl. Maio 2015a, S.388), die es in prä-reproduktionsmedizinischen Zeiten nicht gekannt hatte, weil seine ‚natürliche‘ Zeugung primär als das Ergebnis eines Zufalls bzw. einer ‚Gabe‘ wahrgenommen worden war (vgl. Maio 2015a, S.386).

Umgekehrt sind die Eltern nun für dieses mehr oder weniger gelungene ‚Resultat‘ ihrer reproduktionsmedizinischen Planung auf neuartige Weise verantwortlich, da sie sich dem Kind gegenüber dafür rechtfertigen müssen, daß es überhaupt auf der Welt ist. Maio hebt hervor, daß angesichts der reproduktionsmedizinischen Möglichkeiten die Widersinnigkeit eines solchen Vorwurfs von Seiten des Kindes gar nicht mehr bemerkt werden könne. (Vgl. Maio 2015a, S.390) Da irrt er sich allerdings, denn schon Immanuel Kant hatte lange vor der Reproduktionsmedizin darauf hingewiesen, daß die vornehmste Aufgabe der Eltern darin liege, das Kind mit seiner Existenz zu versöhnen.

Überhaupt ist Maios ganze Argumentation von einer Natur- und Lebensromantik getragen, aufgrund deren die eigentlich brisanten Fragen der Reproduktionsmedizin gar nicht gestellt werden können. So stellt er beispielsweise die „natürliche Zeugung“ unvermittelt der „künstlichen Befruchtung“ gegenüber: „Der natürlich gezeugte  Mensch kann sich als Geschenk begreifen, weil er nicht produziert wurde und letzten Endes immer auch eine Überraschung war.“ (Maio 2015a, S.384) – Der „künstlich gezeugte Mensch“ hingegen ist lediglich das „Resultat einer technischen Anordnung“ und „nicht ein Geschenk“. (Vgl. ebenda)

Eine solche Gegenüberstellung bildet nicht nur eine Herabsetzung der Würde derjenigen Menschen, die ihr Dasein heute schon den Möglichkeiten der Reproduktionsmedizin verdanken. Maio bestreitet allerdings, das so gemeint zu haben (vgl. Maio 2015a, S.393), aber das ändert nichts an dem Argument einer geringeren Qualität der künstlichen Befruchtung; vor allem deshalb nicht, weil Maio die Antwort schuldig bleibt, worin denn die gemeinsame Würde von natürlich wie künstlich gezeugten Menschen überhaupt besteht. Es fehlt also eine jenseits der bloßen Natur- und Lebensromantik liegende, begrifflich reflektierte Analyse dessen, was das spezifisch Menschliche ausmacht. Stattdessen ist immer dann, wenn das ‚Kind‘ gemeint ist, pauschalisierend vom ‚Leben‘ die Rede: „Das Leben wird bewertet, gemessen, gerastert und damit einfach reduziert auf einen winzigen Teilaspekt.“ (Maio 2015a, S.388) – Oder: „In dem Moment, da das Selbstverständlichste des Selbstverständlichen, nämlich dass ein Leben einfach da ist, ohne dass man fragen kann, wozu ...“ (Maio 2015a, S.390) – Immer wieder ist es das ‚Leben‘ und nicht das Kind, das durch die Möglichkeiten der Reproduktionsmedizin in Bedrängnis gerät, bis hin, wen wundert’s?, zur Option der „zur selbstverständlich gewordenen Abtreibung“. (Vgl. Maio 2015a, S.389)

Die Frage nach dem, was den Menschen zum Menschen macht, und damit auch die Frage nach dem, was das Kind zum Kind macht, kann so gar nicht mehr gestellt werden. An die Stelle einer solchen Frage treten das „Wunderbare“ und das „Staunenswerte“. (Vgl. Maio 2015a, S.388) An die Stelle eines reflektierten Selbst- und Weltverhältnisses, das den Frauen ein freies, bewußtes Ja zu ihrem Kind ermöglicht, setzt Maio den „ursprünglichen Kontext von Emotionen“, „Gefühle von Rührung, Achtung, Staunen und Ergriffensein“. (Vgl. Maio 2015a, S.393f.) Diese Gefühle sind es, zu denen Maio zufolge die Frauen bzw. „Paare“ wieder befähigt werden müssen, und zwar mit professioneller Hilfe, die dazu beitragen soll, „dass man einen vernünftigen Umgang mit dem eigenen Kinderwunsch pflegt“. (Vgl. Maio 2015a, S.291)

Maio merkt gar nicht, daß er hier die eine Technologie, die Reproduktionsmedizin, durch eine andere Technologie, nämlich die der allgegenwärtigen, das eigene Handeln ersetzenden Therapie nicht einfach nur ersetzt, sondern ergänzt. Die an ihrem unerfüllten Kinderwunsch leidenden Frauen bzw. Paare werden von Maio von Anfang an nur als Patientinnen wahrgenommen, die behandelt werden müssen, nicht als Menschen, die ihr Leben führen. Sie sollten, so Maio, „mit den bloß technischen Angeboten nicht alleingelassen werden“: „Sie sollten vielmehr Hoffnung haben dürfen auf ein Medizin- und Gesellschaftssystem, das sich für ihre Not ernsthaft interessiert und ihnen eine ganzheitliche und nicht nur technische Behandlung angedeihen lässt.“ (Maio 2015a, S.394)

Der Mensch ist in Maios Beitrag in einem wirklich traurigen Zustand: er kann nicht leben. Jedenfalls nicht aus sich heraus und aus eigener Kraft.

Die ganze Natur- und Lebensromantik hat darüberhinaus auch den Effekt, daß Maio kein einziges Mal die Frage stellt, was ‚Zeugung‘ bzw. ‚Befruchtung‘ eigentlich ist. So undifferenziert, wie er immer vom wunderbaren ‚Leben‘ spricht, kommt ihm nicht der Gedanke, daß wir es bei diesem Leben allererst nicht etwa mit einem Kind oder einem Menschen zu tun haben, sondern mit einer Zelle. (Vgl. hierzu Georg Reischels Reproduktionsblog) Der Anspruch des Mannes, den er mit seinem Spermium behauptet, ist angesichts der Reproduktionsleistungen der weiblichen Eizelle höchst fragwürdig. Hannah Arendts „Gebürtlichkeit“, auf die sich Maio bezieht (vgl. Maio 2015a, S.393), betrifft, wörtlich genommen, den geborenen Menschen, nicht das Embryo oder einen wie auch immer ‚befruchteten‘ oder ‚gezeugten‘ Zellhaufen: „Jeder, auch der in einer Nährflüssigkeit schwebende, auf seine Tauglichkeit durchgemusterte und womöglich anschließend verworfene Embryo ist ein Leben von sich her und somit ein Anfang.“ (Maio 2015a, S.393)

Auf der Zellebene fängt das Leben eben nicht einfach mit einem bestimmten Moment an. In der Biologie gibt es nur Kontinuität, keinen Anfang. Der Begriff der Zeugung ist nicht wissenschaftlich, sondern ein Mythos. Die reproduktiven Möglichkeiten der Eizelle sind nicht abhängig vom Hinzutreten eines seines Zellcharakters beraubten Spermiums. Wenn wir von einem Anfang sprechen wollen, müssen wir die Ebene der Biologie verlassen und uns der Frage zuwenden, wer und was der Mensch eigentlich ist. Und genau diese Frage wird von Maio ausgeblendet.

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Dienstag, 26. Juli 2016

Oliver Müller/Giovanni Maio (Hg.), Orientierung am Menschen. Anthropologische Konzeptionen und normative Perspektiven, Göttingen 2015

In „Orientierung am Menschen“ (2015) versammeln die beiden Herausgeber Oliver Müller und Giovanni Maio 27 Aufsätze zu einer aktuellen, aus einer kritischen Reflexion des technologischen Potentials der „Neuro- und Biotechnologien“ (Müller/Maio 2015, S.10) hervorgehenden Anthropologie. Dabei geben sich die beiden Herausgeber betont bescheiden, insofern sie als Kriterium für die Auswahl der Autorinnen und Autoren auf ihre „herausgeberische(n) Vorlieben“ verweisen. (Vgl. Müller/Maio 2015, S.9) Zu „unübersichtlich und hoffnungslos heterogen“ sei die „anthropologische() Reflexionstradition“, als daß es möglich sei, von nur „eine(m) Begriff vom Menschen“ auszugehen. (Vgl. ebenda)

Diese Unübersichtlichkeit ist dem Gegenstand aber auch durchaus angemessen, und es befremdet mich immer wieder, wenn der Anthropologie andernorts in der Wissenschaft daraus ein Vorwurf gemacht wird. Jede Äußerung des Menschen über den Menschen (und damit über sich selbst) ist anthropologisch, und darüberhinaus ist jede seiner Äußerungen über die Welt anthropologisch gefärbt; Naturwissenschaftler nennen das gerne verächtlich ‚anthropomorph‘. Anthropologie ist deshalb, um es mit Fontane und Grass zu sagen, ein ‚weites Feld‘. Und wollten wir versuchen, das Unkraut aus diesem Feld auszujäten, bliebe am Ende nicht mehr viel vom Menschen übrig.

Es ist absurd hoch drei, der Anthropologie vorzuwerfen, daß sie anthropomorph sei. Genauso gut könnte man der Physik vorwerfen, daß sie physikalisch sei, und der Mathematik, daß sie mathematisch sei.

Genau deshalb geht auch der von Müller/Maio zitierte Vorwurf fehl, die Anthropologie sei „normativ zu aufgeladen oder sogar ideologisch vorbelastet“. (Vgl. Müller/Maio 2015, S.9) Über den Menschen läßt sich überhaupt nur normativ reden, wie es völlig zu Recht im Untertitel des Buches „Anthropologische Konzeptionen und normative Perspektiven“ zum Ausdruck kommt. Wie übrigens Normativität auch in den angeblich so objektiven Naturwissenschaften gang und gäbe ist. Kaum eine andere Disziplin ist so normativ wie die Neurowissenschaften, allein schon aus dem Grunde, als die Neurowissenschaftler dazu neigen, den Menschen auf das Gehirn zu reduzieren. Eine Verengung des Blicks geht mit jeder Disziplin einher. Normativ wird diese Blickverengung immer dann, wenn sie kritiklos erfolgt.

Bei der Besprechung des Buches von Müller und Maio werde ich mir wieder jeden einzelnen Beitrag einzeln vornehmen. Dabei werde ich diesmal aber nicht streng der Reihe nach vorgehen, sondern meinen Augenblickslaunen folgen und zwischen den Autorinnen und Autoren hin und her springen. Ich werde auch nicht alle Rezensionen auf einen ‚Schlag‘ hintereinander posten, sondern mich zwischendurch mit dem einen oder anderen anderen Buch befassen. Diese Besprechung wird sich also ein Weilchen hinziehen.

Beginnen werde ich mit zwei Beiträgen von Giovanni Maio, Philosoph und Medizinethiker an der Universität Freiburg und Direktor des Instituts für Ethik und Geschichte der Medizin, die er selbst zu dem Herausgeberbuch beigesteuert hat. (Vgl. Müller/Maio 2015, S.381-394 und S.470-482) Von dem anderen Herausgeber Oliver Müller, Principal ‚Investigator‘ (was immer Investigator heißen mag: PD = Privatdetektiv?) und Projektleiter am Philosophischen Seminar und am Exzellenzcluster BrainLinks-BrainTools, gibt es keinen eigenen Beitrag zum Buch.
PS (08.10.2016): Nachdem ich heute den letzten Beitrag besprochen habe – das Posten habe ich über die folgenden Monate bis Anfang Januar 2017 geplant –, möchte ich mich jetzt noch einmal dem ganzen Vorhaben des Herausgeberbandes von Oliver Müller und Giovanni Maio zuwenden. Herausgeberbände gelten als vollgültige wissenschaftliche Publikationen, und die Herausgeber werden den Autoren von Monographien gleichgestellt. Das ist wahrscheinlich der Hauptgrund, warum sich im Wissenschaftsbetrieb überhaupt jemand die Mühe macht, die Texte anderer Autoren herauszugeben. Dennoch haben Herausgeberbände immer einen zweifelhaften Status. Sie sind nicht von einem einzelnen Autoren verantwortet, der das Buch selbst geschrieben hat, sondern von einem oder mehreren Herausgebern, die möglicherweise selbst Beiträge beigesteuert haben, ansonsten aber vor allem die Beiträge von anderen Autoren herausgeben. Wo liegt da die Verantwortung für das Buch?
Diese Frage ist kniffliger, als es zunächst vielleicht den Eindruck hat. Denn für die einzelnen Textbeiträge sind selbstverständlich vor allem die Autoren verantwortlich. Aber indirekt, nämlich in seiner Funktion als Herausgeber, ist auch der Herausgeber für die Textbeiträge verantwortlich. Er ist es, der das Thema vorgibt und dann die passenden Autoren dazu aussucht. Der Theorie nach dürfte er, wenn er seiner Verantwortung gerecht werden will, nur die Autoren aussuchen, die dem Thema seiner Ansicht nach gewachsen sind. Und liefern die Autoren keine Beiträge, die seinen Qualitätsanforderungen entsprechen, müßte der Herausgeber sie eigentlich zurückweisen und sich andere Autoren suchen.
Einer solchen Vorgehensweise stehen aber oft zwei Umstände entgegen. Zum einen bedeutet es einen erheblichen Zeitaufwand, genügend Autoren zu versammeln, die sowohl den Qualitätsansprüchen genügen als auch genügend Beiträge liefern, um einen Herausgeberband zu füllen. Außerdem beruht das wissenschaftliche Geschäft des Publizierens und Zitierens auf Gegenseitigkeit: Wenn ich Deine Texte herausgebe, gibst Du mir Gelegenheit, auch mal in einem Deiner Herausgeberbände einen meiner Texte zu publizieren. – Vor allem sollte man sich nicht gegenseitig wehtun, indem man z.B. den Text von jemandem ablehnt. Das ist für einen Autor immer kränkend und könnte Vergeltungsaktionen nach sich ziehen. Man sollte sowieso auch schon bei der Vorauswahl vor allem jene Autoren berücksichtigen, die zur selben Seilschaft, neudeutsch ‚Netzwerk‘, gehören.
Für die Autoren ist es immer ganz angenehm, einen kurzen Beitrag von zwanzig bis höchsten dreißig Seiten in einem Herausgeberband unterzubringen. Das Schreiben des Textes macht nicht so viel Arbeit wie bei einer Monographie, und die Lektorierung übernehmen die Herausgeber.
Bei dem vorliegenden Herausgeberband von Müller/Maio hatte ich tatsächlich den Eindruck, daß sich einige der Autoren untereinander gut kennen, teilweise von derselben Universität stammen etc. Hier hätte ich mir von Seiten der Herausgeber ein paar kurze biographische Informationen über die Autoren gewünscht, die aber leider fehlen. So mußte ich sie mir mühsam aus dem Internet zusammensuchen.
Den einen oder anderen Beitrag hätten die Herausgeber eigentlich ablehnen müssen, weil sie thematisch und qualitativ in dem Buch nichts zu suchen haben. Es wäre schön gewesen, wenn die Herausgeber in einer Einleitung einen inhaltlichen Überblick über die Zusammenstellung der Autoren und ihrer Beiträge gegeben hätten. Das wäre dem Leser und Rezensenten eine Hilfe dabei gewesen, die Gründe zu beurteilen, warum diese zweifelhaften Beiträge überhaupt in das Herausgeberbuch aufgenommen wurden.
Ein ideales Herausgeberbuch besteht nach meiner Auffassung in einer umfassenden Einleitung zum Thema des Buches, verbunden mit einem Überblick über die Beiträge der Autoren. Im Vorfeld wäre es auch schön, wenn den Autoren ein Einblick in die Beiträge der anderen Autoren gewährt werden könnte. Dann stehen die Beiträge nicht so unverbunden nebeneinander. Die Autoren könnten aufeinander reagieren und inhaltlich aufeinander eingehen. Aber ich gebe zu, daß das so viel Zeit und Arbeit kosten würde, daß es wohl mehr als ein oder zwei Jahre dauern würde, bis so ein Herausgeberband endlich fertig wäre und erscheinen könnte. Damit wären wohl alle Beteiligten, Herausgeber, Autoren und Verlag, überfordert. Schade.
Inhalt:
Friedo Ricken, Sterblichkeit – Gerechtigkeit – Freundschaft. Zum Menschenbild der Antike, S.13-30; Markus Enders, Die biblischen Grundlagen des christlichen Menschenbildes, S.31-63; Charlotte Bretschneider, Zum Beispiel Michel de Montaigne, S.64-79; Günter Zöller, Die Bestimmung des Menschen. Ein Diskurs in der deutschen Spätaufklärung, S.80-91; Andreas Urs Sommer, Der Mensch, das Tier und die Geschichte. Zur anthropologischen Desillusionierung im 19. Jahrhundert, S.92-109; Jan-Christoph Heilinger, Was heißt es, sich im Menschen zu orientieren? Die Bewertung biotechnologischer Veränderungen des Menschen, S.113-121; Claus Langbehn, Begriffe in der Sprache des Sichverstehens, S.122-143; Michael Hampe, Wir Menschen, S.144-162; Werner Stegmaier, Orientierung an Menschen. Zur Kritik der Anthropologie, S.163-181; Käte Meyer-Drawe, Träumend auf dem Rücken eines Tigers. Der Mensch im Modus der Verschwindens, S.182-195; Sebastian Schwenzfeuer, Kants Begründung der Ethik im Verhältnis zur Anthropologie, S.199-215; K.F. Martin Baesler, Das Problem der menschlichen Erfüllung in Kants Moralphilosophie und Anthropologie, S.216-227; Matthias Schlossberger, Anthropologie der Würde, S.228-240; Franziska Krause, Die Sorge des Menschen, S.241-255, Gernot Böhme, Gut Mensch sein. Eine Proto-Ethik, S.256-272; Thiemo Breyer, Der Mensch im Spiegel des Anderen, S.275-303; Markus Höfner, Defizit oder Auszeichnung? Menschliche Endlichkeit in theologischer Perspektive, S.304-323; Joachim Boldt, Vulnerabilität, Existenz und Ethik, S.324-337; Dieter Sturma, Der Mensch als Person. Zur dichten Beschreibung der humanen Lebensform, S.338-350; Claudia Bozzaro & Mark Schweda, Das Altern und die Zeit des Menschen, S.351-378; Giovanni Maio, Der herstellbare Mensch? Warum der Mensch auch im Zeitalter der Reproduktionsmedizin Anfang bleibt, S.381-394; Ludger Lütkehaus, Diktat der Geburt – Gentechnische Freiheit?, S.395-406; Tobias Eichinger, Der Wunsch nach Unsterblichkeit, S.407-422; Theda Rehbock, Krankheit als Grenzsituation und die Freiheit des Kranken, S.423-442; Martin Langanke & Micha H. Werner, Der kranke Mensch. Die Pathologisierung menschlicher Endlichkeit im Lichte medizinischer und medizintheoretischer Krankheitsbegriffe, S.443-469; Giovanno Maio, Demenz – oder die durch Beziehung gestiftete Identität, S.470-482; Andreas Brenner, Ich vegetiere, also bin ich. Zur Kritik des Hirntodkonzeptes, S.483-499

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(alle Rezensionen)

Dienstag, 19. Juli 2016

Hans Markus Heimann, Deutschland als multireligiöser Staat. Eine Herausforderung, Frankfurt a.M. 2016

(S. Fischer Verlag, gebunden, 249 S., 22,99 €)

1. Zusammenfassung
2. Schulaufsicht und Erziehungsauftrag
3. Staatliche Neutralität und Lebenswelt
4. ‚Blasphemie‘ und öffentlicher Friede

Als nach dem Anschlag auf Charlie Hebdo aus den Reihen der üblichen Verdächtigen, insbesondere der CSU, eine Verschärfung des deutschen ‚Blasphemie‘-Paragraphen gefordert wurde, machte mich das so zornig, daß ich beschloß, in meinem Blog „Auf der Grenze“ jeden Monat eine Religionsbeschimpfung zu posten. Es ging mir gegen den Strich, mir von irgendwelchen dahergelaufenen Möchtegerngläubigen und durchschnittlich unterbelichteten Fundamentalisten vorschreiben zu lassen, wo die Grenze zwischen berechtigter Religionskritik und Blasphemie verläuft.

Ich war noch am Schwanken, ob ich mich mit meinen Religionsbeschimpfungen nur auf meine eigene Herkunftsreligion beziehen oder ob ich mich abwechselnd gegen den Islam und das Christentum wenden sollte, als ich mich entschloß, mir vorher noch mal die besagten Paragraphem (§§166 und 167 StGB) genauer anzusehen. Da war ich dann allerdings doch erstaunt, wie harmlos die beiden Formulierungen der beiden Paragraphen letztlich ausfielen. Es ist darin gar nicht die Rede von den viel zitierten und in meinen Augen unsäglichen ‚religiösen Gefühlen‘, die angeblich qualitativ so anders ausfallen als die Allerweltsgefühle normaler Menschen. Stattdessen geht es in diesen Paragraphen um den „öffentlichen Frieden“ (§166) und um die handfeste Störung von Gottesdiensten (§167), was letztlich in meinen Augen tatsächlich nochmal eine andere Qualität hat, als die bloße Verletzung von irgendwelchen ominösen subjektiven Befindlichkeiten. Außerdem lege ich meistens – wenn ich nicht gerade zornig bin – großen Wert auf Achtsamkeit im Umgang mit meinen Mitmenschen. Und der Hinweis auf den „öffentlichen Frieden“ schien mir eigentlich nichts anderes zu beinhalten. Rücksichtnahme und Respekt sind eigentlich schätzenswerte soziale Tugenden, die uns allen gut anstehen. – Also legte ich den Plan einer monatlichen Religionsbeschimpfung wieder ad acta.

Hans Markus Heimann hingegen sieht genau hier, beim Begriff des öffentlichen Friedens, ein Problem mit dem Grundgesetz. In dem besagten Paragraphen des Strafgesetzbuches bildet der öffentliche Friede ein „Gegenrecht“ zu den Grundrechten der Meinungsfreiheit und der Kunstfreiheit. Mit ihm wird ein strafrechtlicher Eingriff in diese Grundfreiheiten begründet. Die Religionsfreiheit schützt außerdem nur „das Innehaben und Ausüben von Religion, nicht aber das Unberührtbleiben von jeglicher Kritik hieran“. (Vgl. Heimann 2016, S.130f.)

Indem der öffentliche Friede als Gegenrecht zu den Grundrechten der Meinungsfreiheit und der Kunstfreiheit mißbraucht wird, wird der Grundrechtsträger für die Ausübung seiner Grundrechte haftbar gemacht. Das Wahrnehmen eines Grundrechts wird so zur strafbewehrten Verursachung einer Störung des öffentlichen Friedens verdreht, während der eigentliche Störer dieses Friedens, nämlich der aggressiv reagierende Religionsangehörende, geschützt wird:
„Außerordentlich problematisch ist allerdings, dass derjenige, der wegen Religionsbeschimpfung bestraft wird, den öffentlichen Frieden gar nicht unmittelbar gestört hat, sondern hier nur die Möglichkeit angenommen wird, dass der öffentliche Friede über den Umweg der Angehörigen der beschimpften Religion gestört werden könnte.“ (Heimann 2016, S.131)
Zugleich wird den Religionsgemeinschaften mit dem Verweis auf den bedrohten öffentlichen Frieden ein Mittel in die Hand gegeben, die Regeln des gesellschaftlichen Lebens einseitig zu bestimmen. Denn sie sind es, die festlegen, wann eine Störung des Friedens eintritt und wann nicht:
„Auch wenn diese Möglichkeit einer Störung durch den Richter – wie es im Strafrecht heißt – als ‚objektives‘ Tatbestandsmerkmal festgestellt werden muss, ist genau hier das Einfallstor dafür gegeben, dass letztlich teilgesellschaftliche Vorstellungen dominant werden.“ (Heimann 2016, S.131f.)
Heimann kommt zu dem Schluß, daß der §166 StGB gegen das Grundgesetz verstößt und empfiehlt dem Bundestag dessen Abschaffung. (Vgl. Heimann 2016, S.132)

So viel zu scheinbar harmlosen Formulierungen wie „Störung des öffentlichen Friedens“.

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Montag, 18. Juli 2016

Hans Markus Heimann, Deutschland als multireligiöser Staat. Eine Herausforderung, Frankfurt a.M. 2016

(S. Fischer Verlag, gebunden, 249 S., 22,99 €)

1. Zusammenfassung
2. Schulaufsicht und Erziehungsauftrag
3. Staatliche Neutralität und Lebenswelt
4. ‚Blasphemie‘ und öffentlicher Friede

In gewisser Weise hat die grundgesetzlich festgelegte Neutralität des Staates etwas von der exzentrischen Positionalität des Menschen, wie sie Helmuth Plessner beschreibt und die eine psychophysische Neutralität auf der Grenze zwischen Innen und Außen ermöglicht: „... ortlos, im Nichts geht er (der Mensch – DZ) im Nichts auf, im raumzeithaften Nirgendwo-Nirgendwann“. (Vgl. „Stufen des Organischen“ 1928/1975, S.292) Die exzentrische Positionalität des Menschen bildet allerdings ein anthropologisches Prinzip und ist auf die ahistorische Dimension des Körperleibs bezogen. Die staatliche Neutralität hat hingegen ihre Historie:
„Die Verankerung der religiösen Neutralität des Staates in der Weimarer Reichsverfassung ist auch der konfessionellen Spaltung geschuldet, da bereits die bloße Existenz zweier großer Kirchen verhinderte, dass sich staatskirchliche Strukturen bis heute erhalten konnten.“ (Heimann 2016, S.26f.)
Das Verfassungsrecht kann, so Heimann, „seine Herkunft also nicht verleugnen“. (Vgl. Heimann 2016, S.201) Und das gilt nicht nur in historischer Hinsicht – zu der auch der dreißigjährige Krieg (1618-1648) gehört –, sondern das betrifft auch die Lebenswelt. Denn bei aller Zurückhaltung, die dem Staat gegenüber den Wertorientierungen seiner Bürger grundgesetzlich auferlegt ist, reichen lebensweltliche Reminiszenzen bis ins Grundgesetz und in die Urteile des Bundesverfassungsgerichts hinein. Man denke nur an die religiös begründeten Sonn- und Feiertagsregelungen.

Deshalb ist der Minderheitenschutz in einer Demokratie auch so fundamental. Gerade Mehrheiten sind besonders anfällig für lebensweltliche Voreingenommenheiten. Sie dürfen deshalb niemals herangezogen werden, um Beeinträchtigungen individueller Grundrechte zu rechtfertigen, wie es in Art.7Abs.4 des Bayerischen Gesetzes über das Erziehungs- und Unterrichtswesen geschieht, in dem der Gesetzgeber es letztlich von einer Mehrheitsentscheidung abhängig macht, ob in einem Schulzimmer das christliche Kreuz an der Wand hängen bleiben darf oder nicht. (Vgl. Heimann 2016, S.93f.) Heimanns Stellungnahme zu diesem Gesetzesartikel ist eindeutig: der Schutz von Grundrechten, so Heimann, darf niemals „Gegenstand einer Mehrheitsentscheidung sein“. (Vgl. Heimann 2016, S.94)

Es ist nicht so, daß Minderheiten vor solchen lebensweltlichen Einflüssen gefeit wären. Aber sie verfügen über eine andere Perspektive als die Mehrheit und decken so deren Befangenheiten und Vorurteile auf. Die kleinsten Minderheiten in einem Land bilden immer die Fremden. Und so kann z.B. nur ein Fremder überhaupt auf die Idee kommen, sich vom Anblick eines Folterinstruments samt Gemartertem, wie es das christliche Kreuz darstellt, beeinträchtigt zu fühlen.

Es ist in der abendländischen Kulturgeschichte und in der christlichen Theologie viel über das Kreuz nachgedacht und geschrieben worden. Die Auseinandersetzungen darüber, wie das christliche Kreuz zu verstehen ist, waren dabei oftmals von einem beeindruckenden intellektuellen Niveau getragen. Im dreißigjährigen Krieg sind zwei christliche Konfessionen mit aller unausdenklichen Brutalität übereinander hergefallen, weil sie die christliche Botschaft unter dem Zeichen des Kreuzes unterschiedlich ausgelegt haben. Aber bis zum Ende des 20. Jhdts. ist niemand auf die Idee gekommen, daß das Kreuz an den öffentlichen Wänden von Gerichten und Klassenzimmern nichts zu suchen habe. Die Unfähigkeit, auf diesen Gedanken zu kommen und ihn zu artikulieren, ist das, was Edmund Husserl die Lebenswelt nennt.

Jan Assmann bezeichnet die Lebenswelt als „unsichtbare Religion“. (Vgl. „Religion und kulturelles Gedächtnis“ 3/2007 (2000)), S.45-61) Damit stellt er zwei Ebenen auf plastische Weise in einen Zusammenhang: die Unbewußtheit lebensweltlicher Prozesse, die hinter unserem Rücken ablaufen und die wir deshalb nicht bewußt thematisieren und fokussieren können, und die quasi-religiöse Verwurzelung des Menschen in dieser Lebenswelt, die dessen exzentrische Positionalität unterläuft. Aufgrund dieser quasi-religiösen Verwurzelung reagieren Menschen besonders heftig und aggressiv auf die Infragestellung von Gewißheiten, deren sie sich bis zu diesem Zeitpunkt noch nicht einmal bewußt gewesen waren. Und diese Infragestellung kommt immer von in diesem Sinne ‚Fremden‘, die man dann glaubt ausgrenzen zu müssen, um die eigenen ‚Werte‘ vor ihnen zu schützen. Mit Bezug auf die neueren Religionskonflikte im Umfeld islamischer Einwanderer (und Christen) schreibt Heimann:
„Die Konfliktfälle finden wahrscheinlich auch deshalb verstärkte Aufmerksamkeit, weil in der Auseinandersetzung mit ihnen gewohnte Lebensweisen in Frage gestellt werden und auf diese Weise religionssoziologische und damit gesellschaftliche Veränderungen schlagartig deutlich werden.“ (Heimann 2016, S.91)
Es ist dieses ‚schlagartige‘ Herausfallen aus lebensweltlichen Gewißheiten, das die Konflikte so brisant macht. Und es ist genau diese bis auf den dreißigjährigen Krieg zurückreichende Erfahrung, die die staatliche Neutralität zu einer höchst aktuellen Grundlage des Zusammenlebens der Bürger in einem Land macht, das das Spannungsverhältnis von kultureller Einheit und Vielfalt in einer bislang nicht erlebten Kraftanstrengung in ein neues Gleichgewicht überführen muß.

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Sonntag, 17. Juli 2016

Hans Markus Heimann, Deutschland als multireligiöser Staat. Eine Herausforderung, Frankfurt a.M. 2016

(S. Fischer Verlag, gebunden, 249 S., 22,99 €)

1. Zusammenfassung
2. Schulaufsicht und Erziehungsauftrag
3. Staatliche Neutralität und Lebenswelt
4. ‚Blasphemie‘ und öffentlicher Friede

Zur weltanschaulichen und religiösen Neutralitätspflicht des Staates gehört, daß der deutsche Staat anders als beim Laizismus in Frankreich den Religionsgemeinschaften gegenüber keine eigene, wertegebundene Position einnehmen darf, die über die im Grundgesetz aufgeführten Grundwerte hinausgeht. Solche Grundwerte sind Heimann zufolge die „Achtung der Menschenwürde, Gerechtigkeit, Gewaltlosigkeit, Achtung vor dem Leben, Achtung vor dem Gesetz, Achtung vor der Mehrheitsentscheidung oder Rücksicht auf Minderheiten“. (Vgl. Heimann 2016, S.171)

Dabei erscheint es mir aber als problematisch, auf der Ebene des Grundgesetzes pauschal von ‚Werten‘ zu sprechen. Auch Heimann selbst verwendet vorsichtshalber Anführungsstriche, wenn er von der „‚Werteordnung‘ des Grundgesetzes“ spricht. (Vgl. Heimann 2016, S.40) Zumindestens bei einigen von ihnen – abgesehen von der Achtung der Menschenwürde und des Lebens und auch abgesehen von der Gewaltlosigkeit – handelt es sich eher um formale Prinzipien, bei deren Anwendung es allererst auf eine Klärung hinsichtlich der Werte ankommt, um die es im Rahmen dieser Prinzipien gehen soll. Die Achtung vor dem Gesetz abstrahiert von den Inhalten, um die es dabei geht, und deshalb ist diese Achtung sicher immer auch mit einem Abwägungsprozeß verbunden, wie weit sie gehen kann, ohne z.B. das Grundrecht der Achtung auf Menschenwürde zu beschädigen. Das Gleiche gilt für Mehrheitsentscheidungen, bei denen ebenfalls noch gar nicht von irgendwelchen konkreten Werten und Interessen die Rede ist. Auch Minderheiten sind nicht einfach nur Minderheiten, sondern vertreten wiederum unterschiedliche Werte und Interessen, wobei sie sogar im Rahmen der Weltanschauungs- und Religionsfreiheit das Recht auf eine eigene „grundgesetzwidrige Vorstellung der Welt“ haben, solange sie diese Vorstellung nicht in konkretes, das Grundgesetz gefährdendes Handeln umsetzen (vgl. Heimann 2016, S.43) bzw. solange sie sich dabei im privaten Raum innerhalb der Grenzen ihrer Weltanschauungs- und Religionsgemeinschaft bewegen und dort außerdem keine Attentate auf die Grundrechte anderer vorbereiten (vgl. Heimann 2016, S.107, 171). Nicht zuletzt der Begriff der Gerechtigkeit kann auf die verschiedensten Wertvorstellungen bezogen werden und bezeichnet letztlich nichts anderes als den allen Menschen gleichermaßen zustehenden Zugriff auf die Ressourcen des Lebens und der Gesellschaft, die dann wiederum hinsichtlich ihrer Werthaltigkeit sehr unterschiedlich interpretiert werden können.

Der dem Staat vom Grundgesetz auferlegte Schutz der freiheitlich-demokratischen Grundordnung (vgl. Heimann 2016, S.39f.) bezieht sich nicht auf irgendwelche konkreten Werte und Interessen, sondern auf solche formalen Prinzipien, die die gesellschaftliche und individuelle Ausprägung konkreter, gewissens- und religionsbasierter Überzeugungen – ohne zu den Mitteln der Gewalt zu greifen – überhaupt erst ermöglichen. Dabei ist es dem Staat noch nicht einmal erlaubt, zu definieren, was eine Religionsgemeinschaft ist; zumindestens nicht inhaltlich. Zur Unterscheidung zwischen Weltanschauung und Religion bleibt ihm nur der Transzendenzbezug einer Religionsgemeinschaft, wobei der Begriff der Transzendenz wiederum weitere begriffliche Schwierigkeiten mit sich bringt. (Vgl. Heimann 2016, S.55)

Diese gleichermaßen grundsätzliche wie grundgesetzlich geforderte Neutralitätspflicht des Staates gegenüber den wertbezogenen Überzeugungen seiner Bürger bringt nun gerade in dem Bereich der staatlichen Schulaufsicht gemäß dem Art.7 Abs.1 GG besondere Schwierigkeiten mit sich, zumal diese Schulaufsicht in Abs.3 desselben Artikels mit einem von den verschiedenen Religionsgemeinschaften getragenen Religionsunterricht verknüpft ist, der wiederum als Bestandteil der durch das Grundgesetz garantierten Religionsfreiheit gedeutet wird. Gleich in zweifacher Hinsicht wird hier die Wertneutralität des Staates auf die Probe gestellt. Zum einen wird die Schulaufsicht des Staates durch einen Bildungsauftrag ergänzt: der Staat soll gewährleisten, daß „alle() jungen Bürger() gemäß ihren Fähigkeiten“ Zugang zu den „dem heutigen gesellschaftlichen Leben entsprechenden Bildungsmöglichkeiten“ erhalten. (Vgl. Heimann 2016, S.187f.) Zu diesem Bildungsauftrag gehört auch die staatliche Verantwortung für das „inhaltliche und didaktische Programm der Lernvorgänge sowie das Setzen der Lernziele“. (Vgl. Heimann 2016, S.188)

Da in Deutschland die staatliche Schulaufsicht mit einer staatlichen Schulpflicht verknüpft ist, greift der Staat hier tief in die Grundrechte von Eltern und Schülern ein, und zugleich gerät er über die Festlegung von Lern- und Bildungszielen in Konflikt mit seiner eigenen Neutralitätsverpflichtung. Das wird konkret an der landläufigen Vorstellung deutlich, daß neben der fachlichen Bildung eine der Hauptaufgaben der Schule in der ‚Wertevermittlung‘ bestehe.

Zum anderen droht ein weiterer Konflikt mit der staatlichen Neutralitätsverpflichtung an der Stelle, wo dem Staat vom Grundgesetz die Förderung von Religionsgemeinschaften – „als spezielle Ausprägung der Religionsfreiheit“ (Heimann 2016, S.199) – in Form von bekenntnisorientiertem Religionsunterricht auferlegt wird. Vielfach zieht man sich damit aus der Affäre, daß man den Religionsunterricht gemeinhin damit begründet, daß ja der bekenntnisorientierte Religionsunterricht genau die Lücke ausfüllen könnte, die der Staat aufgrund seiner Neutralitätsverpflichtung offen lassen muß. Der bekenntnisorientierte Religionsunterricht erscheint „ein(em) größere(n) Teil der Bevölkerung“, so Heimann, „als sehr geeignet zur moralischen Auffüllung eines ‚Freiheitsvakuums‘“. (Vgl. Heimann 2016, S.173f.) Auch in der neueren Philosophiegeschichte wird so argumentiert. So hat z.B. Jürgen Habermas, der eine atheistische Weltsicht vertritt, inzwischen der Religion eine gesellschaftliche Notwendigkeit zugebilligt, jene lebensweltlichen Sinnressourcen sicherzustellen, vor derem Hintergrund ein öffentlicher Diskurs erst möglich wird.

Heimann hält einer vergleichbaren Begründung des Religionsunterrichts entgegen, daß sie der Intention des Grundgesetzes widerspricht. Der Staat würde sich, so Heimann, über die grundgesetzlich geforderte Förderung des Religionsunterrichts hinwegsetzen und die Religionsgemeinschaften in seinen staatlichen Dienst nehmen. (Vgl. Heimann 2016, S.199) Es handelt sich dabei gewissermaßen um eine neuer Art von Staatskirchentum, was der strikten Trennung vom Staat und Kirche widerspricht. (Vgl. Heimann 2016, S.176f.) Heimann hält in aller wünschenswerten Deutlichkeit fest: „Derartiges kommt dem Staat nicht zu, wie überhaupt einer Instrumentalisierung von Religion im Dienst der Moral und von Moral im Dienst der Staatserhaltung mit Vorsicht begegnet werden sollte.“ (Heimann 2016, S.174)

Alle diese Mißdeutungen des Grundgesetzes als ‚Werteordnung‘ gehen auf den problematischen Begriff der Wertevermittlung zurück. Die staatliche Neutralitätsverpflichtung bedeutet eben zuallererst, daß es bei der Erfüllung des Bildungsauftrags eben nicht um die Vermittlung von Werten gehen kann. Heimann weist völlig zu Recht darauf hin, daß auch aus „pädagogischer Sicht“ „Zweifel an der Wirksamkeit ‚normativer Didaktik‘“ bestehen. (Vgl. Heimann 2016, S.171; vgl. auch S.169) Alles was die Pädagogik leisten kann und alles was der Staat im Rahmen seiner Schulaufsicht leisten darf, besteht in der Vermittlung und Übung von Fähigkeiten und Kompetenzen im Rahmen einer Werturteilsbildung! (Vgl. Heimann 2016, S.172) Es geht darum, die Schüler zu einer inneren Distanz gegenüber ihren eigenen Werthaltungen und Wertüberzeugungen zu befähigen, und nicht um Wertevermittlung. Dem Staat und der Gesellschaft in ihrem Verhältnis zum Staat bleibt Heimann zufolge nichts anderes übrig als darauf zu vertrauen, daß „die Normierungen des Grundgesetzes für das staatliche Handeln und die kritische Reflexion von Moralsystemen im Ethikunterricht“ ausreichen, „um den für eine Gesellschaft in dieser Hinsicht notwendigen Fundamentalkonsens zu erreichen“. (Vgl. Heimann 2016, S.175)

Das alles hat entsprechende Auswirkungen auf die Aufgabenverteilung zwischen dem Ethikunterricht und dem Religionsunterricht. Unter dem Anspruch der „Wertevermittlung“ werden im öffentlichen Diskurs beide Unterrichtsfächer in einem Konkurrenzverhältnis zueinander gesehen. (Vgl. Heimann 2016, S.168f.) Aber hier ist es vor allem der Religionsunterricht, der tatsächlich aufgrund seiner Bekenntnisorientierung konkrete Werte vermittelt, und zwar eben nicht im staatlichen oder gesellschaftlichen Auftrag, sondern aus eigenem, den Religionsgemeinschaften vom Grundgesetz zugebilligtem Recht! Die einzige Grenze, die der Staat dem Religionsunterricht hier ziehen darf, besteht in der „Achtung“ und dem „Schutz der Menschenwürde als des tragenden Konstruktionsprinzips und obersten Grundwerts der freiheitlichen, demokratisch verfassten Grundordnung“. (Vgl. Heimann 2016, S.192)

Diese Grenze darf der Staat den jeweiligen Religionsgemeinschaften aber nur ziehen, solange sie in seinen öffentlichen Einrichtungen tätig sind. In ihrem eigenen privaten Bereich sind die Religionsgemeinschaften, wie schon erwähnt, frei, vom Grundgesetz abweichende Vorstellungen zu verwirklichen, solange sie dabei nicht die Grundrechte anderer verletzen.

Der Ethikunterricht – der kein Religionsersatzunterricht ist – darf hingegen überhaupt keine Werte vermitteln. (Vgl. Heimann 2016, S.176) Natürlich dürfen und müssen Werte thematisiert werden. Sie dürfen nur nicht vermittelt werden. Es bleibt den Schülern und ihrer Urteilskompetenz, die ja durch den Ethikunterricht gefördert und geübt werden soll, überlassen, an welchen Werten sie sich orientieren wollen:
„Im Ethikunterricht zeigt sich staatliche Neutralität also nicht durch das Ignorieren weltanschaulicher und religiöser Fragen, sondern im Verbot der Identifikation. Der Unterricht muss nicht weltanschauungsfrei, sondern weltanschauungsneutral sein. Daher ist die Vermittlung ethischer Vorstellungen und Grundsätze in ihrer pluralistischen Vielfalt ebenso wie die Förderung des Zugangs zu den dafür maßgeblichen philosophischen und religionskundlichen Fragestellungen rechtlich erlaubt.“ (Heimann 2016, S.170)
Heimann schlägt deshalb vor, den Ethikunterricht nicht in Konkurrenz zum Religionsunterricht, sondern als „Teildisziplin der Philosophie“ zu verstehen. (Vgl. Heimann 2016, S.172) Dabei stellt er eine besondere Herausforderung für die Lehrerpersönlichkeit dar:
„Selbstverständlich stellt ein solcher wertneutraler Ethikunterricht hohe Anforderungen an die intellektuelle Redlichkeit der Lehrer, die Gefahr des Umschlagens in einen weltanschaulichen Unterricht ist stets präsent.“ (Heiman 2016, S.172)
Damit kommt Heimann auf eine weitere Problematik zu sprechen, die mit der staatlichen Schulaufsicht verbunden ist. Im Rahmen dieser Schulaufsicht haben wir es mit verschiedenen Grundrechtsträgern zu tun, deren Grundrechte gleichzeitig geschützt und gegeneinander abgewogen werden müssen. Zu diesen Grundrechtsträgern gehören neben den Eltern zuallererst die Schüler und die Lehrer. Aufgrund der Schulpflicht, die die Schüler zum Schulbesuch zwingt, sind sie im besonderen Maße vor Beeinträchtigungen ihrer Grundrechte zu schützen. Das zeigt sich nirgendwo so deutlich wie beim Umgang mit religiösen Symbolen. So sind die Schüler selbstverständlich im Rahmen der Religions- und Gewissensfreiheit berechtigt, ihre Überzeugungen öffentlich zu dokumentieren. Wie aber sieht es mit den diesbezüglichen Rechten der Lehrerinnen und Lehrer aus?

Heimann diskutiert detailliert, wie weit die Lehrer als Grundrechtsträger ihre eigenen Überzeugungen vertreten dürfen, und er geht dabei insbesondere auf das Kreuz und auf das Kopftuch ein. Im Falle des Kreuzes unterscheidet das Bundesverfassungsgericht zwischen dem Kreuz an der Wand eines Unterrichtsraums und dem Kreuz als Bestandteil der Kleidung einer Lehrkraft. (Vgl. Heimann 2016, S.92, 99f., 103) Das Kreuz an der Wand stellt einen unberechtigten Eingriff in die Grundrechte der Schüler dar, das Kreuz an der Kleidung einer Lehrkraft bzw. das Kopftuch hingegen nicht. Was das Kopftuch betrifft, geht Heimann sogar so weit, an dieser Stelle auch die Burka und den Niqab miteinzubeziehen. (Vgl. Heimann 2016, S.107) Diese Formen der Verschleierung seien nur in einem pädagogischen Sinne bedenklich, insofern sie die Kommunikation zwischen Schülern und Lehrern beeinträchtigen. Das sei aber beim Kopftuch gerade nicht der Fall, weshalb ein Kopftuchverbot grundgesetzlich nicht gerechtfertigt werden kann. Es komme bei der Berufsausübung einer Lehrerin nicht auf die Bekleidung an, sondern auf deren Verhalten:
„Für die staatliche Neutralität ist nicht von Belang, dass die Religion oder Weltanschauung einer Beschäftigten bekannt ist oder deutlich wird, sondern dass sich der Beschäftigte im Dienst neutral verhält.“ (Heimann 2016, S.104)
Als das Bundesverfassungsgericht erstmals 1995 entschied, daß das Kreuz in staatlichen Schulräumen nichts zu suchen habe, hatte Bayern noch im gleichen Jahr den entsprechenden Artikel seiner Landesverfassung modifiziert. (Vgl. Heimann 2016, S.91ff.) Darin heißt es jetzt, daß der jeweilige Schulleiter im Konfliktfalle für einen Interessensausgleich zwischen Befürwortern und Gegnern des Kreuzes zu sorgen habe, wobei er die Mehrheitsentscheidung der Betroffenen berücksichtigen müsse. (Vgl. Heimann 2016, S.93f.) Heimann zufolge ist auch der modifizierte Landesverfassungsartikel immer noch grundgesetzwidrig:
„Insbesondere wird verkannt, dass grundrechtlicher Schutz nicht Gegenstand einer Mehrheitsentscheidung sein kann, zumal der Staat sich nicht mit dem Willen einer Mehrheit als Begründung seiner verfassungsrechtlich gebotenen Verpflichtung zur Neutralität entziehen kann.“ (Heimann 2016, S.94)
Anscheinend hat sich bislang aber kein Kläger gegen diesen Artikel gefunden. Und wo (bislang) kein Kläger, da (bislang) auch kein Urteil.

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Samstag, 16. Juli 2016

Hans Markus Heimann, Deutschland als multireligiöser Staat. Eine Herausforderung, Frankfurt a.M. 2016

(S. Fischer Verlag, gebunden, 249 S., 22,99 €)

1. Zusammenfassung
2. Schulaufsicht und Erziehungsauftrag
3. Staatliche Neutralität und Lebenswelt
4. ‚Blasphemie‘ und öffentlicher Friede

Durch die Lektüre des Buches „Deutschland als multireligiöser Staat“ (2016) von Hans Markus Heimann hat sich mir ein völlig neues Verständnis der deutschen Rechtsprechung erschlossen. Es war mir bislang nicht bewußt gewesen, auf welchem hohen Niveau im Bereich der Rechtssprechung in Deutschland über den Menschen und über das gedeihliche Zusammenleben in einer modernen offenen Gesellschaft nachgedacht und – im Falle der Gerichte – geurteilt wird. Zwar habe ich immer wieder und mit zunehmendem Respekt die Urteile des Verfassungsgerichts unter dem Vorsitz von Andreas Voßkuhle zur Kenntnis genommen, aber das Denken bzw. die „Dogmatik“, wie die Juristen den „rechtswissenschaftliche(n) Diskussionsstand“ nennen, aufgrund dessen bzw. aufgrund deren die Verfassungsrichter zu ihren Urteilen kommen (vgl. Heimann 2016, S.12), war mir bislang völlig unbekannt.

Dabei sollte sich jeder interessierte Bürger in Deutschland – und jeder Bürger sollte interessiert sein, da es hier um seine Grundrechte geht – einmal mit den Grundprinzipien dieser Dogmatik auseinandergesetzt haben. Dann würden viele leichtfertige Äußerungen gerade auch von Seiten der Politik zu angeblich notwendigen Grundgesetzänderungen unterbleiben. Denn alles das, was uns in dieser Hinsicht aufgrund tagesaktueller Ereignisse als wünschenswert erscheint – von der angeblichen ‚Überfremdung‘ deutscher Kultur durch einwandernde Flüchtlinge bis hin zu den immer mehr zur Normalität werdenden Terroranschlägen des ‚IS‘ und seiner Franchisenehmer –, stellt nicht etwa Anlässe zu einer angeblich notwendigen ‚Anpassung‘ des Grundgesetzes dar. Viel eher verdeutlichen diese Ereignisse ein ums andere Mal, wie sehr das Grundgesetz aus Erfahrungen mit genau den gesellschaftlichen Konflikten hervorgegangen ist – insbesondere Erfahrungen des dreißigjähirgen Krieges (1618-1648) und des dritten Reichs (1933-1945) –, mit denen wir es auch heute wieder und diesmal auf globaler Ebene zu tun haben.

Juristen wie Hans Markus Heimann muß es angesichts des alltäglichen öffentlichen Geredes über die Grund- und Menschenrechte ähnlich gehen wie vielen Erziehungswissenschaftlern, die sich anhören müssen, wie in Politik und im Feuilleton Begriffe wie ‚Erziehung‘ und ‚Bildung‘ ihres Sinns beraubt und zu Schlagworten im Rahmen kleinlicher Interessenskonflikte herabgewürdigt werden. Dabei zeigt wiederum gerade Heimann selbst, wie sehr er über den Tellerrand seines Fachs hinwegzublicken vermag. Seine Erörterungen zu den Möglichkeiten und Grenzen von Pädagogik im Bereich der ‚Wertevermittlung‘ bewegen sich auf höchstem erziehungswissenschaftlichem Niveau. Das zeigt sich insbesondere dort, wo Heimann den Begriff der ‚Wertevermittlung‘ in Frage stellt (vgl. Heimann 2016, S.176f.) und darauf insistiert, daß es im Schulunterricht vor allem auf die Förderung der „ethischen Urteilsfähigkeit und Kompetenz“ ankommt (vgl. Heimann 2016, S.172). Ein solches Differenzierungsvermögen ist heutzutage nicht einmal mehr in meiner eigenen Zunft, der Erziehungswissenschaft, so verbreitet, wie ich es mir wünschen würde.

Angesichts von Heimanns Reflexionsniveau verwundert vor allem der Titel des Buches, in dem vom ‚multireligiösen Staat‘ die Rede ist. Es ist aber wiederum Heimann selbst, der auf die Problematik dieser Formulierung hinweist. (Vgl. Heimann 2016, S.16ff.) Sie ist in gleich mehrfacher Hinsicht mißverständlich. Zunächst einmal könnte man aufgrund dieser Formulierung den Eindruck gewinnen, es handelte sich bei der Multireligiösität um ein „von lokalen Erfahrungen losgelöstes Idealmodell“. (Vgl. Heimann 2016, S.17) Tatsächlich aber geht es bei der durch das Grundgesetzt garantierten Religionsfreiheit nicht um eine allgemeine religiöse Befindlichkeit, sondern um konkrete Glaubensbekenntnisse. Der Staat ist auf „eindeutige() Ansprechpartner“ angewiesen, die „Bekenntnisinhalte“ vorgeben. (Vgl. Heimann 2016, S.199) Er selbst hat aufgrund seiner Neutralitätsverpflichtung keinerlei Berechtigung, irgendwelche Bekenntnisinhalte vorzugeben, als „Idealmodell“ zu verallgemeinern und als grundrechtskonform zu deklarieren.

Außerdem beschreibt der Begriff der Multireligiösität Heimann zufolge weniger den Staat als vielmehr die moderne Gesellschaft – und auch hier wiederum nur ungenau: denn diese Gesellschaft ist inzwischen zu einem großen Teil areligiös und nicht multireligiös. (Vgl. Heimann 2016, S.17) Wenn Heimann dennoch vom ‚multireligiösen‘ Staat spricht, so will er darauf hinaus, daß der Staat den grundgesetzlichen Auftrag hat, die Religionsfreiheit zu gewährleisten. Dabei soll der Begriff der Multireligösität auch den Begriff der Weltanschauung umfassen, also nicht nur Religionsfreiheit, sondern auch Weltanschauungsfreiheit gewährleisten, wobei der Begriff der Religiösität, so Heimann, in diesem begrifflichen Konstrukt noch einmal verdeutlicht, daß die eigentlichen Herausforderungen heutzutage nicht im Bereich der Weltanschauung, sondern im Bereich der Religion liegen. (Vgl. Heimann 2016, S.17f.)

Das alles erscheint mir aber als sehr umwegig argumentiert. Der Begriff des ‚multireligösen Staates‘ bringt so viele Schwierigkeiten und Mißverständnisse mit sich, daß man ihn besser gar nicht verwenden sollte. Für den modernen Grundrechtsstaat ist das Neutralitätsgebot wesentlich. Dieses beinhaltet die Trennung von Kirche und Staat:
„Diese Norm, die 1919 vor allem auf die Beendigung des landesherrlichen Kirchenregiments abzielte, ist bis heute für das staatliche Handeln von fundamentaler Bedeutung, da sich keine staatliche Stelle in irgendeiner Form mit Religion identifizieren oder gar selbst auf dem Feld der ‚Religion handeln darf. In Verbindung mit der negativen Religionsfreiheit des Einzelnen verbürgt der Trennungsgrundsatz den Anspruch, dass der deutsche Staat sich keine Religion zu eigen macht.“ (Heimann 2016, S.26)
Der Trennungsgrundsatz ist so weitreichend, daß der Staat den verschiedenen Religionen gegenüber nicht einmal ‚tolerant‘ sein darf. Auch so könnte man ja den Begriff der Multireligiösität mißverstehen. Toleranz beinhaltet, daß man durchaus einen eigenen Standpunkt hat, aber die anderen Standpunkte toleriert. Hätte man keinen eigenen Standpunkt, gäbe es auch nichts zu tolerieren:
„Der moderne Grundrechtsstaat ist in seinem Handeln auf dem Feld von Glauben und Religion nämlich gerade nicht tolerant. Der Anachronismus hat seinen Grund darin, dass Toleranz nach allgemeiner Auffassung eine Ablehnungskomponente enthält. Die tolerierten Praktiken oder Überzeugungen werden in einem normativen Sinn als falsch angesehen oder als schlecht verurteilt; wäre dies nicht der Fall, hätte man es begrifflich nicht mit Toleranz, sondern entweder mit Indifferenz oder sogar mit Bejahung zu tun.“ (Heimann 2016, S.38)
Die grundgesetzliche Neutralitätsverpflichtung bedeutet deshalb auch keinen Laizismus. Der Laizismus des französischen Staates beinhaltet selbst wiederum eine Weltanschauung, und eine solche ist dem deutschen Staat verwehrt. Der einzige Standpunkt, der dem deutschen Staat vom Grundgesetz zugebilligt und ihm sogar auferlegt wird, ist der des Schutzes der Grundrechte bzw. der „freiheitlich-demokratischen Grundordnung“. (Vgl. Heimann 2016, S.39 u.ö.) Dies ist der einzige Bereich, in dem der Staat nicht neutral und schon gar nicht ‚tolerant‘ sein darf. Genau deshalb gibt es auch, wie eingangs schon erwähnt, eine Dogmatik, d.h. einen rechtswissenschaftlichen Diskurs, in dem das ‚System‘ der Grundrechte austariert wird. Mit Ausnahme der Menschenwürde gilt kein Grundrecht, auch nicht die Religionsfreiheit, absolut: „Ein erster wichtiger Schritt zum Verständnis von Grundrechten ist die Erkenntnis, dass diese, von der in Art.1 GG geschützten Menschenwürde abgesehen, keinen absoluten Schutz vor staatlichen Eingriffen gewähren.“ (Heimann 2016, S.50)

Die verschiedenen Grundrechte geraten im gesellschaftlichen Leben immer wieder miteinander in Konflikt. So befindet sich die Religionsfreiheit im Dauerkonflikt mit der Meinungsfreiheit, der Kunstfreiheit und der freien Entfaltung der Persönlichkeit:
„Wie immer in multipolaren Grundrechtskonstellationen kann die Inanspruchnahme religiöser Freiheit aber die Freiheiten Dritter beschneiden oder grundlegende Verfassungskonstanten tangieren, zumal letztlich alle Lebensbereiche als Teil der Religionsausübung verstanden werden können. Gerade hier muss angesichts neuer gesellschaftlicher Entwicklungen stets ein neuer Ausgleich gefunden werden.“ (Heimann 2016, S.13)
Es kommt also immer wieder zu notwendigen Abwägungsprozessen zwischen den verschiedenen Grundrechten, wobei von jedem Bürger erwartet werden kann, daß er mögliche Beeinträchtigungen seiner individuellen Freiheitsrechte innerhalb gewisser Grenzen zu ertragen und zu akzeptieren vermag:
„Die große Schwierigkeit ist, dass jeder Einzelne für sein Verhalten zu akzeptieren hat, dass das staatliche Handeln nicht den Normen einer Religion unterworfen werden darf. Jeder Bewohner Deutschlands muss für sein Tun anerkennen, dass Voraussetzung für ein Leben mit dem Grundgesetz die Akzeptanz der staatlichen Neutralität, der Geltung der Grundrechte und des demokratischen Herrschaftssystems mit Ausschluss jeglicher Gewalt- und Willkürherrschaft ist, also das, was im Verfassungsrecht als ‚freiheitlich-demokratische Grundordnung bezeichnet wird. Damit geht gegebenenfalls eine Relativierung der eigenen Religion oder Weltanschauung einher.“ (Heimann 2016, S.224f.)
Das Verhalten des Bürgers ist also für die Geltung des Grundgesetzes relevant. Ursprünglich mag es sich zwar nur an den Staat und nicht an den Bürger gerichtet haben, im Sinne von „Abwehrrechte(n) des Bürgers gegenüber dem Staat“. (Vgl. Heimann 2016, S.126) Aber inzwischen bezieht die Rechtssprechung des Verfassungsgerichts auch ‚Dritte‘ in seine Urteilsbegründungen ein, die die Grundrechte des einzelnen Bürgers ebenfalls bedrohen können, also andere gesellschaftliche Institutionen und Teilbereiche. (Vgl. Heimann 2016, S.126) Dazu gehört z.B. das kirchliche Arbeitsrecht, das die Freiheitsrechte kirchlicher Mitarbeiter erheblich einschränkt.

Darüber hinaus gilt das Grundgesetz nicht in irgendeinem luftleeren Raum: es bedarf der Zustimmung durch die Bürger bzw. durch die ‚Gesellschaft‘. Es gilt nur, solange eine Mehrheit der Bürger daran festhält:
„In der konkreten religiösen Zusammensetzung der Gesellschaft des multireligiösen Staates darf deshalb der Anteil derer, die seine ‚freiheitlich-demokratische Grundordnung‘ – sei es aktiv, sei es passiv – ablehnen, nicht so groß sein, dass seine Existenz gefährdet wird. Insofern ist nicht der multireligiöse Staat mit seinen schwierigen, aber auf der Grundlage von Religionsfreiheit und Neutralität lösbaren Fragen die eigentliche Herausforderung, sondern die mögliche Überforderung durch diejenigen, die seine Freiheit letztlich ablehnen.“ (Heimann 2016, S.226)
Hinzu kommt die grundgesetzliche Bedeutung eines öffentlichen Diskurses, also von verhaltens- und gesinnungsspezifischen Stellungnahmen der Bürger als einem der drei Pfeiler, auf denen die Dogmatik des Grundgesetzes beruht. Heimann hält fest, daß die „Flexibilität“ des Grundgesetzes, mit deren Hilfe die jeweils aktuellen gesellschaftlichen Konflikte geklärt werden können, auf dem „Zusammenspiel von Gesetzgeber, verfassungsrichterlicher Kontrolle und öffentlichem Diskurs“ beruht. (Vgl. Heimann 2016, S.222) Denn die Gesetzgeber und die Verfassungsrichter agieren nicht getrennt vom gesellschaftlichen Kontext. Sie sind vielmehr selbst Teil der gesellschaftlichen Prozesse, und sie müssen ihre Entscheidungen nicht zuletzt vor dem Hintergrund des konkreten Entwicklungsstands der gesellschaftlichen Bedürfnisse begründen. Nur so konnte z.B. ein Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung entstehen, das nicht explizit im Grundgesetz vorkommt, aber aus dem Persönlichkeitsrecht von Art.2 Abs.1 GG abgeleitet wird.

Das Grundgesetz richtet sich also längst nicht mehr nur an den Staat, sondern auch an jeden einzelnen Bürger. In diesem Sinne wird auch die grundgesetzlich festgelegte staatliche Schulaufsicht verstanden, die mit einem eigenen Bildungsauftrag verbunden wird. (Vgl. Heimann 2016, S.187f.) So etwas widerspricht eigentlich dem staatlichen Neutralitätsgebot. Ein solcher Bildungsauftrag kann aber mit der Verpflichtung des Staates zum Schutz der freiheitlich-demokratischen Grundordnung gerechtfertigt werden. Das Grundgesetz kann seine freiheitliche Wirksamkeit nur entfalten, wenn die Bürger in der Lage sind und durch Erziehung und Bildung dazu in die Lage versetzt werden, die Relativierung der eigenen Freiheitsrechte zu ertragen und zu akzeptieren und darüber hinaus in einem öffentlichen Diskurs zur Weiterentwicklung der Grundrechtsdogmatik beizutragen.

Vor diesem Hintergrund beurteilt Heimann das Grundgesetz in seiner Funktion, „bei größtmöglicher religiöser Freiheit das friedliche Zusammenleben seiner Einwohner“ – also der Einwohner des „multireligiösen Staates“ – „zu gewährleisten“, ausgesprochen positiv. (Vgl. Heimann 2016, S.221) Trotz der aus seiner Historie hervorgehenden „Regelungs- und Anwendungsinkonsistenzen“ (Heimann 2016, S.221), wie z.B. die religiös begründeten Sonn- und Feiertagsregelungen (vgl. Heimann 2016, S.35f.) oder die verschiedenen ‚Staatsverträge‘ mit nicht-staatlichen Religionsgemeinschaften (vgl. Heimann 2016, S.211ff.), hat sich das Grundgesetz Heimann zufolge bislang bewährt und wird sich auch in Zukunft in einer zunehmend multikultureller werdenden Gesellschaft bewähren und weiterentwickeln.

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Dienstag, 5. Juli 2016

Gunter Gebauer, Wittgensteins anthropologisches Denken, München 2009

1. Zusammenfassung
2. Positionalitäten
3. Bilder und Folien
4. Sprachspiel und Expressivität
5. Pädagogik und Kybernetik

Immer wieder zeigt sich, wie sehr Wittgenstein an einer Steuerung des menschlichen Verhaltens interessiert ist. Darum geht es nicht nur in seiner Philosophie, sondern auch in seinen verschiedenen Berufen als Ingenieur, Architekt, Pädagoge und Gärtner. Immer geht es darum, Dinge und Menschen dazu zu bringen, etwas zu tun und es auf die richtige Weise zu tun. Auch für den für Wittgenstein zentralen Begriff des Sprachspiels ist das kybernetische Interesse fundamental. Immer wieder verweist Gebauer auf Wittgensteins „mechanistisches Konzept der Sprache“: „Der Interaktion von Welt – Sprache – Mensch entspricht das Zusammenspiel von Maschine – Hebel (Instrument) – Benutzer.“ (Gebauer 2009, S.73)

Gebauer beharrt zwar darauf, daß dieses mechanistische Konzept vor allem zur Phase des „Tractatus“ (1921) gehöre und sich später in den „Philosophischen Untersuchungen“ (posthum 1953) „verändert“ habe (vgl. Gebauer 2009, S.73). Aber letztlich hat sich das mechanistische Modell einer Benutzung von Hebeln nur in Richtung auf ein Homöostase-Modell verfeinert, in dem sich die verschiedenen ‚Zustände‘ der Spieler eines Sprachspiels über die gemeinsame soziale Praxis wechselseitig angleichen:
„In diesen Überlegungen entsteht ein neues Bild der Sprachspielregeln; zwar leiten Regeln in gewisser Hinsicht die Spieler an, insofern sie angeben, was diese im Spiel zu tun haben, aber erst im Spiel selbst kommt zur Erscheinung, was die Regel tatsächlich angibt – in einem Praxisgeschehen, das einen Einfluß auf die Regel hat, auf ihren Inhalt und auf ihre Geltung.“ (Gebauer 2009, S.111)
Dieses Sprachspielkonzept klingt zwar insgesamt praxisoffener als das im „Tractatus“ vertretene Konzept, aber Wittgensteins dominantes Interesse an der Steuerung des menschlichen Verhaltens ist ungebrochen. Zwei Vorfälle in Wittgensteins Leben, von denen der eine bezeugt ist und der andere nicht, machen das auf besonders eindringliche Weise deutlich. Bei dem Vorfall, bei dem es unklar ist, ob er tatsächlich stattgefunden hat, soll Wittgenstein Karl Popper in einer Diskussion mit einem Schürhaken bedroht haben. Möglicherweise sollte der Schürhaken als besonders effektiver ‚Hebel‘ dazu dienen, bei Popper Verständnis zu erzeugen? Bei dem anderen Vorfall hat Wittgenstein in seiner Zeit als Volksschullehrer einen Schüler im Affekt bewußtlos geschlagen. Danach wurde er auf eigenen Wunsch entlassen.

Beide Vorfälle versinnbildlichen, wie stark Wittgensteins Wunsch gewesen sein muß, mit seinen Worten das Denken und das Verhalten seiner Mitmenschen zu lenken. Es brachte ihn völlig aus der Fassung, wenn er auf einen starrsinnigen Selbstdenker wie Popper stieß, der sich seinen Argumenten einfach nicht beugen wollte. Noch schlimmer war es im Falle des Schülers: es bildet geradezu eine Grundregel des pädagogischen ‚Sprachspiels‘ mit seiner komplementären Rollenverteilung, daß der Schüler zu tun (und zu denken) hat, was der Lehrer ihm sagt. Das bildet gewissermaßen den ‚pädagogischen‘ Sinn des Lernprozesses.

Dabei sind Wittgensteins didaktische Qualitäten durchaus zweifelhaft. In einem Lehrbeispiel aus den „Philosophischen Untersuchungen“ soll ein offensichtlich des Zählens noch völlig unkundiger Schüler lernen, eine Zahlenreihe aufzuschreiben. Der Schüler ist noch so unerfahren, daß ihm die Hand beim Aufschreiben der Zahlen geführt werden muß. Welche Zahlenreihe soll der Schüler nun lernen? Die Reihe „0 bis 9“! (Vgl. Gebauer 2009, S.125) – Aber welches Kind fängt das Zählen mit Null an? Es müßte, bevor es die Zahlenreihe beginnen kann, erst einmal verstanden haben, was überhaupt eine Null ist. Für ein Kind, das gerade erst zählen lernt, ist die Null kontraintuitiv. Was nicht vorhanden ist, kann auch nicht gezählt werden, und deshalb hat eine Zahlenreihe natürlich auch mit der Eins zu beginnen und nicht mit der Null!

Vor diesem Hintergrund wird die Parallele zwischen einem Sprachspiel-Lernen, wie es Wittgenstein vorschwebt, und der schwarzen Pädagogik von John Locke, wie ich sie in diesem Blog diskutiert habe, deutlich. (Vgl. meinen Post vom 16.03.2012) Schon John Locke hielt das Spiel für ein besonders geeignetes Mittel der Erziehung und des Unterrichts, weil mit seiner Hilfe die pädagogischen Absichten hinter dem Rücken des Kindes durchgesetzt werden können, das beim Spielen nicht merkt, was mit ihm geschieht. Es handelt sich also um Lernen ohne Einsicht, und Gebauer hebt in durchaus wohlwollender Weise hervor, daß es auch bei Wittgenstein um ein Lernen „ohne vorherige Einsicht“ geht. (Vgl. Gebauer 2009, S.96) Wenn ein Kind nicht verstehen können muß, was es lernt, kann es auch gleich die Zahlenreihe von Null bis Neun lernen.

Tatsächlich glaubt Gebauer sogar, daß sich Wittgenstein mit dieser Pädagogik auch heute noch auf der Höhe der Zeit befindet, und er verweist auf die Erkenntnisse von Michael Tomasello. (Vgl. Gebauer 2009, S.94) Dabei entgeht es ihm, daß Tomasello zwischen einem individuellen und einem kulturellen Lernen unterscheidet. (Vgl. meine beiden Posts vom 24.05.2011) Beides wird von Tomasello als Bewußtseinsleistung thematisiert und beinhaltet also einen eklatanten Bruch des von Wittgenstein aufgestellten Schweigegebots. Außerdem befähigt Tomasello zufolge die Verschränkung individuellen und kulturellen Lernens das Kind zu „kreativen Sprüngen“ und führt also zu Lernerfolgen, die weder von Wittgenstein noch von John Locke erwünscht sind.

Auch John Lockes „tabula rasa“ findet sich bei Wittgenstein wieder. Die tabula-rasa-These beinhaltet, daß die biologische und die individuelle Natur des Menschen völlig bedeutungslos sind und es nur auf die Kultur ankommt, was aus einem Menschen wird. Zwar weist Gebauer mehrfach darauf hin, daß Wittgensteins Interesse am Menschen breitgefächert sei und sowohl auf dessen „Naturgeschichte“ (Biologie) wie auch auf die „Lebensformen als Horizont des Verstehens von Sprache und Glaubenssystem“ gerichtet sei (vgl. Gebauer 2009, S.10), was letztlich auch die individuelle Entwicklung mit einbezöge. Aber in Feststellungen wie der folgenden sieht das ganz anders aus: „Von Natur gegeben, ist der Körper kein Naturding, sondern ein Produkt der Kultur einer Gemeinschaft.“ (Gebauer 2009, S.91)

Wo bei Plessner die biologische Natur ein wesentliches Moment des „Körperleibs“ bildet, ist in Wittgenstein/Gebauers „Umgangskörper“ jede Erinnerung an die biologische Natur getilgt. Die biologische Unbestimmtheit des neugeborenen Kindes wird hier nicht weniger radikal gedacht als bei John Locke, der von einem weißen Blatt Papier spricht. Mit Bezug auf Clifford Geertz (1992) schreibt Gebauer:
„Anders als die Tiere ist der Mensch auf ‚extragenetische, äußerliche Kontrollmechanismen‘ angewiesen. Mit Hilfe dieser Mechanismen wird ‚die ganze Bandbreite und Unbestimmtheit seiner angeborenen Vermögen auf das eng begrenzte und hochspezifische Repertoire seiner tatsächlichen Leistung reduziert‘ ... .“ (Gebauer 2009, S.95f.)
Diese ‚Pädagogik‘ erinnert doch sehr an die Borgs in der Star-Trek-Serie. In einer Voyager-Folge gelangt ein Borg, ein kybernetischer Organismus, im embryonalen Zustand an Bord des Voyager-Raumschiffs und wartet nach seiner Ausreifung darauf, daß ihm Seven-of-Nine, ebenfalls eine ehemalige Borg, eine Bestimmung gibt. Nichts anderes passiert in der von Gebauer beschriebenen Wittgensteinschen ‚Pädagogik‘: „Das Kind wird auf eine kleine Anzahl der vielen ihm prinzipiell zur Verfügung stehenden Möglichkeiten festgelegt, ähnlich, wie ein Mechanismus in bestimmten Stellungen arretiert wird.“ (Gebauer 2009, S.97)

Das alles ist schwarze Pädagogik. Mit anderen Worten: es ist überhaupt keine Pädagogik. Gebauer versucht den Eindruck, den die von Wittgenstein verwendeten ‚pädagogischen‘ Begriffe auf den aufgeklärten Leser machen – Begriffe wie „Abrichtung“ und „Dressur“ – mit dem Hinweis zu relativieren, daß wir es ja beim „neugeborenen Kind“ mit einem Wesen zu tun haben, „das überhaupt noch nicht nachahmen kann“, und daß es deshalb unvermeidlich sei, daß es „von seiner Umgebung auf alle erdenkliche Weise dazu gebracht (wird), etwas zu tun, was andere Menschen tun“. (Vgl. Gebauer 2009, S.92)

Demnach ist die Befähigung zur Nachahmung das Ziel aller pädagogischen Maßnahmen, so wie auch bei John Locke eigenständiges Denken erst dann erlaubt ist, wenn das Kind gar nicht mehr anders kann als so zu denken wie die anderen. Bei Tomasello hingegen ist die Nachahmung Teil des biologischen Erbes des Menschen. Sie gehört zu unseren ursprünglichsten Fähigkeiten, die uns niemand beibringen muß, eine Gabe, die jedem neugeborenen Kind mit auf den Weg gegeben wird und erstmals im neunten Lebensmonat auftritt. Das volle Potential des menschlichen Lernens geht über die bloße Nachahmung hinaus und befähigt uns zu kreativen Sprüngen, zu denen Kinder Tomasello zufolge ab dem fünften Lebensjahr fähig sind. Bei Wittgenstein sind sie aber nicht vorgesehen. Selber Denken ist keine Option.

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Montag, 4. Juli 2016

Gunter Gebauer, Wittgensteins anthropologisches Denken, München 2009

1. Zusammenfassung
2. Positionalitäten
3. Bilder und Folien
4. Sprachspiel und Expressivität
5. Pädagogik und Kybernetik

Das Sprachspiel ist bei Wittgenstein so umfassend wie sonst nur der Begriff der Welt. Sein berühmtes Schweigegebot aus dem „Tractatus“ bezieht sich auf alles, was sich außerhalb des Sprachspiels befindet. Bedeutungen können nur innerhalb eines Sprachspiels generiert weden. Das gilt auch für die „Philosophischen Untersuchungen“: „Auch in den Philosophischen Untersuchungen sind die Bedeutungen der Sprache unerschöpflich, allerdings nicht deshalb, weil das Ich sie nicht ausschöpfen könnte, sondern weil die generative Kraft der Sprachspiele unbegrenzt ist.“ (Gebauer 2009, S.37)

Das Ich selbst, das Wittgenstein immer als Sprecher-Ich thematisiert, kommt außerhalb des Sprachspiels nicht vor: „Das Ich des Sprechers ist eine Position im Spiel, es gibt kein Ich außerhalb des Sprachspiels. ... Wesentliche Eigenschaften, die die Subjektivität des Ichs ausmachen – Gefühle, Absichten, Wünsche, Bewußtsein, Identität, Kenntnisse, Wissen –, werden innerhalb von Sprachspielen erzeugt. Als Subjekt gilt jede Instanz, die im Sprachspiel die Position des Ichs einnehmen kann.()“ (Gebauer 2009, S.120)

Das Wittgensteinsche Sprecher-Ich ist keine Instanz, die von sich aus dazu in der Lage wäre, Bedeutungen zu generieren. Damit ist klar, daß Wittgensteins Sprachphilosophie ein rigider Strukturalismus zugrundeliegt, in dem alle Beziehungen zwischen den verschiedenen Mitspielern ein „Kraftfeld“ bilden, „in dem die unterschiedlichen Positionen durch ein Netz von Relationen miteinander verbunden sind. Innerhalb dieses Beziehungsnetzes entstehen die relationalen Bedeutungen, die den Positionen im Spiel zukommen“. (Vgl. Gebauer 2009, S.166)

Gebauer spricht von einer dual strukturierten  komplementären Mehrperspektivität, in der jeder Sprecher durch einen Hörer, jeder Befehlender durch einen Gehorchenden und jeder Käufer durch einen Verkäufer (und das alles natürlich auch umgekehrt) ergänzt werden muß, um sich als Sprecher-Ich konstituieren zu können. (Vgl. Gebauer 2009, S.117) Ohne ein Hörer-, Gehorchenden- und Verkäufer-Du kein Sprecher-, Befehlender- und Käufer-Ich. Eine andere Form der Subjektbildung ist in Wittgensteins Sprachspielkonzept ausgeschlossen.

Um so erstaunlicher ist es, daß Wittgenstein – in einem gewissen Widerspruch zu seinen sonstigen Äußerungen zum Sprecher-Ich – dieses Sprecher-Ich dann doch in eine besondere Position zum Sprachspiel versetzt. Wittgenstein gesteht dem Sprecher-Ich die Möglichkeit zu, neue Themen in das Sprachspiel einzubringen und damit auch eigene Bedeutungen zu stiften: „In Äußerungen der ersten Person kann etwas auftauchen, was noch nicht Sprache, aber dennoch bedeutungsvoll ist.“ (Gebauer 2009, S.180)

Dabei handelt es sich um die privaten Empfindungen des Sprecher-Ichs, die der vorsprachlichen Sphäre angehören und selbst niemals Teil eines Sprachspiels sein können, weil Sprache Wittgensteins Privatsprachen-Argument zufolge eine prinzipiell „öffentliche Zirkulation der Wörter, Regeln, Wortgebräuche und Bedeutungen bildet“. (Vgl. Gebauer 2009, S.132) – Da das Sprecher-Ich aber – so Wittgensteins Privatsprachen-Argument gleichermaßen ergänzendes wie außer  Kraft setzendes Argument – eine solche prinzipiell öffentliche Position innerhalb eines Sprachspiels innehat, kann es natürlich auch seine privaten Empfindungen öffentlich thematisieren. Und dafür gibt es sogar ein eigenes Sprachspiel: die Empfindungssprache! (Vgl. Gebauer 2009, S.191ff.)

An dieser Stelle wird die Sprache bei Wittgenstein erstmals expressiv, und – was nicht minder bemerkenswert ist – das Vokabular dieser Empfindungssprache besteht aus Metaphern, die sich auf besondere Weise dazu eignen, „körperliche() Resonanzen“ (Gebauer 2009, S.194)  aufzunehmen und wiederzugeben: „Es gibt in der Empfindungssprache der Moderne eine unübersehbare Menge von standardisierten bildlichen Ausdrücken, auf die beim Sprechen über Empfindungen zurückgegriffen werden kann.“ (Gebauer 2009, S.194)

Allerdings wird auch hier wiederum gleich wieder deutlich, daß Wittgenstein die expressive Natur der menschlichen Sprache nicht wirklich versteht. Expressivität und Kybernetik sind zwei grundverschiedene Dinge, die nichts miteinander zu tun haben. Expressivität läßt sich nicht steuern, wie an Plessners Seelenbegriff mit seinem „noli me tangere“ deutlich wird. (Vgl. „Grenzen der Gemeinschaft“ (2001/1924), S.65; vgl. auch meinen Post vom 14.11.2010) Und genau das ist es, was Wittgenstein beklagt, der „die ihm für seine Gefühlsausdrücke zur Verfügung stehenden sprachlichen Ausdrücke oftmals als ungenügend ansieht“. (Vgl. Gebauer 2009, S.194) – Gebauer ergänzt: „Daß die Ausdruckformen der Empfindungssprache untauglich werden, bemerken wir daran, daß wir mit unserer Könnensstruktur nicht mehr auf sie zu reagieren vermögen.“ (Gebauer 2009, S.195)

Die beklagte ‚Untauglichkeit‘ von Metaphern für die Steuerung von Empfindungen wird verständlich, wenn man berücksichtigt, daß Wittgenstein und Gebauer vor allem Schmerzempfindungen thematisieren. Daß Metaphern wenig geeignet sind, Schmerzempfindungen zu lindern, dürfte jedem unmittelbar einsichtig sein. Daß sie aber durchaus dazu geeignet sind, humanere Bewußtseinzustände wie Liebe, Trauer etc. auszudrücken, sollte eigentlich ebenfalls allgemein nachvollziehbar sein. Dennoch stellen Wittgenstein/Gebauer beides auf eine Stufe: „Schmerzen bemächtigen sich der Person, die von ihnen heimgesucht wird. Mit anderen Empfindungen verhält es sich analog, mit der Freude, der Melancholie, der Niedergeschlagenheit.“ (Gebauer 2009, S.192)

In Wittgensteins Seelenbegriff dominiert wie bei seinem Sprachspielkonzept das kybernetische Interesse. Die Seele wird von ihm primär als eine „Erfahrungs- und Könnensstruktur“ verstanden (vgl. Gebaeur 2009, S.197), für die besondere ‚Ingenieure‘ zuständig sind. Das „sprachliche Erfassen von Empfindungen“ ist eine „Domäne der Dichtung“, und Dichter sind mit einem besonderen „Können“ und einer besonderen „Erfahrung“ ausgestattete „Sprecher“. (Vgl. Gebauer 2009, S.195) Wenn wir es aber bei Dichtern mit Experten zu tun haben, dann weniger im Sinne einer Einübung von ‚Technik‘ – wenngleich die dichterische Sprache durchaus ihre Techniken hat – als vielmehr im Sinne einer Einübung von Achtsamkeit!

Die Empfindungs-‚Experten‘ unterscheiden sich von anderen Sprecher-Ichs durch „eine gewisse Widerspenstigkeit gegenüber eingeübter Praxis“. (Vgl. Gebauer 2009, S.196) Ihre „Einbindung in die soziale Praxis“ ist Wittgenstein/Gebauer zufolge weniger ausgeprägt. (Vgl. Gebauer 2009, S.195) Daß die Nicht-Steuerbarkeit (Widerspenstigkeit) von Dichtern möglicherweise etwas mit der Nicht-Steuerbarkeit von Empfindungszuständen zu tun hat, wird an dieser Stelle aber nicht weiter thematisiert. Diese ‚Blindheit‘ für die Spezifität von inneren (privaten) Zuständen – die ja auch im Schweigegebot des Tractatus eigens auf Dauer gestellt wird – hat sich auch auf Wittgensteins Pädagogik ausgewirkt. Dazu mehr im nächsten und letzten Post.

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Sonntag, 3. Juli 2016

Gunter Gebauer, Wittgensteins anthropologisches Denken, München 2009

1. Zusammenfassung
2. Positionalitäten
3. Bilder und Folien
4. Sprachspiel und Expressivität
5. Pädagogik und Kybernetik

Wittgenstein vertritt im „Tractatus logico-philosophicus“ (1921) eine Abbildtheorie der Sprache: sie bildet die äußere Welt ab, und zwar nur die äußere Welt. Die Vorstellung, daß die Sprache auch eine innere Welt abbilden könnte, hält Wittgenstein für widersinnig, und er führt das Privatsprachen-Argument gegen diese Vorstellung an. (Vgl. Gebauer 2009, S.129ff.) Es bedarf immer einer Einigung unter allen Sprechern eines Sprachspiels, daß die Sprache das, worüber sie miteinander sprechen, auf korrekte Weise abbildet. Zu einer Einigung kann es immer nur über äußere, allen Sprechern gleichermaßen zugängliche Gegenstände kommen. Zur Innenwelt hat aber jeder Sprecher nur einen privilegierten Zugang, den er mit niemand anderem teilen kann. Es kann also zu keiner Einigung darüber kommen, ob die verwendeten Wörter den inneren Gegenstand, also den Bewußtseinsgegenstand, korrekt abbilden oder nicht.

Der jeweilige ‚Sprecher‘ kann noch nicht mal mit Sicherheit sagen, ob er mit sich selbst übereinstimmt, wenn er ein bestimmtes Wort für ein Bewußtseinserlebnis verwendet, denn für einen Vergleich von zu verschiedenen Zeiten erlebten Bewußtseinszuständen und den dabei verwendeten Bezeichnungen verfügt er nur über die Erinnerung; und er kann sich niemals sicher sein, ob er sich richtig erinnert. (Vgl. Gebauer 2009, S.136)

Wörter und Sätze ‚bilden‘ also nur die äußere Wirklichkeit ‚ab‘. Diese ‚Abbildung‘ unterscheidet sich erheblich von dem Bildbegriff, wie ich ihn immer in diesem Blog verwende. Wörter und Sätze bilden bei Wittgenstein keine ‚Metaphern‘, jedenfalls nicht im Blumenbergschen Sinne einer Theorie der Unbegrifflichkeit. (Vgl. meine Posts vom 06.09.-10.09.2011) Wörter und Sätze funktionieren aber auch nicht wie Photographien, die die wirkliche Welt auf phänomenaler Ebene lediglich verdoppeln. Wittgenstein vertritt vielmehr eine strukturalistische Abbildungstheorie, derzufolge die Struktur der wirklichen Welt 1:1 der Struktur, also der Grammatik und Syntax der gesprochenen und geschriebenen Sprache entspricht. (Vgl. Gebauer 2009, S.123)

Wittgenstein vermeidet auf diese Weise die Notwendigkeit, für die abbildende Funktion der Sprache ein subjektives Bewußtsein in Anspruch zu nehmen, für das die Wörter mentale Repräsentationen der äußeren Wirklichkeit bilden:
„Der Bezug zur Wirklichkeit wird nicht durch die repräsentierenden Elemente des Bildes selbst hergestellt, sondern durch ‚die abbildende Beziehung‘ (). Bilder und Welt sind in ihrem Inneren auf identische Weise geformt: ‚In Bild und Abgebildetem muß etwas identisch sein, damit das eine überhaupt ein Bild des anderen sein kann.‘ ()“ (Gebauer 2009, S.50)
Wörter bilden also Wittgenstein zufolge keine mentalen Repräsentationen der äußeren Welt – denn dazu bräuchte es ein Bewußtsein –, sondern sie selbst bilden eine objektive Struktur, die der objektiven Struktur der äußeren Welt entspricht, und zwar der äußeren Welt in zweierlei Gestalt: zum einen die Welt als physischer Prozeß, zum anderen die Welt als menschliches Verhalten. Denn beides basiert wiederum auf objektiven Strukturen. So können wir z.B. auch das Denken statt als einen unzugänglichen mentalen Akt als ein beobachtbares Verhalten wie etwa in Form von Gesten und Gebärden verstehen. Gesten und Gebärden bringen deshalb unsere Gedanken und Gefühle weniger zum Ausdruck, als daß sie diese vielmehr sind, und ihre Struktur entspricht, so wie die Struktur physikalischer Prozesse, der Struktur der gesprochenen Sprache. (Vgl. Gebauer 2009, S.78)

So kann dann die Struktur des Satzes gleichermaßen die Struktur von Gedankenbewegungen wie die Struktur von physikalischen Ereignissen widerspiegeln. Wittgenstein bestimmt das Verhältnis dieser wechselseitigen Spiegelungen als „Projektion“:
„Wenn ein Gedanke in einen Satz projiziert wird, ‚drückt sich‘ der Gedanke im Satz ‚sinnlich wahrnehmbar aus‘ (). Der Sinn des Gedankens wird ‚in den Satz hineingedacht‘.() Ein Satz wird also dadurch zu einem Bild, daß ein Gedanke seinen Sinn auf das sinnliche Gebilde des Satzes überträgt. ... Der Sinn wird von den geistigen oder Denkelementen in die Zeichen und von diesen in empirische Objekte projiziert.“ (Gebauer 2009, S.51)
Und diese Projektionsrichtung, vom Subjekt in den Satz in die empirische Wirklichkeit, funktioniert auch umgekehrt: von der Wirklichkeit in den Satz in das Subjekt. (Vgl. Gebauer 2009, S.52)

In gewisser Weise kann man sich diesen ganzen Vorgang der Projektion von ‚innerem‘ Sinn bzw. von Gesten und Gebärden und von ‚äußerer‘ Welt ‚auf‘ bzw. ‚in‘ einen Satz wie bei einem Photokopierer vorstellen. Allerdings trifft dieser Vergleich nicht den strukturellen Aspekt der von Wittgenstein gemeinten ‚Abbildung‘. Gebauer selbst vergleicht diese Abbildung mit einer Art ‚Folie‘, wie etwa bei einer Blaupause. Die Sprache ‚kopiert‘ mit ihren Wörtern und Sätzen gewissermaßen die „Folie“, die den „absichtsvollen Handlungen, Reaktionen, Gesten und Gebärden“ eines Sprecher-Ichs „unterlegt ist“. (Vgl. Gebauer 2009, S.99) Im heutigen Computerjargon könnte man auch statt von einer Folie von einer Graphikkarte sprechen, die die Rechenprozesse eines Computers in für unsere Augen sichtbare ‚Bilder‘ auf einem Monitor umwandelt.

Apropos ‚Karte‘: Julian Jaynes, der ebenfalls sprachanalytisch argumentiert, spricht in diesem Zusammenhang von einer Landkarte, auf der die verschiedenen Markierungen 1:1 den örtlichen Gegebenheiten einer Landschaft entsprechen. Jaynes bezeichnet diese strukturelle Entsprechung übrigens als ‚metaphorisch‘. (Vgl. meinen Post vom 03.06.2015) Die ‚Landkarte‘ verdeutlicht sehr schön den Projektionscharakter der Bedeutungsübertragung. Jaynes’ Begriff der Metapher entspricht allerdings genausowenig wie Wittgensteins Begriff des Bildes dem Gebrauch, den ich in diesem Blog von diesen Begriffen mache.

Was von der einen Folie auf die andere ‚projeziert‘ bzw. kopiert wird, sind, wie schon erwähnt, nicht die phänomenalen Elemente eines Bildes, aber auch nicht die Markierungen einer Karte, sondern die auf dieser Folie ‚eingetragenen‘ Regeln. (Vgl. Gebauer 2009, S.101) Wittgenstein geht, so Gebauer, von einer „Homomorphie zwischen dem Subjekt und den formelhaften Strukturen der Welt“ aus (vgl. Gebauer 2009, S.74), und die Sprache bildet eine gemeinsame Projektionsfläche bzw. Folie zwischen diesen beiden Polen, vergleichbar mit einem Interface wie etwa einem Flachbildschirm, der die reale Welt ja auch nicht phänomenal abbildet, sondern errechnet. So beschreibt Gebauer auch alle mentalen Akte als „formelhafte Struktur(en)“, die mit den Strukturen der Welt und der Sprache übereinstimmen: „... sie sind in objektiven Tatbeständen gegeben.“ (Gebauer 2009, S.61)

Diese ganze technische Abbildung-Projektionstheorie von Sprache läuft auf die Vorstellung von sprachlichen Bildern als Algorithmen hinaus, die psycho-soziale und physikalische Prozesse auf eine ein-eindeutige Weise korrelieren bzw. miteinander verrechnen. Der Unterschied zu einer Metapherntheorie von Sprache wird gerade am Folienbeispiel besonders deutlich. Auch Michael Tomasello verwendet das Folienbeispiel, um zu beschreiben, wie Schimpansen bestimmte Situationen unter verschiedenen Aspekten wahrnehmen. (Vgl. meinen Post vom 30.10.2014) Dabei überlagern sich die verschiedenen Aspekte (Folien) einer Situation und ermöglichen dem Schimpansen gewissermaßen im ‚Durchblick‘ durch diese Folien seinen Verhaltensspielraum angesichts eines Bananenbaums zu bewerten und eine Entscheidung zu fällen.

Im Unterschied dazu bildet die Folie, von der Gebauer spricht, immer nur ein und dieselbe Struktur ab, wie eine Blaupause. Sie transportiert keine Möglichkeiten, sondern ist auf eine einzelne isolierte Perspektive fixiert. Diese Folie entspricht der Empfindung, die in einem von Gebauer zitierten Satz von Wittgenstein aus den „Philosophischen Untersuchungen“ zum Ausdruck kommt: „Ein Bild hielt uns gefangen.“ (Zitiert nach Gebauer 2009, S.219) – Um sich aus diesem Bild befreien zu können, bedarf es eines Bewußtseins, das in der Lage ist, die verschiedenen Aspekte eines Bildes zu fokussieren und vor dem gleichbleibenden Bildhintergrund variabel zu halten. In dem Moment, wo sich dieser Wahrnehmungsprozeß in einer Struktur fixiert, nimmt uns das Bild gefangen. Die sich überlagernden Folien, von denen Tomasello spricht, werden zur unterlegten Folie für das „eng begrenzte und hochspezifische Repertoire“ (Gebauer 2009, S.95f.) eines Sprachspielmechanismusses.

Gefangen im Bild. Gefangen im Fliegenglas. Angesichts dieser Situation ist es tatsächlich ein gewaltiger Schritt in Richtung auf einen neuen Verhaltensspielraum, als Wittgenstein in den „Philosophen Untersuchungen“ von der Folie zum Kippbild wechselt. In Gebauers Buch steht dafür vor allem der „Hasen-Enten-Kopf“, der aus einer Perspektive als nach links gerichtetes Profil eines Entenkopfes, und aus einer anderen Perspektive als nach rechts oben gerichtetes Profil eines Hasenkopfes wahrgenommen werden kann. (Vgl. Gebauer 2009, S.211) Wittgenstein bezeichnet diese beiden Versionen des H-E-Kopfes als „Aspekte“, und die Fähigkeit, von einem Aspekt zum anderen zu wechseln, bezeichnet er als „Aspektsehen“.

Zunächst ist es aber doch eher verwunderlich, warum Wittgenstein dem Aspektsehen so eine enorme Bedeutung verleiht. Zwar fügt es der Eindimensionalität des Folienbildes eine weitere Perspektive hinzu, so daß der Betrachter des Kippbildes nun zwischen zwei Perspektiven bzw. ‚Aspekten‘ wechseln kann. Gebauer geht sogar so weit, im Aspektsehen schon das volle Potential eines schöpferischen Subjekts am Werk zu sehen. (Vgl. Gebauer 2009, S.213) Aber tatsächlich haben wir es hier immer noch mit einer sehr eingeschränkten Freiheit zu tun, die sich letztlich auf eine Augenbewegung begrenzt. Die ganze Freiheit des angeblich so schöpferischen Subjekts besteht lediglich darin, einen Reflex auszulösen.

Denn um mehr als um einen Reflex handelt es sich beim Aspektsehen nicht.  Gebauer selbst weist auf dieses Charakteristikum des Aspektsehens hin:
„Die besondere Eigenschaft des H-E-Kopfs besteht darin, daß der Betrachter bei jedem der beiden Bilder eine Ganzheit sieht: einmal den Kopf eines Hasens, dann den Kopf einer Ente. In Begriffen der idealistischen Philosophie ausgedrückt bildet jedes der beiden Bilder eine Totalität, und zwar genau dort, wo vorher eine je andere Totalität erschienen ist.“ (Gebauer 2009, S.235)
Jedes der beiden Aspekte des H-E-Kopfes bildet eine Ganzheit für sich selbst. Sie überlagern sich nicht wie in Tomasellos Folienstapel. Vielmehr schließen sie sich gegenseitig aus. Ich kann immer nur entweder den Hasen oder die Ente sehen, nicht beides zugleich und in ihrer Zusammenschau etwas Neues, wie z.B. einen Hasen-Enten-Hybrid, einen phantastischen neuen Mitbürger aus Entenhausen. Genau das wäre der eigentliche kreative Akt, den uns aber das ständige Umkippen vom einen Aspekt zum anderen und zurück verweigert.

Zwar spricht auch Gebauer davon, daß das zweite Bild das erste Bild „überlagert“. (Vgl. Gebauer 2009, S.225) Aber das ist ein verdeckendes Überlagern. Die beiden Bilder sind nicht, wie in Tomasellos Folienstapel, aufeinander hin transparent.

Verständlich wird Wittgensteins neue Begeisterung für das Aspektsehen nur, wenn man seine Biographie in Betracht zieht. (Vgl. Gebauer 2009, S.217f.) Gebauer verweist auf eine frühe Sprachstörung: Der junge Wittgenstein hatte oft Schwierigkeiten, in einem Gespräch das richtige Wort zu finden. Er wußte genau, was er meinte, aber es fiel ihm das passende Wort dazu nicht ein. Es war gewissermaßen so, als könne er nur die eine Seite des Wortes sehen, seine Bedeutung, aber es fiel ihm die andere Seite des Wortes, das sprachliche Zeichen dazu, nicht ein. In den „Philosophischen Untersuchungen“ bezeichnet Wittgenstein die Unfähigkeit, von einem Aspekt zum anderen Aspekt zu wechseln, als ‚Aspektblindheit‘. (Vgl. Gebauer 2009, S.216) In gewisser Weise litt also auch der junge Wittgenstein zur Zeit seiner Sprachstörung unter Aspektblindheit. Das Gefangensein in einem Bild, das Fehlen eines Wortes, beides bedeutet für Wittgenstein Aspektblindheit.

Aber auch mit dem Aspektsehen bleibt das Bewußtsein für Wittgenstein eine Tabuzone, über die nicht gesprochen werden darf. Mit den Worten Gebauers:
„Blind bin ich in meiner Innensicht, wenn ich hier den Grund meines regelhaften Handelns suche. Öffentlichkeit und sinnliche Anschauung sind die Prinzipien, auf die es beim regelgemäßen Handeln ankommt. Mehr ist über das, was im Subjekt beim Regelfolgen geschieht, nicht zu sagen.“ (Gebauer 2009, S.137)
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